11 Dezember 2011

Ineffizient, undemokratisch, unglaubwürdig, unsolidarisch

Pferdebremsen saugen Blut, Schuldenbremsen haben auch ihre Nachteile.

Einer der Effekte der spektakulären Irrlichterei des britischen Premierministers auf dem vergangenen Europäischen Rat war, dass sich ein Großteil der öffentlichen Meinungsbildung in den letzten Tagen auf die Zukunft einer „EU der 26“ (bzw. der 27, einschließlich Kroatien) konzentrierte. Das ist schade, denn der britische Alleingang war das weniger bedeutungsvolle Ereignis des Gipfels. Wenn die britische Regierung sich weigert, einen Vertrag zu unterzeichnen, der nur auf die Mitgliedstaaten der Eurozone Auswirkungen hat, dann bestätigt sie damit nur, dass sie nicht vorhat, in absehbarer Zeit das Pfund abzuschaffen. Und sollte Großbritannien, nach Ende der gegenwärtigen Krise und Abwahl der Regierung Cameron, doch einmal beschließen, den Euro einzuführen, dann wird es eben auch dem jetzt diskutierten Zusatzvertrag noch beitreten müssen. Cameron isoliert sein Land und schadet sich damit selbst, aber letztlich wird er Episode bleiben. Hingegen wird die auf dem Gipfel beschlossene Schuldenbremse von 0,5 Prozent des BIP, wenn sie denn umgesetzt wird, für alle Eurozonenstaaten eine dauerhafte Realität werden. Und das ist keine gute Nachricht, denn der beschlossene Mechanismus ist nicht nur keine „Fiskalunion“ (Kevin O‘Rourke nennt diese Begriffsverwendung mit Recht „a near-Orwellian abuse of language“), sondern auch ineffizient, undemokratisch, unglaubwürdig und unsolidarisch.

Die Schuldenbremse ist ineffizient

Welches das wirtschaftlich beste Ausmaß der öffentlichen Neuverschuldung ist, ist nicht einfach zu bestimmen und unter den verschiedenen ökonomischen Theorien umstritten. Während eine Minderheit der neuklassischen Schule den Staat am liebsten ganz aus dem Wirtschaftsgeschehen heraushalten würde und deshalb öffentliche Schulden komplett ablehnt, geht die große Mehrheit jedoch davon aus, dass staatliche Investitionen sinnvoll sind, um der Gesellschaft bestimmte öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen (typisches Beispiel sind der Bau von Straßen und Schulen), und dass der Staat sich dafür auch verschulden sollte, da die gebauten Straßen ja erst in Zukunft einen wirtschaftlichen Nutzen bringen, sodass es sich lohnt, auch die Kosten dafür entsprechend über die Zeit zu strecken. Aufgrund des Wirtschaftswachstums, das durch solche Investitionen entsteht, kann ein derartiges strukturelles Defizit auch durchaus nachhaltig sein: Solange es nicht höher liegt als das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, verändert sich der Gesamtschuldenstand des Staates dadurch nicht.

Für die optimale strukturelle Neuverschuldung lässt sich deshalb keine genaue Zahl, sondern lediglich ein Korridor angeben: Die Untergrenze liegt bei Null, da es offensichtlich sinnlos ist, wenn der Staat dauerhaft Überschüsse erwirtschaftet. Die Obergrenze hingegen ergibt sich aus dem nominalen Wirtschaftswachstum, das der Summe aus langfristiger Inflation (dem Inflationsziel der EZB zufolge 2%) und langfristigem Realwachstum (das sich aus dem technischen Fortschritt ergibt und üblicherweise mit 1 bis 1,5% beziffert wird) entspricht: insgesamt also etwa 3 bis 3,5 Prozent des BIP. Damit das Verhältnis zwischen Gesamtschulden und Bruttoinlandsprodukt nachhaltig gleich bleibt, darf die Neuverschuldung also 3 bis 3,5 Prozent des Altschuldenstands betragen. Dies ist, wohlgemerkt, die strukturelle Neuverschuldung über den gesamten Konjunkturzyklus hinweg; solange sie in Boomzeiten niedriger ist, kann sie während akuten Krisen durchaus auch einmal höher sein, ohne dass der strukturelle Gesamtschuldenstand steigt.

Der neue EU-Vertrag nun fordert von den Mitgliedstaaten nationale Schuldenbremsen, durch die das strukturelle Defizit auf 0,5 Prozent des BIP begrenzt wird. Dieser Wert liegt innerhalb des genannten Korridors, aber nah am unteren Rand, und damit sehr wahrscheinlich unterhalb dessen, was für die wirtschaftliche Entwicklung der Eurozone optimal wäre. Wenn das strukturelle Defizit nur ein knappes Sechstel des langfristigen nominalen Wirtschaftswachstums beträgt, dann wird der Gesamtschuldenstand der Mitgliedstaaten strukturell absinken, bis er etwa 15 Prozent des BIP beträgt. Man muss schon einer sehr staatsfeindlichen Wirtschaftsideologie anhängen, um das für effizient zu halten.

Die Schuldenbremse ist undemokratisch

Wenn unterschiedliche wirtschaftliche Theorien zu unterschiedlichen Politikempfehlungen führen, die jeweils mit bestimmten Risiken verbunden sind, gibt es ein althergebrachtes Mittel, um diesen Konflikt zu lösen: Man befragt die Bevölkerung darüber, welchen Weg sie bevorzugt, und überträgt damit die Verantwortung für die Entscheidung denjenigen, die letztlich davon betroffen sind. Selbst wenn die Bevölkerung dann einen Weg wählt, der sich im Nachhinein als wirtschaftlich ineffizient erweist, wird sie eher bereit sein, die daraus folgenden Opfer in Kauf zu nehmen, als wenn ihr dieser Weg ohne demokratische Entscheidung aufgezwungen wurde.

Natürlich haben demokratische Beschlüsse über wirtschaftliche Fragen immer auch ihre Nachteile. Dazu zählen insbesondere das Risiko, dass Kosten auf diejenigen abgewälzt werden, die nicht mitwählen dürfen (Ausländer und Nachgeborene) – und dass das ökonomisch meist etwas unterinformierte Volk sich auf populistische Versprechungen ohne reale Grundlage einlässt. Aus diesem Zweck ist es durchaus nützlich, eine Finanzverfassung zu haben, die den wirtschaftspolitischen Spielraum in einer sinnvollen Weise einschränkt, nämlich auf das Spektrum von denjenigen Entscheidungen, von denen man nicht definitiv weiß, dass sie ökonomisch ineffizient sind. Gegen eine Schuldenbremse, der der oben genannte Korridor bis 3,5 Prozent des Altschuldenstands zugrunde liegt, wäre deshalb weniger einzuwenden. Indem der geplante EU-Vertrag die strukturelle Höchstverschuldung auf 0,5 Prozent des BIP begrenzt, zwingt er die kollektive Selbstbestimmung aber in ein sehr viel engeres Korsett als notwendig und verletzt damit die Demokratie.

Nun gelten die beiden bis hierher genannten Punkte jeweils für rein nationale Schuldenbremsen. Dagegen ließe sich argumentieren, dass man sich in einer supranationalen Währungsunion mit nationalen Budgetpolitiken aus politischen Gründen auf striktere Regeln einigen muss, als es der wirtschaftlichen Effizienz und der demokratischen Selbstbestimmung entspräche, da sonst Moral Hazard droht. Selbst wenn man dieses Argument gelten lässt (das impliziert, dass sowohl die supranationale Währungsunion als auch der Verzicht auf ein ausreichendes supranationales Budget wichtiger sind als Effizienz und Demokratie), kann der neue Vertrag aber noch nicht überzeugen: denn er ist auch unglaubwürdig und unsolidarisch.

Die Schuldenbremse ist unglaubwürdig

Wenn man sich an die Anfänge der Euro-Krise zurückerinnert, sticht vor allem ein zentrales Ereignis ins Auge, nämlich die Entscheidung Irlands, einen nationalen Rettungsschirm für seine Bankeinlagen aufzuspannen. Zwei Wochen nach der Lehman-Pleite misstrauten die Anleger den irischen Banken und begannen, panikartig Kapital aus dem Land abzuziehen. Offenbar ohne vorherige Absprache mit den anderen EU-Mitgliedstaaten erklärte die irische Regierung daraufhin am 30. September 2008, sie würde für zwei Jahre alle Einlagen bei den großen Banken des Landes garantieren. Die deutsche Bundesregierung, die fürchtete, dass durch die Garantie nun irische Banken für sicherer gelten würden und entsprechend Kapital aus Deutschland nach Irland fließen würde, konterte vier Tage später, indem sie ihrerseits eine Garantie für private Einlagen bei deutschen Banken aussprach. Damit stand nun die Garantie des großen, wirtschaftsstarken Deutschland gegen die des kleinen, peripheren Irland, und die Anleger reagierten, wie zu erwarten war, indem sie ihr Vermögen nämlich doch in den sicheren deutschen Hafen brachten. Die irische Regierung hatte durch ihr Manöver also nichts gewonnen, sondern musste stattdessen kurz darauf viel Geld aufwenden, um ihre nationalen Banken zu retten – wodurch der bis dahin vorbildhaft ausgeglichene irische Haushalt tief im Defizit versank, die Bankenkrise sich in eine Staatsschuldenkrise transformierte und einige Jahre später der EFSF notwendig wurde, um Irland vor dem Bankrott zu bewahren.

Wie ließe sich eine solche fatale Dynamik in Zukunft verhindern? Das System, das im neuen EU-Vertrag vorgesehen ist, hat dafür eine sehr schlichte Antwort: Der irischen Regierung soll einfach qua Schuldenbremse verboten werden, in einer derartigen Situation überhaupt zur Bankenrettung einzugreifen. Um ihre Defizitgrenze zu wahren, müsste sie es hinnehmen, dass die Banken einfach in Konkurs gehen – mitsamt den daraus folgenden Verwerfungen für die Volkswirtschaft als Ganzes. Nun mag man mit Recht einwenden, dass auch Deutschland wohl nicht noch einmal den Fehler begehen würde, bei der Bankenrettung einen nationalen Alleingang zu machen: Bevor die irischen Banken Pleite gingen, würde man sich wohl auf einen intergouvernementalen Ad-hoc-Rettungsschirm einigen. Immerhin macht es aber Sorge, dass ein solcher Mechanismus im derzeitigen Vertragsentwurf jedenfalls noch nicht vorgesehen ist – der ESM gilt ja nur für Staaten, nicht für Privatunternehmen. Und was, wenn beim nächsten Mal nicht gerade der international systemrelevante Finanzsektor betroffen ist, sondern nur eine Branche, die für die nationale Gesellschaft als Arbeitgeber wichtig ist? Sagen wir, zum Beispiel, der Bergbau oder die Automobilindustrie? In diesem Fall würden die anderen Mitgliedstaaten wohl wenig Notwendigkeit sehen, dem Krisenland rettend beizuspringen, schließlich wären sie selbst kaum dadurch betroffen. Aber würde eine demokratisch gewählte Regierung es wirklich aushalten, in der eigenen Bevölkerung eine Massenarbeitslosigkeit zu provozieren, nur um die im EU-Vertrag vereinbarte Schuldenbremse zu erfüllen? Hätte die deutsche Bundesregierung 2009 auch nur auf die Opel-Rettung verzichtet?

Die Idee der Schuldenbremse ist es, die Staatsverschuldung langfristig und strukturell niedrig zu halten. Die Euro-Krise ist aber zu einem wesentlichen Teil nicht langfristigen Entwicklungen geschuldet, sondern die Folge eines akuten Schocks, der in Form der US-Finanzkrise und der Lehman-Pleite von außen über die EU hereinbrach. Ohne einen Mechanismus, um auf solche exogenen Schocks zu reagieren, bleibt die Schuldenbremse unglaubwürdig, da sich keine Regierung in einer Krisensituation an die darin vorgeschriebenen Regeln halten kann, ohne Massendemonstrationen und soziale Unruhen zu riskieren.

Die Schuldenbremse ist unsolidarisch

Immerhin hat das politische System des europäischen Intergouvernementalismus zuletzt allerdings schon einige Male bewiesen, dass es gegenüber sozialen Unruhen verhältnismäßig resistent ist: siehe das abgesagte griechische Referendum, siehe den Aufstieg der „Technokratenkabinette“. Was also, wenn es den Regierungen doch gelänge, alle Marktteilnehmer davon zu überzeugen, dass sie bereit wären, in der nächsten Krise lieber eine massive Rezession hinzunehmen als einen Anstieg des Defizits? Nun, dann könnte die Schuldenbremse tatsächlich geeignet sein, eine Wiederholung der Krise zu verhindern – aber der Preis dafür wäre ein dauerhaft schwächeres Wachstum der wirtschaftlich weniger entwickelten Mitgliedstaaten.

Denn wenn in der Währungsunion die wirtschaftlich schwachen Staaten künftig keine Möglichkeit haben, ihren Unternehmen im Fall eines ökonomischen Schocks beiseite zu springen, so wird es für Anleger attraktiver sein, nur noch in die wirtschaftlich starken Länder zu investieren. Damit aber droht der Entwicklungsstand zwischen Zentrum und Peripherie weiter auseinander zu driften – eine Dynamik, die bereits im Delorsplan vorausgesagt wurde, der 1989 die Bedingungen für eine europäische Währungsunion auslotete. Delors forderte damals deshalb nachdrücklich eine Ausweitung der Struktur- und Regionalfonds; die Mitgliedstaaten setzten diese nur in sehr unzureichendem Maß um, was jedoch zunächst wenig bedeutend war, da es nach der Einführung der Währungsunion zu einem Wirtschaftsboom in der Peripherie der Eurozone kam. Dieser Boom basierte jedoch auf der Annahme, dass die Maastrichter Nichtbeistandsklausel im Zweifel ohnehin nicht ernst genommen würde. Wenn die neue Schuldenbremse für glaubwürdiger gehalten wird, so wird auch der wirtschaftliche Aufschwung der schwächeren Staaten diesmal ausbleiben, da sich das Kapital im sicheren Zentrum der Eurozone ballen wird. Um irgendwie Investitionen anzulocken, wäre die Peripherie gezwungen, Löhne, Steuern und Sozialstandards zu senken – womit die Last der wirtschaftlichen Konvergenz vor allem auf diejenigen abgewälzt wird, die ohnehin am ärmsten sind.

Wenn aber die Währungsunion sich zu einem Mechanismus der Umverteilung von unten nach oben entwickelt, dann steht ihre politische Akzeptanz mehr denn je auf dem Spiel. Und dann könnte langfristig auch ihr Fortbestand ernsthaft in Gefahr geraten. Bitter daran ist, dass dann wahrscheinlich die Nationalisten wie David Cameron triumphieren werden, dass sie es ja gleich gesagt hätten. Noch bitterer, dass es dann wohl auf absehbare Zeit keinen zweiten Versuch einer funktionierenden Währungsunion geben wird. Am bittersten, dass doch auch andere Alternativen möglich gewesen wären.

Bild: Thomas Shahan [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

Korrekturhinweis: In einer älteren Version dieses Artikels fand sich die Formulierung, dass bei einer strukturellen Neuverschuldung von 3 bis 3,5 Prozent des BIP der Gesamtschuldenstand nicht steige. Korrekt ist, dass bei einem strukturellen BIP-Wachstum von 3 bis 3,5 Prozent die strukturelle Neuverschuldung 3 bis 3,5 Prozent des Altschuldenstands betragen muss, damit das Verhältnis zwischen Gesamtschuldenstand und BIP konstant bleibt. Beträgt der Altschuldenstand mehr als 100 Prozent des BIP, so kann die Neuverschuldung entsprechend auch mehr als 3 bis 3,5 Prozent des BIP betragen, ohne dass die Schuldenquote steigt; liegt der Altschuldenstand bei unter 100 Prozent des BIP, so muss auch die Neuverschuldung entsprechend niedriger sein, um das Verhältnis von Schuldenstand und BIP zu wahren.

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