27 März 2012

Communicating European Integration

Zur Abwechslung mal etwas Akademisches: Am kommenden Freitag und Samstag wird an der Humboldt-Universität zu Berlin die von mir mitorganisierte Nachwuchstagung Communicating European Integration stattfinden. Es wird dort aus geschichts- und sozialwissenschaftlicher Perspektive um Fragen der europäischen Öffentlichkeit, um die Wahrnehmung der europäischen Integration in unterschiedlichen Ländern, um Nationalismus, Demokratie und das Design der Euro-Münzen gehen.

Gäste sind willkommen. Mehr Informationen hier.

20 März 2012

Sollte es einen direkt gewählten EU-Präsidenten geben?

Guido Westerwelle hat sich eine Idee angeeignet, die gut klingt, solange man nicht allzu viel darüber nachdenkt.
Es erscheint mehr als fraglich, ob der derzeitige deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP/ELDR) nach 2013 jemals wieder ein politisches Amt innehaben wird. Die Zeit für seinen Eintrag in die Geschichtsbücher läuft ab, und womöglich ist das auch die Erklärung für seinen jüngsten europapolitischen Aktivismus. Vor etwa zwei Wochen jedenfalls machte er den Vorschlag, eine neue „europäische Verfassung“ auszuarbeiten. Die Idee wurde von den übrigen Ländern mit bestenfalls gemischten Reaktionen aufgenommen, und zu dem Treffen der interessierten Außenminister, das heute in Berlin stattfinden soll, hat nicht einmal die Hälfte der übrigen Mitgliedstaaten ihr Kommen angekündigt. Erwartet werden nur Frankreich, Italien, Polen, Spanien, Portugal, Belgien, die Niederlande, Österreich und Dänemark.

Interessant an Westerwelles Vorschlag ist besonders seine inhaltliche Vagheit. Außer zum Ratifikationsverfahren (per Volksabstimmung, allerdings nur auf nationaler, nicht europäischer Ebene) äußerte er sich bislang lediglich zu einem einzigen Punkt, den er mit der neuen Verfassung verwirklicht sehen wolle: nämlich die „Direktwahl eines europäischen Präsidenten, der zuvor in ganz Europa antreten und für sich werben müsste“.

Dieser Vorschlag ist nicht ganz neu. Schon Joschka Fischer (Grüne/EGP) vertrat ihn 2000 vor dem Gipfel von Nizza, und Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) wiederholt ihn seit einigen Jahren wie ein Mantra. Und zunächst einmal klingt der Einfall auch durchaus verführerisch: Vergleicht man das geringe Medieninteresse für die Europapolitik mit der fiebrigen Aufregung, die die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen bereits Monate im Voraus auslösen, so scheint es ein naheliegender Ausweg zu sein, das Modell einfach zu importieren. Von den französischen Präsidentschaftswahlen heißt es etwas pathetisch, sie seien „die Begegnung eines Menschen mit einem Volk“: Wäre das nicht genau das Richtige für die Förderung einer europäischen Identität? Und demokratisch, wie schön, ist es irgendwie auch.

Legitimitätsüberschuss ohne Handlungsspielraum

Doch auf den zweiten Blick wirkt der Vorschlag weitaus weniger überzeugend. Einen Präsidenten vom Volk direkt wählen zu lassen, stattet ihn mit einer großen Portion an Legitimität aus – mit der er nur dann sinnvoll wird umgehen können, wenn er auch die entsprechende politische Macht dazu erhält. In der Geschichte der europäischen Integration wurde dieser Fehler schon einmal begangen, als man 1979 dazu überging, das Europäische Parlament direkt wählen zu lassen, ohne ihm jedoch echte politische Entscheidungsmacht zu geben. Das Ergebnis waren hohe Erwartungen, die die Abgeordneten nicht einhalten konnten; das Parlament erhielt seinen Ruf als Papiertiger, die enttäuschten Bürger blieben späteren Europawahlen fern, und als man mit den Vertragsreformen von Maastricht bis Lissabon endlich die Kompetenzausweitung des Parlaments nachholte, war der Schaden bereits angerichtet: Bis heute unterschätzt die Öffentlichkeit in der Regel den Einfluss der direkt gewählten Volksvertreter auf die Brüsseler Politik, und daran leidet natürlich auch deren Stand als demokratisch legitimierter Gesetzgeber.

Wollen wir dasselbe jetzt mit dem Kommissionspräsidenten wiederholen? (Westerwelle sprach von der Direktwahl eines „europäischen Präsidenten“, womit aber wohl derjenige des wichtigsten Exekutivorgans gemeint sein wird.) Die Kommission hat schon heute einigen Einfluss in der Europapolitik – doch anders als die US-Regierung, die vollständig dem Präsidenten untergeordnet ist, ist sie ein Kollegialorgan, in dem Entscheidungen von allen Mitgliedern gemeinsam getroffen werden. Ihr Präsident besitzt dabei lediglich eine Richtlinienkompetenz. Nicht einmal seine „Minister“ kann er sich selbst aussuchen: Vielmehr wird der Rest der Kommission auf Vorschlag des Europäischen Rats ernannt, wobei in der Praxis jede nationale Regierung einen Kommissar nominiert – und sich oft recht wenig darum schert, was der Präsident davon hält.

Unter diesen Umständen aber ist die Einführung eines direkt gewählten Präsidenten sinnlos. Um ihm das Betätigungsfeld zu schaffen, das er bräuchte, müsste man das politische System der Europäischen Union fast vollständig umbauen. Man müsste die Kommission zu einem streng hierarchischen Organ machen und Kommission, Parlament und Rat institutionell entflechten. Etablierte Formen der Konsensfindung wie das Komitologieverfahren würden unbrauchbar. Kurz, man müsste Jahrzehnte der europäischen Verfassungsentwicklung umkehren – oder man hätte nichts gewonnen als einen politischen weißen Elefanten: ein Amt mit einem Überschuss an demokratischer Legitimität, aber viel zu wenig Handlungsspielraum, um den damit verbundenen Erwartungen gerecht zu werden.

Europaparlament und europäische Parteien

Doch die Direktwahl des Präsidenten ist nicht nur unangebracht, sie ist auch vollkommen unnötig. Denn gerade bei der Besetzung der Kommission fand in den letzten Jahren eine starke Entwicklung hin zu mehr Demokratie statt – eine Entwicklung, die zur Europawahl 2014 ihre Früchte zeigen könnte. Dann nämlich wollen die europäischen Parteien erstmals die Möglichkeit nutzen, vor der Wahl Kandidaten für das Amt zu benennen. Sie würden damit den Europäischen Rat unter Zugzwang zu setzen, der dem EU-Vertrag zufolge bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten die Ergebnisse der Europawahl „berücksichtigen“ muss. Wenn aber die Spitzenkandidaten der Parteien schon vor der Wahl feststehen, erhalten die Bürger die Möglichkeit, bei mit ihrer Wahlentscheidung selbst den Kommissionspräsidenten zu bestimmen – genau wie auch über den deutschen Bundeskanzler faktisch bei den Bundestagswahlen entschieden wird.

Gewiss, dieses Verfahren hat noch seine Tücken. Da die Europawahlen national fragmentiert sind, werden die Spitzenkandidaten der europäischen Parteien nur in jeweils einem der 28 Mitgliedstaaten auch wirklich auf dem Wahlzettel stehen. Transnationale Listen wären hier die Lösung, die leider zuletzt wieder weiter in die Ferne gerückt ist. Doch auch so liegt in den Plänen der europäischen Parteien ein enormes Potenzial. Die Spitzenkandidaten können den Europawahlen eine höhere öffentliche Aufmerksamkeit (und damit Wahlbeteiligung) verschaffen, während umgekehrt die Wahlen dem Kommissionspräsidenten eine bessere demokratische Legitimität bieten werden. Die SPE jedenfalls hat bereits ein Auswahlverfahren für ihren Spitzenkandidaten 2014 entwickelt, und auch die EVP wird wohl noch nachziehen.

Das Europäische Parlament ist also dabei, die Europawahlen mit neuem Sinn zu füllen und die Nominierung des Kommissionspräsidenten mit einer Intensivierung der parteipolitischen Debatte zu verbinden. Die Einführung einer Direktwahl jedoch würde diese Bemühungen zunichte machen – und anstelle der europäischen Parteien die Konkurrenz von Einzelpersonen in den Vordergrund stellen.

Alternativplan aus der Kommission

Es ist daher nicht allzu verwunderlich, dass zu Guido Westerwelles Treffen heute keine Vertreter des Europäischen Parlaments geladen sind; schließlich läuft sein Plan unmittelbar auf eine Schwächung der Abgeordneten hinaus. Doch bemerkenswerterweise wird auch die Europäische Kommission nicht dabei sein, wenn in Berlin über die künftige europäische Verfassung gesprochen wird. Interessiert es die Außenminister denn nicht, was die Kommissionsmitglieder selbst zu der Idee einer Direktwahl ihres Präsidenten sagen?

Eine von ihnen jedenfalls ist in den letzten Tagen vorgeprescht: Viviane Reding (CSV/EVP), die für Justiz, Grundrechte und Unionsbürgerschaft zuständige Vizepräsidentin der Kommission, hat einen eigenen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt, wie sich die EU bis zum Jahr 2020 institutionell entwickeln sollte. Auch dieser Entwurf enthält einige leere Rhetorik; so soll 2013 das „Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger“ werden, und man fragt sich unwillkürlich, wem denn dann wohl all die bisherigen Jahre gehört haben. Doch an den wesentlichen Stellen ist der Vorschlag außerordentlich konkret: Reding ist dafür, dass die Kommission samt ihrem Präsidenten künftig ausschließlich vom Europäischen Parlament gewählt wird. Außerdem will sie das Parlament durch ein Initiativrecht als Gesetzgeber stärken. Umgekehrt würde der Kommissionspräsident die Möglichkeit erhalten, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen.

Auch über den Reding-Plan wird in den nächsten Wochen und Monaten noch zu diskutieren sein. Doch schon jetzt ist klar, dass er der europäischen Demokratie sehr viel zuträglicher sein würde als die vagen Vorschläge aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. Die Vorstellung, in Europa ein Präsidialsystem nach US-amerikanischem Vorbild aufzubauen, ist unrealistisch. Will man die EU heute demokratisieren, so muss man einem anderen Weg folgen: nämlich dem der Parlamentarisierung und der Stärkung der Parteien auf europäischer Ebene.

Bild: Janwikifoto [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

13 März 2012

Der Duff-Bericht (4): Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?

Am vergangenen Donnerstag hat das Europäische Parlament überraschend beschlossen, die für den 14. März geplante Plenardebatte zum Duff-Bericht über die Reform des Europawahlrechts von der Tagesordnung zu setzen. Damit ist nun unklar, ob überhaupt noch in dieser Legislaturperiode über den darin enthaltenen Vorschlag entschieden wird, das Parlament um 25 Abgeordnete zu erweitern, die auf gesamteuropäischen Listen gewählt werden sollen. Doch die Idee ist in der Welt und wird früher oder später auf die europäische Agenda zurückkehren. Was ist davon zu halten? Teil 4 und Schluss einer Serie (zu Teil 1).

Keine Abstimmung im Europäischen Parlament

Die Europäische Volkspartei hat sich zum Bollwerk gegen transnationale Listen gemacht. Aber welche Gründe mag sie dafür haben?
Bekanntlich wird der Duff-Plan bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments in dieser Woche nicht zur Diskussion stehen. Nach der Darstellung von Gerald Häfner, dem zuständigen Schattenberichterstatter der Grüne/EFA-Fraktion, vereinbarten die Unterstützer des Berichts, hauptsächlich Liberale, Grüne und die Mehrheit der Sozialdemokraten, ihn von der Tagesordnung abzusetzen. Zuvor hatte die Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) angekündigt, dass sie geschlossen dagegen stimmen würde – auch wenn etwa ein Drittel ihrer Mitglieder dem Vorschlag eigentlich positiv gegenüberstand. Durch die nun erfolgte Vertagung auf unbestimmte Zeit wird ein explizites Nein zu den transnationalen Listen vermieden. Das ist einerseits wohl strategisch sinnvoll, da auf diese Weise eine spätere Abstimmung bei geänderter Stimmungslage möglich bleibt. Andererseits ist es aber auch schade: Es wäre sicher spannend gewesen, wenn die Öffentlichkeit hätte mit ansehen können, welche Abgeordneten genau sich für und gegen die Wahlrechtsreform aussprechen. Und vor allem hätte die EVP in der Plenardebatte Gelegenheit gehabt, die Gründe für ihre Haltung zu erläutern. Derzeit hält sie sich dazu bedeckt: Jedenfalls findet sich weder auf der Homepage der Fraktion noch auf derjenigen ihres zuständigen Schattenberichterstatters György Schöpflin eine Stellungnahme zum Thema.

Immerhin aber stand der Duff-Bericht schon im vergangenen Juli einmal im Plenum des Parlaments zur Diskussion, von wo er dann in den Ausschuss für konstitutionelle Fragen zurückverwiesen wurde. In der damaligen Debatte meldeten sich auch die Gegner der transnationalen Listen zu Wort – vor allem Nationalkonservative, Rechtspopulisten und Linke, aber auch einige Christ- und Sozialdemokraten. Wie also sehen die Argumente aus, die in der Vergangenheit gegen den Plan vorgebracht wurden? Und wie stichhaltig sind sie?

Einflussverlust für kleine Staaten?

Die Linksfraktion GUE/NGL erhob vor allem den Vorwurf, dass der Duff-Bericht zu einer Einflussverschiebung von den kleinen zu den großen Mitgliedstaaten führen werde. Da die großen Länder das meiste Wählerpotenzial stellten, würden die europäischen Parteien die Spitzenplätze auf den transnationalen Listen bevorzugt an deutsche und französische Kandidaten vergeben. Schlimmer noch: Falls man sich für ein Modell mit offenen Listen entscheiden würde, auf denen also die Wähler selbst die Reihenfolge der Kandidaten beeinflussen könnten, würden die Einwohner der großen Staaten jeweils ihre Landsleute auf die vorderen Plätze befördern.

Schon im vergangenen Juli erklärten die Befürworter des Plans dagegen, dass es keineswegs die einzig denkbare Strategie für europäische Parteien sein muss, sich bei der Kandidatenauswahl auf die großen Länder zu konzentrieren: Ebenso gut könnten sie sich für eine geografisch möglichst breit aufgestellte Liste entscheiden, die Wähler in möglichst vielen verschiedenen Mitgliedstaaten ansprechen würde. Und warum eigentlich sollten deutsche Wähler immer nur deutsche Kandidaten unterstützen? Für die EVP jedenfalls scheint das Argument einer Benachteiligung der kleinen Länder nicht der entscheidende Grund gewesen zu sein, dem Duff-Bericht die Unterstützung zu versagen.

Zwei-Klassen-Parlament?

Ein zweiter Einwand betraf die Besorgnis, dass der Duff-Bericht eine Aufteilung der Europaparlamentarier in zwei Klassen zur Folge haben könnte: Auf den transnationalen Listen würden nämlich vor allem besonders prominente Politiker antreten, die dank ihrer Bekanntheit europaweit Wähler ansprechen könnten – und diese Politiker wären es dann auch, die hinterher die Spitzenämter im Parlament beanspruchen würden. Die auf den nationalen Listen gewählten Abgeordneten würden dagegen, selbst wenn sie den transnationalen an formalen Rechten gleichgestellt wären, nur noch einen geringeren Status einnehmen.

Doch selbst wenn dieser Fall eintreten sollte: Der Deutsche Bundestag ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein Zwei-Klassen-Parlament keineswegs ein Problem sein muss. Hier gibt es einen informellen Unterschied zwischen Abgeordneten, die mit einem Erststimmen-Direktmandat gewählt wurden, und solchen, die über ihre jeweilige Landesliste in den Bundestag einzogen. Die Ersteren haben in der Regel einen besseren Stand, weil sie darauf verweisen können, in ihrem Wahlkreis persönlich und nicht nur über die Partei gewählt worden zu sein; und wenn prominente Politiker ihr Direktmandat verlieren, so ist das auch den Medien oft eine Meldung wert. Die Zusammenarbeit zwischen Direkt- und Listenabgeordneten im Bundestag nimmt jedoch an diesen Prestigeunterschieden keinen Schaden.

Und wenn es zuletzt dazu kommen sollte, dass alle Europaparlamentarier, die etwas auf sich halten, lieber auf der europaweiten Liste antreten wollen, weil diese ihnen mehr Ansehen und Legitimität bietet als die nationale? Nun, dann spricht nichts dagegen, ihnen diesen Gefallen zu tun: Der Anteil der gesamteuropäischen Mandate könnte in Zukunft ohne Schwierigkeiten noch erweitert werden. Jedenfalls ist auch das offensichtlich kein Grund, den Duff-Bericht abzulehnen. Es spricht sehr für die Reform, wenn ihren Gegnern keine besseren Argumente einfallen.

Höhere Kosten?

Ein dritter Kritikpunkt schließlich, der vor allem von der nationalkonservativen ECR und der Rechtsfraktion EFD vorgebracht wurde, zielte auf die Kosten ab, die durch die zusätzlichen Abgeordneten entstehen würden. Man kennt das von den alljährlichen Diätenerhöhungen: Dass Demokratie auch Geld kostet, ist immer wieder ein Anlass für populistisches Geplänkel.

Wie der Duff-Bericht in einer Fußnote aufschlüsselt, müssen die Steuerzahler für einen Europaparlamentarier einschließlich Mitarbeitern im Monat durchschnittlich etwas mehr als 40.000 Euro aufwenden. Bei 25 zusätzlichen Mandaten wären das also gut zwölf Millionen Euro im Jahr. Wenn man das mit den positiven Effekten vergleicht, die die transnationalen Listen für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit hätten, zeigt sich, wie kindisch dieses Kostenargument in Wirklichkeit ist: Allein die bescheidenen Erfolge der amtlichen Informationskampagne vor der Europawahl 2009 ließ sich die EU schon 18 Millionen Euro kosten.

Natürlich wäre es in einem späteren Schritt sinnvoll, das Parlament wieder zu verkleinern, indem man langfristig die nationalen Sitzkontingente reduziert. Aber bis sich die Mitgliedstaaten darauf einigen werden, ist die Erweiterung um 25 Abgeordnete eine vollkommen akzeptable Zwischenlösung. Man stelle sich das vor: In einer Hand der Durchbruch zu mehr europäischer Demokratie, in der anderen jährliche Einsparungen in Höhe eines Betrags, mit dem man kaum den Bau von ein bis zwei Autobahnkilometern bezahlen kann – und die Europäische Volkspartei entscheidet sich für die Autobahn?

Oder einfach Furcht vor Europa?

Doch es gab noch einen letzten Einwand gegen den Duff-Bericht, den krudesten und direktesten. Vorgetragen wurde er im vergangenen Juli von Andrew Brons, einem Abgeordneten der britischen rechtsextremen Partei BNP:
Das Wort „Demokratie“ bedeutet Herrschaft durch das Volk – wobei sich „Volk“ auf ein selbst-identifizierendes Ganzes bezieht. Es bedeutet nicht Herrschaft durch eine beliebige Ansammlung von Menschen. Eine beliebige Ansammlung von Menschen kann keine demokratische Macht ausüben, da eine gemeinsame Identität eine Vorbedingung für demokratische Zusammenarbeit ist. Ein transeuropäischer Wahlkreis über 27 Länder ist kein selbst-identifizierendes Ganzes. Der Berichterstatter [Duff] denkt offenbar, dass [sein Plan] zu einer solchen Identität führen kann, aber diese Identität ist eine Vorbedingung für, nicht eine Konsequenz aus einem Wahlprozess.
Und das scheint mir, auch außerhalb rechtsextremer Kreise, das eigentliche Motiv der meisten Gegner transnationaler Listen zu sein: die Unfähigkeit oder der Unwille, sich eine Demokratie jenseits des Nationalstaats vorzustellen. Der Duff-Plan würde die grenzüberschreitende öffentliche Debatte vor den Europawahlen anregen, das europapolitische Bewusstsein schärfen und vermutlich zu einer höheren Wahlbeteiligung führen. Zugleich würde er verdeutlichen, dass das Europäische Parlament keine Vertretung der nationalen Völker ist, sondern eine der europäischen Unionsbürger. Er würde damit die besondere Form der demokratischen Legitimität unterstreichen, durch die das Parlament sich von allen anderen EU-Organen absetzt – und er würde ihm eine stärkere Stellung vor allem gegenüber dem Rat verschaffen, der seine Legitimität nur indirekt über die nationalen Regierungen bezieht.

Wem dieses Konzept einer transnationalen Bürgerschaft jedoch Angst macht, wer sich lieber auf seine kleine nationale Identität zurückziehen und die Einzelstaaten als Dreh- und Angelpunkt des politischen Lebens erhalten will, der hat guten Grund, gegen den Duff-Bericht sein. Anders als das Argument mit den höheren Kosten oder dem drohenden Zweiklassenparlament ist dieser Standpunkt zwar reaktionär, aber immerhin nicht lächerlich.

Nur sollte man sich dann nicht selbst als „proeuropäisch“ bezeichnen, wie das die europäischen Christdemokraten tun. Und schon aus diesem Grund wäre es wirklich interessant, wenn die EVP der Öffentlichkeit die Motive für ihr Nein erklären würde.

Der Duff-Bericht Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht 
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?

Bild: By European People's Party (EPP Summit 22 March 2005 Meise) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

12 März 2012

Der Duff-Bericht (3): Für mehr europäische Öffentlichkeit

Am vergangenen Donnerstag hat das Europäische Parlament überraschend beschlossen, die für den 14. März geplante Plenardebatte zum Duff-Bericht über die Reform des Europawahlrechts von der Tagesordnung zu setzen. Damit ist nun unklar, ob überhaupt noch in dieser Legislaturperiode über den darin enthaltenen Vorschlag entschieden wird, das Parlament um 25 Abgeordnete zu erweitern, die auf gesamteuropäischen Listen gewählt werden sollen. Doch die Idee ist in der Welt und wird früher oder später auf die europäische Agenda zurückkehren. Was ist davon zu halten? Teil 3 einer Serie (zu Teil 1).

Nationale Sekundärwahlen

Europawahlkampf schwarz-rot-gold.
Wer vor der Europawahl 2009 durch Deutschland fuhr, dem bot sich eine eigentümliche Plakatlandschaft. Die Grünen (EGP) machten Wahlkampf gegen die Atomenergie, ungeachtet der Tatsache, dass die EU in dieser Frage gar nicht zuständig ist. Die SPD (SPE) warnte, nur Finanzhaie würden die FDP (ELDR) wählen – obwohl in der vorangegangenen Legislaturperiode die Sozialdemokraten im Europaparlament bei gut drei Vierteln aller Abstimmungen mit den Liberalen übereingestimmt hatten, öfter als mit jeder anderen Fraktion. Die CDU (EVP) warb mit dem Gesicht Angela Merkels und dem Spruch „Wir in Europa“, wobei das Personalpronomen in den deutschen Nationalfarben unterlegt war: Und falls irgendjemand diese Botschaft noch nicht verstanden hatte, stellte Generalsekretär Ronald Pofalla bei der Kampagnenvorstellung klar, dass es darum gehe, „Deutschland eine starke Stimme in Europa“ zu geben und „deutschen Positionen zur Mehrheit zu verhelfen“. Auch die FDP (ELDR) trat mit dem Slogan „Für Deutschland in Europa“ an – als könnte man sein Kreuzchen auf dem Wahlzettel bei einem Land setzen statt bei einer Partei. Und wenig überraschend erklärte die CSU (EVP) unter einem Porträt von Ministerpräsident Horst Seehofer, nur wer sie wähle, verschaffe „Bayern eine eigene Stimme in Europa“.

Wer im Wahlkampf hingegen nicht auftauchte, waren die europäischen Spitzenpolitiker. Weder José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP), der für seine Wiederwahl als Kommissionspräsident kandidierte, noch der damalige SPE-Vorsitzende Poul Nyrup Rasmussen, noch der liberale Fraktionschef Graham Watson (LibDem/ELDR), der angekündigt hatte, Präsident des Europaparlaments werden zu wollen, traten in der deutschen Öffentlichkeit auf, um ihre politischen Standpunkte zu vertreten. Entsprechend spielten europapolitische Themen im deutschen Wahlkampf 2009 so gut wie keine Rolle, und am Ende wurden die Wahlen zu dem, was sie seit geraumer Zeit in fast allen EU-Mitgliedstaaten sind: nationale Sekundärwahlen, ein Stimmungstest für die nationale Regierung und Opposition, bei dem sich die Medien herzlich wenig für das gesamteuropäische Endergebnis interessierten, sondern in erster Linie für die Prognosen, die sich daraus für die nächsten nationalen Parlamentswahlen ableiten ließen.

Vergebliches Streben nach europäischer Öffentlichkeit

Und warum auch nicht? Die nationale Fragmentierung der Europawahlen, mit festen Sitzkontingenten für jeden Mitgliedstaat und jeweils eigenen nationalen Wahlgesetzen, Listen und Spitzenkandidaten, ist kaum geeignet, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Worum es bei den Europawahlen eigentlich geht, ist die Machtverteilung zwischen den großen europäischen Parteien im Europaparlament: zwischen der christdemokratischen EVP, der sozialdemokratischen SPE, der liberalen ELDR, der grünen EGP. Doch auf den Wahlzetteln stehen überall in Europa nur die Namen nationaler Parteien – und natürlich finden sich deshalb auch auf den Wahlplakaten nur diese wieder.

Dabei geben sich die großen europäischen Parteien durchaus Mühe damit, für die Europawahlen einen gesamteuropäischen Rahmen zu schaffen. So verabschiedete jede von ihnen vor der Wahl 2009 ein europaweites Wahlprogramm – für das sich allerdings die Medien kaum interessierten. Und weil seit dem Vertrag von Lissabon Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag verlangt, dass bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten das Ergebnis der Europawahlen „berücksichtigt“ wird, hat die SPE bereits ein parteiinternes Verfahren beschlossen, wie sie vor der nächsten Wahl 2014 einen gemeinsamen Spitzenkandidaten nominieren will. (Die EVP trat bereits 2009 mit der Ankündigung an, eine zweite Amtszeit für Durão Barroso zu unterstützen, allerdings erst nachdem sich auch der Europäische Rat dafür ausgesprochen hatte.) Aber wie wahlkampftauglich ist ein „gesamteuropäischer“ Spitzenkandidat, der am Ende doch nur in einem einzigen Mitgliedstaat auf dem Wahlzettel steht?

Transnationale Listen würden auch die Wahlbeteiligung steigern

Die Einführung transnationaler Listen, wie vom Duff-Plan vorgesehen, würde hier eine gravierende Änderung bringen. Sie würde bewirken, dass auf Wahlzetteln (und Wahlplakaten) auch die Namen der gesamteuropäischen Parteien erscheinen, und damit einer breiten Öffentlichkeit erstmals die wirklichen Akteure im Europäischen Parlament aufzeigen. Sie würde dazu führen, dass jede europäische Partei mit einem Spitzenkandidaten antritt, der europaweit in jedem Land gleichermaßen zur Wahl steht und entsprechend Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Und da diese gesamteuropäischen Spitzenkandidaten kaum mit nationalen Themen für sich werben könnten, würden vermutlich auch die europapolitischen Programme der Parteien endlich eine größere Bedeutung im Wahlkampf gewinnen.

Damit aber würden die Europawahlen aufhören, nur nationale Sekundärwahlen zu sein. Stattdessen gäbe es die Chance, in der Öffentlichkeit echte europapolitische Debatten zu führen; statt einem Testlauf für die nationalen Parteien könnten die Wahlen zu einer Gelegenheit werden, bei der die europäische Bevölkerung Richtungsentscheidungen für die weitere Entwicklung der EU trifft. Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass das auch zu einer steigenden Wahlbeteiligung führen würde. Und das wiederum würde nicht nur dem Europaparlament nützen, das sich bei künftigen institutionellen Konflikten etwa mit der Kommission oder dem Rat darauf berufen könnte, eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung hinter sich zu haben – sondern auch der Demokratie insgesamt, weil dadurch endlich klare öffentliche Meinungen zu den wesentlichen Fragen der europäischen Politik erkennbar würden.

Aber womöglich ist gerade das der Grund, weshalb große Teile der europäischen Politiker die Neuerungen im Duff-Bericht ablehnen. Im nächsten Beitrag soll es um die Gegenargumente gehen, die in der Debatte darüber zu hören waren.

Der Duff-Bericht Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht 
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?

Bild: By alexandernortrup [CC-BY-NC-SA 2.0], via Flickr.

11 März 2012

Der Duff-Bericht (2): Warum transnationale Listen?

Am vergangenen Donnerstag hat das Europäische Parlament überraschend beschlossen, die für den 14. März geplante Plenardebatte zum Duff-Bericht über die Reform des Europawahlrechts von der Tagesordnung zu setzen. Damit ist nun unklar, ob überhaupt noch in dieser Legislaturperiode über den darin enthaltenen Vorschlag entschieden wird, das Parlament um 25 Abgeordnete zu erweitern, die auf gesamteuropäischen Listen gewählt werden sollen. Doch die Idee ist in der Welt und wird früher oder später auf die europäische Agenda zurückkehren. Was ist davon zu halten? Teil 2 einer Serie (zu Teil 1).

Nationale Sitzkontingente und degressive Proportionalität

Europawahlen unter nationaler Flagge sind gut für bunte Briefmarken, aber nicht für die Demokratie.
Zu den größten Ärgernissen des heutigen Europawahlsystems, bei dem nach Mitgliedstaaten getrennte Wahlen über jeweils nationale Kontingente der Parlamentssitze stattfinden, gehört das Prinzip der „degressiven Proportionalität“. Dieses besagt, dass bevölkerungsreichere Staaten zwar in absoluten Zahlen mehr, im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl jedoch weniger Abgeordnete stellen dürfen als bevölkerungsärmere. Nach den derzeitigen Regelungen kommt deshalb Deutschland mit etwas über 80 Millionen Einwohnern auf 96, Malta mit etwas unter 70.000 Einwohnern auf 6 Sitze; etwa im Mittel liegt Rumänien mit 21,5 Millionen Einwohnern und 33 Sitzen.

Durch diese Regelung versucht man, den extremen Größenunterschieden zwischen den EU-Mitgliedstaaten gerecht zu werden. Würden die Parlamentsmandate jeweils im direkten Verhältnis zur Einwohnerzahl auf nationale Kontingente aufgeteilt, so kämen die kleinsten Länder (Malta, Luxemburg, Zypern) nicht einmal auf einen ganzen der derzeit 751 Sitze. Alternativ müsste man, wenn man die Sitzzahl der kleinen Länder beibehalten wollte, das Parlament auf mehrere tausend Abgeordnete erweitern. Beide Optionen funktionieren offensichtlich nicht. Schon bei der Gründung des Parlaments entschied man sich deshalb für das Prinzip der degressiven Proportionalität – auch wenn das hieß, den Grundsatz der Erfolgsgleichheit aller Stimmen aufzugeben.

Für eine Volksvertretung ist das zwar ungewöhnlich, aber nicht ganz einmalig; das System der spanischen Kongresswahlen etwa basiert auf einem ähnlichen Mechanismus. Und wenn man statt der nationalen Herkunft der Europaabgeordneten die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments betrachtet, dann bleibt die degressive Proportionalität in der Praxis sogar weitgehend folgenlos: Die Größe der Fraktionen stimmt im Verhältnis fast genau mit den europaweit für sie abgegebenen Stimmen überein. Dennoch ist die fehlende Wahlgleichheit aber natürlich ein dauerhaftes Problem für die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments – was gerade von Europaskeptikern immer wieder hervorgehoben wird, wenn es darum geht, den Europaabgeordneten einen größeren Einfluss auf die EU-Politik zu verweigern.

Weitere Widersinnigkeiten des heutigen Wahlsystems

Die degressive Proportionalität ist jedoch nicht das einzige Ärgernis, das durch die Aufteilung der Europawahlen in 27 nationale Einzelwahlen entsteht. Ein weiteres Problem ist die Verzerrung, die sich durch die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in den verschiedenen Mitgliedstaaten ergibt: Da die Sitzkontingente pro Land fest sind, zählen die Stimmen, die in Staaten mit hoher Wahlbeteiligung abgegeben werden, weniger als die Stimmen in Ländern, wo nur wenige Wähler an die Urnen gingen.

Und schließlich führt die trotz der degressiven Proportionalität sehr geringe Abgeordnetenzahl der kleinen Länder dazu, dass dort die kleineren und mittelgroßen Parteien kaum eine Chance haben, überhaupt ein Mandat zu erringen. So kam etwa die maltesische grüne Partei Alternattiva Demokratika (AD/EGP) bei der Europawahl 2004 auf fast 10 Prozent der Stimmen, was bei damals fünf maltesischen Abgeordneten jedoch nicht für einen Sitz genügte: Rund ein Zehntel der maltesischen Wähler musste also mit ansehen, wie ihre Stimme nutzlos verfiel. Bei der Europawahl 2009 hatten die Malteser daraus gelernt und konzentrierten ihre Stimmen auf die beiden einzigen aussichtsreichen Parteien, die Partit Laburista (PL/SPE) und die Partit Nazzjonalista (PN/EVP). Der Stimmenanteil der AD sackte auf 2,4 Prozent ab. In Luxemburg und Slowenien, wo die Wähler weniger strategisch vorgingen, verfiel bei den Europawahlen 2009 hingegen etwa jede siebte abgegebene Stimme, in Litauen beinahe jede fünfte, in Lettland fast jede vierte.

Der Duff-Plan: Schritt in die richtige Richtung

Die Einführung transnationaler Listen, wie sie der Duff-Bericht vorsieht, würde all diesen Problemen abhelfen. Die degressive Proportionalität würde für sie nicht mehr gelten, stattdessen hätte europaweit jede Stimme denselben Erfolgswert, gleichgültig ob sie in Deutschland oder in Luxemburg abgegeben wird. Die Malteser Grünen-Wähler müssten nicht mehr erleben, dass ihre Stimme wirkungslos bleibt; denn selbst wenn es für einen maltesischen Grünen-Abgeordneten nicht reicht, könnten sie damit doch immerhin die europäischen Grünen unterstützen. Und auch die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in den verschiedenen Teilen Europas würde bei gemeinsamen europäischen Listen nicht mehr zu Verzerrungen führen.

Natürlich sollen dem Duff-Plan zufolge nur 25 Abgeordnete nach den transnationalen Listen gewählt werden. Da für die übrigen 751 weiterhin das Prinzip nationaler Sitzkontingente gelten würde, wären die damit verbundenen Probleme also nicht endgültig behoben. Immerhin aber wäre es ein Schritt in die richtige Richtung, die Einführung eines neuen Systems, das sich in Zukunft noch ausweiten ließe – und für die europäische Parteien eine Gelegenheit, um Prozeduren einzuüben, wie man sich staatenübergreifend auf gemeinsame Listen einigen kann.

Geografische Ausgewogenheit wird Aufgabe der Europaparteien

Denn wenn das strenge Korsett der nationalen Sitzkontingente entfällt, stünde natürlich jede politische Gruppierung vor der Frage, für wie viel geografische Vielfalt sie auf ihrer Liste sorgen will. Der Duff-Bericht sieht vor, dass sich auf jeder Liste Kandidaten aus mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten finden müssten. Das ließe den Parteien jedoch noch einigen Entscheidungsspielraum: Lohnt es sich, vor allem Kandidaten aufzustellen, die in den großen Mitgliedstaaten bekannt sind, wo es viele Stimmen zu holen gibt? Oder sollte die Liste Politiker aus möglichst vielen verschiedenen Ländern umfassen, um in allen Teilen Europas Wähler anzusprechen?

Bei der Herkunft der Kandidaten eine sinnvolle Balance zwischen den verschiedenen Ländern zu finden, würde so zu einer Aufgabe der europäischen Parteien – und damit zu einer politischen Entscheidung, für die sie sich vor ihrer (gesamteuropäischen) Wählerschaft zu rechtfertigen hätten. Wir kennen das aus Deutschland, wo die CSU bei der Zusammensetzung ihrer Wahllisten grundsätzlich auf eine angemessene Verteilung zwischen altbayrischen, fränkischen und schwäbischen Kandidaten achtet und wo kein Bundeskabinett mit SPD-Beteiligung denkbar ist, in dem nicht mindestens ein nordrhein-westfälischer, ein niedersächsischer und ein hessischer Minister vertreten wäre.

Doch dieser Regionalproporz ist in Deutschland nur noch ein von vielen belächelter Bestandteil der politischen Folklore, der für die parteiinternen Machtspiele zwar wichtig sein mag, den Bürgern selbst aber eher gleichgültig ist. Und auch auf EU-Ebene würde nach der Einführung transnationaler Wahllisten die Herkunft der Abgeordneten wohl eine immer kleinere Rolle spielen, da immer mehr Wählern bewusst würde, dass im Europäischen Parlament nicht nach Staaten, sondern nach Fraktionen abgestimmt wird. Mit dem Wahlsystem würde sich auch die Wahrnehmung der Wahlen verändern – aber dazu das nächste Mal mehr.

Der Duff-Bericht Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht 
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?

Bild: By Deutsche Bundespost (scanned by NobbiP) [see page for license], via Wikimedia Commons.

09 März 2012

Was Europa von Deutschland erwarten kann

Dass Deutschland Europa so schlecht führt, liegt nicht an Angela Merkel persönlich. Aber sie könnte wenigstens versuchen, das zu ändern.
Am vergangenen 6. Februar hielt der Präsident des Europäischen Rates, Herman van Rompuy, in Berlin eine Rede, die in einer leidenschaftlichen Verteidigung der heutigen Politikergeneration gipfelte. Es sei ungerecht, den Ratsmitgliedern vorzuwerfen, sie würden im Vergleich zu ihren Vorgängern zu wenig Entschlossenheit und Führungsstärke zeigen. Von den Staats- und Regierungschefs, die ihn im November 2009 ernannten, befinde sich gut zwei Jahre später kaum noch die Hälfte im Amt: Die übrigen seien abgewählt worden oder hätten zurücktreten müssen, und viele von ihnen nur deshalb, weil sie in der Krise gemeinsame europäische Beschlüsse gegen den Druck der nationalen Öffentlichkeit verteidigt hätten.

Nun ist die deutsche Bundesregierung, Van Rompuy hin oder her, offenkundig keine von denen, die für Europa ihre nationale Macht riskieren würden. Im Gegenteil: Hierzulande ist es die Opposition, die darauf drängt, in der Krise mehr europäische Solidarität zu üben, während die Regierung eher zurückhaltend agiert. Sie befindet sich damit in Einklang mit den deutschen Meinungsumfragen, wo die Rettungsmilliarden für Griechenland oder Portugal regelmäßig auf Ablehnung stoßen. In der Öffentlichkeit vieler Krisenländer ist Angela Merkel dafür inzwischen zur Hassfigur geworden. Aber kann man ihr die Scheu vor der eigenen Bevölkerung eigentlich zum Vorwurf machen? Macht sie das im Vergleich zu ihren Amtsvorgängern wirklich zu einer schlechteren Politikerin? Wie viel Europäismus muss, wie viel darf man überhaupt von einer Regierung verlangen, die letztlich doch ihren nationalen Wählern gegenüber verantwortlich ist?

Die Verantwortung für die EU als Ganzes gehört ins Europaparlament

Tatsächlich hat die Forderung nach europapolitischer Führung oft einen etwas zweifelhaften Beigeschmack. Es ist ja gerade der Sinn der Demokratie, die Regierung an den Willen ihrer Wählerschaft zu binden. Natürlich kann und soll sie auch versuchen, die Bevölkerung von dem zu überzeugen, was sie langfristig für richtig hält – bei Verhandlungen mit anderen europäischen Mitgliedstaaten muss sie aber notwendigerweise die Interessen ihrer Wähler vertreten, nicht diejenigen der EU als Ganzes. Wenn es um die Frage geht, wie die wirtschaftlichen Kosten der Eurokrise verteilt werden, kann man es der Bundesregierung deshalb nicht übelnehmen, dass sie eher bereit ist, eine griechische Rezession als ein aus deutschen Steuergeldern finanziertes Konjunkturpaket in Kauf zu nehmen. Es sind die Mechanismen der nationalen Demokratie selbst, die der Solidarität zwischen Staaten eine Grenze setzen.

Gerade aus diesem Grund ist es sinnvoll, dass die Verantwortung für das europäische Gemeinwohl bei den supranationalen Institutionen liegt. Die Überwindung der Eurokrise und die Stabilisierung der Währungsunion sind vor allem Fragen der europäischen Innen-, nicht der nationalen Außenpolitik. Ihre gerechte Ausgestaltung betrifft die Bevölkerung der EU als Ganzes und kann deshalb nicht Aufgabe einzelner Nationalstaaten sein. Mit dem Europaparlament steht eine demokratisch legitimierte Institution zur Übernahme dieser Funktion bereit: Wie viel Solidarität in der Krise zwischen reichen und armen Europäern geübt wird, sollte von den europäischen Parteien entschieden werden, die sich dafür bei den Europawahlen vor der europäischen Bevölkerung insgesamt zu rechtfertigen haben.

Eine wirkliche Leistung wäre es, den Supranationalismus zu stärken

Unglücklicherweise haben die supranationalen Organe jedoch nicht die politischen Mittel, um diese Aufgabe zu erfüllen. Die EU kann keine eigenen Steuern erheben, ihr Budget ist viel zu klein, als dass sich daraus nennenswerte Konjunkturmaßnahmen finanzieren ließen, und die Ausgestaltung der Sozialsysteme fällt fast vollständig in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Diese fehlenden unionseigenen Ressourcen waren dann auch der Grund, weshalb die Krisenbewältigung letztlich dem Europäischen Rat überlassen blieb – und damit eben doch den nationalen Regierungen, und besonders der deutschen als der mächtigsten davon.

Der Europäische Rat aber tat nichts, um diesem Umstand abzuhelfen. Statt eine Vertragsreform in die Wege zu leiten, durch die den supranationalen Organen die nötigen Befugnisse übertragen würden, setzte man auf Intergouvernementalismus. Zwar wurde die haushaltspolitische Souveränität der Mitgliedstaaten eingeschränkt, doch weder die griechischen Notkredite noch die Rettungsschirme EFSF und ESM noch der Fiskalpakt gingen mit einer Stärkung des Europäischen Parlaments einher. Die neue „Wirtschaftsregierung“ der Eurozone sollen nach den Vorstellungen der Bundesregierung die Staats- und Regierungschefs bilden, und auch die Kommission bleibt trotz einiger neuer Zuständigkeiten im Wesentlichen eine Erfüllungsgehilfin für deren Beschlüsse.

Dieser intergouvernementale Rahmen aber wird das Problem einer gerechten Lastenteilung bei der Krisenbewältigung nicht lösen können und gefährdet so die Legitimität der EU insgesamt. Hier ist es deshalb, wo die Bundesregierung europapolitische Führungsstärke zeigen müsste: Sie müsste die Leistung vollbringen, die Verantwortung für die makroökonomische Steuerung der Währungsunion aus den eigenen Händen in die der Kommission und des Europäischen Parlaments zu übertragen. Dass sie sich dem verweigert, unterscheidet Angela Merkel von ihren Vorgängern wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl, die die supranationale Integration als Eckstein der deutschen Europapolitik ernst nahmen.

Dieser Artikel ist heute leicht gekürzt auch im Blog „Deutschlands Agenda“ der Atlantischen Initiative erschienen.
Bild: European People's Party [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons.

08 März 2012

Duff-Bericht (Update): Abstimmung verschoben

So schnell kann es gehen: Noch während ich dabei war, den letzten Blogeintrag über den Duff-Bericht zu schreiben, hat sich die Information verbreitet, dass die Abstimmung darüber von der Tagesordnung der Plenarsitzung nächste Woche entfernt wurde – anscheinend in Reaktion darauf, dass die Fraktion der Europäischen Volkspartei gestern auf Betreiben der deutschen CDU und der französischen UMP beschlossen hatte, dem Vorhaben ihre Unterstützung zu versagen. Wie es jetzt weitergeht, muss sich erst noch herausstellen; fest steht im Moment nur, dass damit wieder einmal eine wichtige Chance für die europäische Demokratie verpasst wurde. Im Augenblick jedenfalls freuen sich die Europaskeptiker, denen die deutschen und französischen Christdemokraten hier einen großen Gefallen erwiesen haben.

Die angekündigten weiteren Beiträge zum Thema in diesem Blog wird es in den nächsten Tagen trotzdem geben.

Der Duff-Bericht – Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?

Der Duff-Bericht (1): Auf zu einem neuen Europawahlrecht!

Das Wohlergehen der Demokratien, von welcher Art sie auch seien, hängt von einem erbärmlichen technischen Detail ab: dem Wahlrecht. Alles übrige ist sekundär.
José Ortega y Gasset, „Der Aufstand der Massen“

Andrew Duff hat einen Vorschlag für mehr Demokratie in Europa.
Mit den Europawahlen gibt es ein Problem. Obwohl das Europäische Parlament immer mehr an Bedeutung gewann, ist die Wahlbeteiligung beständig gesunken – von 63 Prozent im Jahr 1979 auf 43 Prozent 2009 –, und viele Unionsbürger wissen nicht so richtig, wofür ihre Europaabgeordneten überhaupt da sind. Manche nehmen das als Beleg dafür, dass Demokratie auf überstaatlicher Ebene eben nicht funktionieren kann und man das Parlament am besten einfach schließen sollte (so kürzlich der ehemalige britische Minister Jack Straw, Labour/SPE). Andere heben dagegen hervor, dass dem Parlament bis heute wichtige Kompetenzen fehlen, die zu einer intensiveren parteipolitischen Debatte auf europäischer Ebene führen würden (so kürzlich ich selbst in diesem Blog). Worin sich aber eigentlich alle einig sind, ist, dass das heutige Europawahlrecht unbefriedigend ist. Anstelle einer echten gemeinsamen Europawahl gibt es bis heute 27 mehr oder weniger gleichzeitig stattfindende nationale Wahlen zum Europäischen Parlament, bei denen jeder Staat ein eigenes Sitzkontingent und ein eigenes Wahlgesetz hat – und oft genug auch eigene nationale Wahlkampfthemen.

Um dem abzuhelfen, sieht Art. 223 Abs. 1 AEU-Vertrag vor, dass das Europäische Parlament einen Entwurf für die „allgemeine unmittelbare Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten“ erarbeiten soll – eine Vorschrift, die sich fast wortgleich schon in Art. 138 Abs. 3 des EWG-Vertrags von 1957 fand. Seitdem gab es zwar verschiedene Reformen, um wenigstens eine teilweise Angleichung der Wahlverfahren zu erreichen, ein echter Durchbruch wurde jedoch bis heute nicht erzielt. Und so steht (von den Medien leider bislang weitgehend unbemerkt) derzeit wieder einmal ein neuer Vorschlag zur Debatte, der die EU dem Ziel echter gesamteuropäischer Wahlen einen Schritt näher bringen soll.

Eine kleine Revolution

Dieser Entwurf wurde im Parlamentsausschuss für konstitutionelle Angelegenheiten von dem britischen Abgeordneten Andrew Duff (LibDem/ELDR) ausgearbeitet und ist deshalb als Duff-Bericht bekannt (hier der Wortlaut). Viele der darin enthaltenen Änderungsvorschläge machen sich eher bescheiden aus. So sollen die Europawahlen künftig nicht mehr im Juni, sondern im Mai stattfinden, damit das neue Parlament noch vor der Sommerpause seine Arbeit aufnehmen kann – nach wie vor soll jedoch jedes Land den genauen Wahltermin innerhalb eines „für alle Mitgliedstaaten gleichen Zeitraum von Donnerstagmorgen bis zu dem unmittelbar nachfolgenden Sonntag“ frei wählen dürfen. Auf eine weitere Angleichung der nationalen Europawahlgesetze verzichtet der Entwurf weitgehend; und auch der Vorschlag, die Größe der nationalen Sitzkontingente künftig nicht mehr in zwischenstaatlichen Verhandlungen auszuknobeln, sondern nach einer festen mathematischen Formel in Abhängigkeit von der Bevölkerungszahl zu berechnen, wird sehr bescheiden vorgetragen: Geplant ist nur, in einem „Dialog mit dem Europäischen Rat“ dazu „die Möglichkeit zu sondieren“.

Doch nicht umsonst ist Andrew Duff seit 2008 Präsident der Union der Europäischen Föderalisten, und so enthält sein Bericht neben all den Kleinigkeiten noch einen echten Paukenschlag: So schlägt er vor, das Parlament um 25 Abgeordnete zu erweitern, die nicht (wie die 751 übrigen) über nationale Listen gewählt werden sollen, sondern über gesamteuropäische. Jeder Wähler hätte damit künftig zwei Stimmen: Die eine ginge wie bisher an eine nationale Partei im Rahmen der Wahl für das nationale Sitzkontingent. Die andere dagegen ginge an eine transnationale Liste, die sich „aus Kandidaten aus mindestens einem Drittel der Staaten“ zusammensetzen müsste. Die Stimmen, die für diese transnationalen Listen abgegeben würden, würden EU-weit zusammengerechnet und über die Verteilung der zusätzlichen 25 Sitze entscheiden.

Dieser Vorschlag ist nichts anderes als eine kleine Revolution. Das Europäische Parlament ist schon heute das weltweit einzige direkt gewählte supranationale Organ, doch bis jetzt war aufgrund der Fragmentierung in nationale Sitzkontingente die Wählerschaft jedes einzelnen Abgeordneten doch jeweils nur national. Die Wählerschaft der 25 zusätzlichen Abgeordneten hingegen wären die Bürger der gesamten EU – zum ersten Mal in der Geschichte würden Wahlen auf überstaatlicher Ebene ohne Beachtung nationaler Grenzen nach dem Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ erfolgen.

Jetzt kommt es darauf an

Es versteht sich von selbst, dass ein solch klares Zeichen für mehr europäische Demokratie nicht ohne Gegenwehr geblieben ist. Tatsächlich stand eine frühere Version des Duff-Berichts bereits vor einem Dreivierteljahr im Plenum des Europäischen Parlaments zur Abstimmung (hier die damalige Debatte). Insbesondere in der nationalkonservativen Fraktion ECR, der rechtspopulistischen EFD und der linken GUE/NGL gab es damals Widerstand gegen den Vorschlag, aber auch die christdemokratische EVP stand offensichtlich nicht geschlossen hinter der Idee. Da es keine klare Mehrheit für eine Verabschiedung gab, wurde der Bericht zunächst an den Ausschuss für konstitutionelle Fragen zurückverwiesen. Vergangenen Februar hat der Ausschuss den Bericht – mit einigen Änderungen im Detail – zum zweiten Mal verabschiedet. Am kommenden 14. März wird er nun erneut im Plenum zur Abstimmung stehen.

Sollte diesmal wieder keine Mehrheit für den Duff-Bericht zustande kommen, so wird es wohl keinen dritten Versuch geben. Auch ein Ja des Parlaments würde noch nicht gleich dazu führen, dass der Plan auch umgesetzt wird: Für eine Veränderung des Europawahlrechts ist darüber hinaus auch ein einstimmiger Beschluss des Rates sowie gegebenenfalls der nationalen Parlamente erforderlich; falls eine Vertragsänderung nötig ist, sogar die Einberufung eines europäischen Konvents. Aber immerhin wäre eine wichtige Entscheidung zugunsten mehr europäischer Demokratie auf den Weg gebracht.

In den letzten Wochen hat deshalb eine Gruppe von europäischen Vereinen (Democracy International, Newropeans, Citizens for Europe, Omnibus für direkte Demokratie und die Initiative for the European Citizens’ Initiative) eine gemeinsame Kampagne gestartet, bei der Bürger ihre Unterstützung für den Plan zum Ausdruck bringen können. Und auch in diesem Blog sollen in den nächsten Tagen einige Implikationen des Duff-Berichts thematisiert werden. Hier geht es um etwas!

Der Duff-Bericht Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?