24 September 2012

Wider die Hoffnungslosigkeit in Südeuropa

Im Rom stand mal ein Tempel für Spes, die Göttin der Hoffnung. Viel ist nicht mehr davon übrig.
Fast erschien es nicht mehr vorstellbar: Für die Staatsschuldenkrise in der Eurozone scheint endlich eine Lösung zu existieren, die länger als nur ein paar Wochen hält. Vier Jahre lang haben Regierungen und Zentralbank darum gerungen, wer wie viel Verantwortung für die Rettungspolitik übernimmt. Am Ende stand das derzeitige EZB-Programm zum Aufkauf von Staatsanleihen: Die Zentralbank wird dabei in unbegrenztem Umfang tätig, aber nur, wenn der betroffene Krisenstaat zuvor einen Hilfsantrag an den ESM gestellt und dessen Reformforderungen akzeptiert hat, die von den Regierungen der übrigen Euroländer formuliert werden.

Das System hat einige Nachteile – insbesondere ist es so kompliziert, dass der durchschnittliche Zeitungsleser es kaum verstehen und die genaue politische Verantwortlichkeit für eine bestimmte Entscheidung kaum zuzuordnen sein wird. Außerdem umfasst es so viele Veto-Akteure, dass das Risiko erhalten bleibt, dass in einer Krisensituation notwendige Beschlüsse ausbleiben, nur weil in irgendeinem Land eine einzelne Regierung sich quer stellt oder ein Parlament handlungsunfähig ist. Dennoch scheinen die Anleger ein gewisses Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Systems gefasst zu haben: Zuletzt jedenfalls gingen die Risikoaufschläge für südeuropäische Staatsanleihen deutlich zurück. Also alles in Butter?

Nicht ganz. Denn dass sich in der Frage der Staatsschulden allmählich der Horizont lichtet, öffnet nur den Blick auf das andere Gesicht der Krise: all jene Probleme, die sich nur schleichend entwickelt haben, ohne drohende Staatsbankrotte, nervenaufreibende Gipfeltreffen und spektakuläre Rettungsaktionen – aber durch die sich die gesellschaftlichen und politischen Strukturen in Europa noch stärker verändern könnten als durch jeden ESM oder jedes Anleihenaufkaufprogramm.

Portugal: Misserfolge der Troika

Beispiel Portugal: Das kleine Land im Südwesten ist von allen südeuropäischen Krisenstaaten wohl am wenigsten in den deutschen Medien präsent gewesen. Der Grund dafür ist einfach: Seitdem es im April 2011 Hilfskredite des Euro-Rettungsschirms beantragte, hat Portugal zuverlässig sämtliche Sparforderungen der Troika aus EZB, Europäischer Kommission und IWF umgesetzt. Unter anderem wurden Löhne gekürzt, Mehrwert- und Einkommensteuer sowie Arztgebühren erhöht. Die Folge war eine scharfe Rezession, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 15 Prozent … und ein Wegfall der Steuereinnahmen, der die ganzen schönen Sparbemühungen wieder zunichte machte.

Vor einiger Zeit nun einigten sich Portugal und die Troika darauf, den Zeitplan für die Defizitreduktion um ein Jahr zu verlängern. Sollte die Neuverschuldung ursprünglich 2012 auf 4,5 und 2013 auf 3 Prozent gedrückt werden, sind es nun 6 Prozent für dieses Jahr, 4,5 für 2013 und 3 Prozent für 2014. Aber wie El País berichtete, wurde diese Nachricht von der Bevölkerung des Landes eher mit Frustration aufgenommen: Hatten sich die Portugiesen bislang damit getröstet, dass sie wenigstens in absehbarer Zeit einen Erfolg all der Entbehrungen sehen würden, so breitet sich nun ein Gefühl von Sinnlosigkeit aus. Nach Massenprotesten warnte am vergangenen Wochenende der Staatsrat, ein hochrangiges beratendes Gremium, der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ im Land sei gefährdet. Im Anschluss kündigte die portugiesische Regierung an, erstmals eine mit der Troika vereinbarte Sparmaßnahme nicht umsetzen zu wollen.

Spanien: Arbeitslosigkeit auf weltweitem Rekordniveau

Beispiel Spanien: Nach einer Statistik, die die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) vor zwei Wochen für die FTD erstellte, hat Spanien inzwischen die höchste Arbeitslosigkeit unter allen Staaten, für die entsprechende Statistiken existieren. Die Quote liegt bei 24,5 Prozent, bei den Unter-24-Jährigen sogar bei 53,2 Prozent. (Auf Platz 2 liegt Griechenland mit 22,3 und 55 Prozent.) Eine Besserung ist auf absehbare Zeit nicht in Sicht – am ehesten wird die Quote noch dadurch sinken, dass Menschen sich nicht mehr bei den Ämtern melden, da sie die Arbeitssuche aufgegeben und auch keinerlei Anspruch mehr auf staatliche Sozialleistungen haben; Letzteres trifft derzeit auf 1,7 Millionen spanische Arbeitslose zu. Doch je länger die Menschen ohne Arbeit sind, desto niedriger ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Zukunft noch einmal einen Job finden. Ein immer größerer Anteil der Spanier ist dabei, den Kontakt zur Arbeitswelt zu verlieren, da ihre beruflichen Qualifikationen veralten. Aus der konjunkturellen Arbeitslosigkeit der Krise droht so eine strukturelle Arbeitslosigkeit auch künftiger Jahre zu werden.

Einziger Ausweg ist deshalb für viele Spanier die Auswanderung: Gegenüber der Vorkrisenzeit ist die Zahl der Emigranten um mehr als 20 Prozent gestiegen. Obwohl dies aus ökonomischer Sicht durchaus wünschenswert ist (für einen optimalen Währungsraum ist die Arbeitsmigration in der EU noch immer eher zu niedrig), schwächt die Auswanderung das soziale Gefüge vor Ort: denn häufig sind es gerade die Jüngeren, besser Ausgebildeten und Unternehmungslustigen, die den Weg ins Ausland antreten. Zurück bleiben diejenigen, die für sich selbst keine Chancen mehr sehen und immer weniger zu verlieren haben.

Griechenland: Gewaltrisiko „weder hypothetisch noch theoretisch oder ungewiss“

Beispiel Griechenland: Das Land, das am stärksten im Fokus der Schuldenkrise stand, ist zugleich wohl auch dasjenige, wo der soziale Niedergang am weitesten fortgeschritten ist. Anfang des Jahres sah Eurostat mehr als ein Viertel der 18- bis 64-jährigen Griechen an der Grenze zur Armut. Hunderttausende Menschen ernähren sich nach der radikalen Kürzung der staatlichen Sozialprogramme in Suppenküchen, die Kirchen oder Nachbarschaftsinitiativen eingerichtet haben. Die massiv gestiegene Selbstmordrate seit Ausbruch der Krise war wiederholt Thema von Medienberichten. Und dass sich nach der Parlamentswahl im Juni eine Koalition zusammenfand, die den europäisch verordneten Sparkurs (im Wesentlichen) weiter mitträgt, sollte keinen Beobachter über die extreme Wut hinwegtäuschen, den diese Verelendung ausgelöst hat.

Ein beeindruckendes Symptom der politischen Lage ist eine Entscheidung, die das Gericht der Europäischen Union (EuG) kürzlich getroffen hat: Die Europäische Kommission hatte bestimmte Zahlungen, die die staatliche griechische Agrarversicherung wegen des schlechten Wetters an griechische Bauern geleistet hatte, als unzulässige Beihilfen angesehen und deshalb deren Rückzahlung angeordnet. Das EuG nun gewährte Griechenland vorläufigen Rechtsschutz gegen diese Anordnung und setzte die Rückzahlung bis zur endgültigen Entscheidung des Verfahrens aus – und zwar mit dem Argument, dass das
Risiko, dass die sofortige Rückforderung der umstrittenen Zahlungen […] Demonstrationen auslöst, die in Gewalt ausarten können, weder rein hypothetisch noch theoretisch oder ungewiss erscheint. […] Es ist offensichtlich, dass die Störung der öffentlichen Ordnung, die durch solche Demonstrationen und durch die Ausschreitungen ausgelöst würde, zu denen diese, wie jüngere Ereignisse gezeigt haben, führen können, einen schweren und irreparablen Schaden anrichten würde, auf den sich die Hellenische Republik legitimerweise [für den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz] berufen kann“ (meine Übersetzung des französischen Originals).
Mit anderen Worten: Das EuG bezieht in seine Rechtsprechung inzwischen die Wahrscheinlichkeit mit ein, dass normale administrative Entscheidungen in Griechenland zu gewalttätigen Unruhen führen können.

Nötig ist eine Zukunftsperspektive

Was Südeuropa jetzt braucht, ist eine Zukunftsperspektive – eine konkrete Aussicht darauf, dass sich in den nächsten Monaten oder Jahren eine Besserung der Lebensverhältnisse einstellen wird, dass die Verelendung der Gesellschaft gestoppt werden kann. Wenn die allgemeine Resignation in Empörung umkippt, stehen nicht mehr nur einige Millionen oder Milliarden Euro auf dem Spiel, sondern die soziale Akzeptanz des ganzen politischen Systems. Ob sich das zuletzt in der Wahl extremistischer Parteien auswirkt oder in gewalttätiger Randale, auf die der Staat mit verstärkten Polizeieinsätzen reagieren müsste: Die offene Gesellschaft, die sich die Europäische Union als Wert auf die Fahnen geschrieben hat, ist am Ende, wenn die Menschen keine Hoffnung mehr für eine bessere Zukunft sehen.

Wäre die EU ein demokratischer föderaler Staat, in dem die wirtschaftlichen Leitentscheidungen vom Europäischen Parlament getroffen werden, so wäre die Partei, die für die Krisenpolitik der letzten Jahre verantwortlich war, vermutlich längst abgewählt worden. So aber ist die Austeritätspolitik vor allem eine Folge der Machtverhältnisse im Europäischen Rat, auf die die portugiesischen, spanischen und griechischen Bürger kaum einen Einfluss haben. Umso mehr kommt es nun darauf an, dass auch jene Politiker, die von den Südeuropäern nicht institutionell zur Rechenschaft gezogen werden können, ein deutliches Zeichen setzen, dass sie die katastrophale soziale Lage in den Krisenstaaten zu ihren höchsten Prioritäten zählen. Die Rede ist, natürlich, von Angela Merkel (CDU/EVP) und François Hollande (PS/SPE), den Regierungschefs der zwei einflussreichsten Mitgliedsländer der Eurozone.

Die Symbolik der Bankenunion

Eine Gelegenheit dazu ergab sich etwa am vergangenen Wochenende, als sich Merkel und Hollande in Ludwigsburg trafen, um ihre Positionen über die Bankenunion abzugleichen. Bei seiner Rede zur Lage der EU hatte Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) vor zwei Wochen Pläne für deren schnelle Verwirklichung bis Anfang nächsten Jahres angekündigt. Obwohl das Thema auf den ersten Blick eher technisch ist (es geht um eine gemeinsame Bankaufsicht und einer gemeinsame Einlagensicherung), ist es nicht nur außerordentlich wichtig für die weitere wirtschaftliche Entwicklung, sondern durchaus auch von symbolischer Relevanz. Denn die Bankenunion stärkt die Kontrollrechte der europäischen Ebene bei der Vermeidung künftiger Krisen und bedeutet zugleich eine unmittelbare Hilfe für die südeuropäische Staaten. Dass Barroso hier aufs Tempo drückt, ist also auch als Signal an die Bevölkerung in den Krisenstaaten zu verstehen, dass die EU an konkreten Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse arbeitet.

In der deutschen Finanzlobby freilich ist die Bankenunion reichlich unbeliebt: Zum einen, weil die deutschen Banken bislang sehr von den unterschiedlichen Einlagensicherungssystemen profitieren, zum anderen, weil die deutschen Sparkassen derzeit noch gewisse Privilegien genießen, die bei einer einheitlichen Aufsicht wohl abgeschafft würden. Beides, so sollte man meinen, sind angesichts der politischen Krise der EU relativ unwichtige Partikularinteressen. Und doch spielte Merkel in Ludwigsburg auf Zeit, und auch Hollande ließ sich zuletzt auf ein dubioses gemeinsames Statement ein, demzufolge zunächst einmal die „Qualität“ der gemeinsamen Aufsicht gewährleistet sein müsse. Und als das Gespräch auf künftige Wachstumsmaßnahmen der Euroländer kam, da lag Merkel vor allem die „strikte Erledigung der nationalen Hausaufgaben“ durch die Krisenstaaten am Herzen.

Außer der Pressekonferenz mit Hollande hielt die Bundeskanzlerin in Ludwigsburg übrigens auch noch eine Rede, in der es um Charles de Gaulle und seinen Optimismus in Bezug auf die deutsch-französischen Beziehungen ging. An ihre jungen Zuhörer gewandt appellierte sie: „Lassen wir uns auch heute und in Zukunft von dieser Zukunftsfreude anstecken!“ Einem zufällig anwesenden portugiesischen Arbeitslosen dürfte das unter diesen Umständen nicht ganz leicht gefallen sein.

Bild: von Patrick Denker (Flickr) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

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