30 Oktober 2011

Zwiedenken in der Süddeutschen Zeitung

Wenn es um Europapolitik geht, gibt es (nicht nur, aber auch) in vielen deutschen Medien ein eigentümliches Zwiedenken. Einerseits neigt man immer noch dazu, die europäische Integration als eine rein außenpolitische Angelegenheit zu sehen, in der die 27 Regierungen jeweils ihre Nationalstaaten vertreten und auf diplomatischem Weg miteinander um Einfluss ringen. Und andererseits macht man sich gerne und oft Gedanken über die deutsche Demokratie, die gefährdet sein könnte, weil wichtige Entscheidungen nicht mehr im Bundestag, sondern auf EU-Ebene getroffen werden.

Die Süddeutsche Zeitung hat diese Woche sehr schön vorexerziert, wie das geht. Die demokratietheoretische Perspektive hat am Dienstag Heribert Prantl dargelegt: Der hat zwar kein Problem mit dem Eingeständnis, dass der Bundestag „noch nicht ganz auf seine neuen EU-Aufgaben eingestellt“ ist und im Haushaltsausschuss Parlamentarier arbeiten, „denen die europäischen Dinge noch recht fremd sind“. Aber die „Funktionslogik“, nach der es in Europa vor allem auf effiziente Entscheidungen ankomme, sei ohnehin falsch, denn: „Das europäische Betriebssystem ist nicht der Euro, sondern die Demokratie.“ Deshalb sei es gut, dass das Bundesverfassungsgericht die Beteiligung des Bundestags an europapolitischen Angelegenheiten erzwinge, während die „Verfassungsgerichte anderer EU-Staaten ihre Fahne schnell eingerollt haben“. Letztlich nütze das auch der Bundesregierung: „Die Kanzlerin ist nicht gefesselt durch die Parlamentsrechte, sondern gestärkt. Sie muss nämlich nicht zu jedem Brüsseler Ansinnen und nicht zu allen Forderungen nach immer höherer Haftung des deutschen Staates Ja und Amen sagen – weil es den Bundestag gibt“. Und das ist wohl auch notwendig, denn „Brüssel hat sich so daran gewöhnt, der direkten Demokratie möglichst aus dem Weg zu gehen, dass dort manche jetzt auch die repräsentative Demokratie stört“.

Am Freitag dann präsentierte Martin Winter die außenpolitische Sicht: In seinem Kommentar lobt er die Gipfelbeschlüsse vom Mittwoch, mit denen das „Vertrauen in die EU wiederhergestellt“ worden sei. Allerdings habe sich dabei das „Machtgefüge in der Europäischen Union […] nachhaltig verschoben“. Da Frankreich, Italien und Großbritannien an Einfluss verlören, bleibe nur noch Deutschland übrig: „Das Tempo und die Methoden der Krisenbewältigung wurden und werden von Berlin vorgegeben.“ Dabei wird das „Auseinandertreiben der europäischen Länder in wichtige und unwichtige“ zwar irgendwie als etwas Negatives angesehen, aber so richtig ein Problem hat Winter dann doch nicht damit: Im Gegenteil brauche Deutschland jetzt „den Mut, da voranzugehen, wo andere noch zögerlich abwarten“ – dass die anderen dann schon mitkommen werden, wohin die Bundesregierung sie führt, versteht sich wohl von selbst. „Träges Abwarten, bis alle so weit sind, sich zu bewegen oder eine vernünftige Haushaltspolitik zu betreiben, kann sich die EU nicht mehr leisten.“

Nun sei es der Süddeutschen gestattet, dass ihre Redakteure auch mal unterschiedliche Sichtweisen vertreten. Aber merken Prantl und Winter eigentlich überhaupt, wie sie aneinander vorbeireden? Für Prantl scheint „Brüssel“ irgendetwas Bedrohliches zu sein, das am liebsten die Demokratie abschaffen würde – Winter dagegen kommt gar nicht auf die Idee, dass Entscheidungen auch irgendwie anders als intergouvernemental im Europäischen Rat fallen könnten. Prantl würde auch auf den Euro verzichten, wenn dies nötig sein sollte, um die nationalen Demokratien zu bewahren, und kritisiert die nicht-deutschen Verfassungsgerichte für ihre Nachgiebigkeit gegenüber der europäischen Integration – Winter dagegen sieht nur die Priorität, dass nun alle eine „vernünftige Haushaltspolitik“ im deutschen Sinne zu betreiben haben, und kümmert sich nicht im Geringsten darum, ob die Parlamente der anderen Staaten wohl auch dazu gewillt sein werden.

Nur in einem sind sich beide Kommentatoren offenbar einig: Die supranationalen Institutionen interessieren sie nicht. So kommt Prantl gar nicht erst auf die Idee, dass Demokratie auch auf überstaatlicher Ebene möglich sein könnte, und Winter verschwendet keinen Gedanken daran, ob nicht statt der deutschen Bundesregierung auch die Europäische Kommission die wirtschaftspolitische Führungsrolle übernehmen könnte. Warum auch? Das implizite Idealbild vieler deutscher Medien (und es ist ja nicht so, als ob die Süddeutsche hier zu den schlimmsten zählen würde) scheint nicht die europäische Demokratie zu sein – sondern eine Europäische Union, in der der Deutsche Bundestag beschließt und die übrigen europäischen Staaten folgen.

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