23 Dezember 2012

Europapolitischer Wunschzettel

2012 haben wir ESM und Fiskalpakt bekommen. 2013 wäre ein wenig mehr europäische Demokratie ganz schön.
Lieber europapolitischer Weihnachtsmann,

für das neue Jahr wünsche ich mir eine Reform der EU-Verträge. Nicht einfach irgendeine Reform, davon hatten wir ja in letzter Zeit schon viele. Sondern eine richtige – so eine mit Europäischem Konvent und viel Medienaufmerksamkeit und öffentlicher Debatte und am Schluss vielleicht einem europaweiten Referendum. Das wäre ganz toll. Und wenn ich mir noch mehr wünschen darf, dann fände ich es gut, wenn bei dieser Vertragsreform Folgendes beschlossen würde:

● die Wahl des Kommissionspräsidenten allein durch das Europäische Parlament, ohne Beteiligung des Europäischen Rates,
● die Einführung eines konstruktiven Misstrauensvotums, durch welches das Europäische Parlament mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder jederzeit einen neuen Kommissionspräsidenten ernennen kann,
● die Ernennung der übrigen Kommissionsmitglieder allein durch den Kommissionspräsidenten, ohne weitere Vorgaben über ihre Anzahl und Nationalität,
● eine Reform des Europawahlrechts zur Einführung transnationaler Wahllisten, oder noch besser: die Streichung aller primärrechtlichen Vorgaben zu nationalen Sitzkontingenten und die Einführung einer Regelung, nach der das Europawahlrecht künftig allein durch das Europäische Parlament (ohne Beteiligung des Ministerrates) beschlossen wird,
● eine Reform des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 294 AEU-Vertrag, sodass im Europäischen Parlament nur noch eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen, nicht eine Mehrheit aller Abgeordneten notwendig ist,
● die Festlegung von Brüssel als einzigen Sitz des Europäischen Parlaments (und damit ein Ende der monatlichen Abgeordneten-Umzüge nach Straßburg),
● ein legislatives Initiativrecht für das Europäische Parlament in allen Bereichen, für die das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt,
neue EU-Kompetenzen bei der Festlegung von Mindeststandards für die Sicherheit von Kernkraftwerken und Atommüll-Lagern,
die Einführung automatischer Stabilisatoren gegen asymmetrische Konjunkturschocks in der Eurozone: zum Beispiel durch Eurobonds, oder durch eine massive Ausweitung des EU-Haushalts (z.B. mit einer gesamteuropäischen Arbeitslosenversicherung), oder auch einfach durch einen neuen „Stabilisierungsfonds“, der aus einer stark konjunkturabhängigen Steuer (z.B. der Mehrwertsteuer) gespeist und dann gemäß einem konjunkturbereinigten Schlüssel unter den Mitgliedstaaten aufgeteilt würde,
● die Übertragung des Vorsitzes in der Eurogruppe an den Kommissar für Wirtschaft und Währung (und damit die Abschaffung des „Präsidenten der Eurogruppe“ als eigenständiges Amt),

Gut, ich weiß, das ist schon eine ganze Menge. Aber, lieber europapolitischer Weihnachtsmann, weil ich wirklich das ganze Jahr über brav gewesen bin, habe ich noch ein paar etwas weitergehende Vorschläge:

● eine Ausweitung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (d.h. gemeinsame Entscheidung durch Europäisches Parlament und Ministerrat, ohne Vetomöglichkeit für einzelne Mitgliedstaaten) auf alle Politikbereiche der EU, einschließlich Steuern, Sozialpolitik etc.,
● eine Reform von Art. 7 EU-Vertrag, sodass künftig nicht mehr ein einstimmiger Beschluss des Rates, sondern ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs notwendig ist, um die Verletzung der EU-Grundwerte durch einen Mitgliedstaat festzustellen,
eine Reform von Art. 22 AEU-Vertrag, sodass Unionsbürger künftig nicht nur bei kommunalen, sondern auch bei regionalen und nationalen Wahlen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft an ihrem Wohnort wählen können,
● eine Reorganisation des Europäischen Systems der Zentralbanken, bei der die einzelnen „nationalen Zentralbanken“ im Eurosystem von den Nationalstaaten gelöst werden, sodass sie künftig nicht mehr für einzelne Staaten, sondern für transnationale Zentralbank-Distrikte zuständig sind,
● eine Reform des EU-Haushaltsverfahrens, sodass das EU-Budget künftig ohne Beteiligung des Ministerrats allein durch das Europäische Parlament verabschiedet wird,
● wenn das Europäische Parlament alleinige Haushaltsbehörde wird und eigene Steuern erheben kann: die Einführung von Anleihen auf den EU-Haushalt zur Finanzierung von Investitionen und zum Ausgleich konjunktureller Schwankungen,
● wenn das Europäische Parlament alleinige Haushaltsbehörde wird, eigene Steuern erheben und Anleihen auf den EU-Haushalt herausgeben kann: die Abschaffung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, weil der dann überflüssig sein wird,
● die Zusammenfassung des gesamten europäischen Primärrechts (vor allem EU-Vertrag, AEU-Vertrag und EU-Grundrechtecharta) in ein einheitliches Dokument,

Na schön, dieser letzte Punkt ist wirklich ein ziemlich dicker Brocken. Ich will aber nicht unbescheiden sein. Immerhin gibt es auch ein paar Reformvorschläge, auf die ich gut verzichten kann. Explizit nicht möchte ich also:

eine Stimmrechtsreform im EZB-Rat oder in anderen Gremien, durch die die Stimmen von Mitgliedstaaten nach ihrer Wirtschaftskraft gewichtet werden.

Das, lieber europapolitischer Weihnachtsmann, sind meine Wünsche für eine große EU-Vertragsreform 2013, mit Konvent und allem Drum und Dran. Vielleicht habe ich auch noch den einen oder anderen Wunsch vergessen, den die Leserinnen und Leser dieses Blogs mithilfe der Kommentarfunktion gerne nachtragen können. Aber wenn du diese hier erfüllst, dann würde ich mich jedenfalls schon einmal sehr darüber freuen. Und wenn es nicht klappt, lieber europapolitischer Weihnachtsmann, kannst du uns stattdessen ja auch einfach wieder wie dieses Jahr einen Friedensnobelpreis bringen. Der war ja auch ganz nett.

Und damit geht dieses Blog für eine Weile in die Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein glückliches 2013!

Bild: von Sigismund von Dobschütz (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

1 Kommentar:

  1. Hallo Herr Müller,

    ich habe mir den Wunschzettel mal angeschaut und überlegt, was ich als Weihnachtsmann denn erfüllen würde.

    1. KP-Wahl nur durch Parlament: Dafür
    Fände ich konsequent, wenn man die EU demokratischer, bzw. direkter an den Bürger anbinden will.

    2. Konstruktives Misstrauensvotum: Dafür
    Logische Konsequenz aus Nr. 1.

    3. KP ernennt Kommission: Neutral
    Nur wenn Nr. 1 und Nr. 2 erfüllt sind. Ansonsten eher Parlament stärken und dieses die Kommission aussuchen lassen.

    4. Transnationale Listen: Zurzeit dagegen
    Im Moment brauchen wir meines Erachtens erst eine „Europäische Öffentlichkeit“. Ich denken nicht, dass sich das von oben verordnen lässt. Sprache ist ein erhebliches Hindernis, gerade bei Sprachen die ausschließlich in einem kleineren Land gesprochen werden.

    5. Reform des ordentlichen Ggv.: Dagegen
    Kann mir ein zusätzliches Ggv. vorstellen, welches für manche kleinere Bereiche gilt und bei dem die Mehrheit der Stimmen reicht. Finde es aber wichtig, dass im EP nicht passieren kann, was im Bundestag gelegentlich passiert, wenn nur 10 Abgeordnete anwesend sind (Bsp. Meldegesetz)

    6. Festlegung auf Brüssel als Sitz: Dafür
    Aber weil ich gern dagegen bin, leg ich mich auf Strasbourg als einzigen Sitz fest ;D.
    7. Initiativrecht für EP: Dafür
    Eine Stärkung des demokratisch direkt legitimierten EP ist zu begrüßen.

    8. Atomkompetenz: Dafür
    Strahlung hält sich nicht an Landesgrenzen, daher ist das eine europäische Aufgabe.

    9. Automatische-Stabilisatoren: Dagegen
    Ich bin immer noch der Auffassung, dass es für die wirtschaftliche Koordination andere bzw. bessere Mechanismen gibt, zumal hier auch noch einmal zwischen Euro-Zone und unterschieden werden muss.

    10. Kommissar wird Eurogruppen-Chef: Neutral
    Im Moment kann ich mir hierzu keine Meinung bilden, da ich mir nicht sicher bin, ob es überhaupt hilfreich ist, die Euro-Gruppe weiter in die EU einzubinden. Viele EU-Mitglieder wollen keine weitere Integration, die Euro-Staaten benötigen diese aber. Möglicherweise würde durch eine solche Einbindung eine stärkere Integration sogar mehr blockiert als gefördert.

    11. Gemeinsame Einlagensicherung: Dagegen
    Ich würde mir eine europäische Pflichtversicherung für Banken vorstellen, die nicht privatwirtschaftlich, sondern von einem öffentlichen Träger verwaltet, aber von den Banken durch eine Versicherungsabgabe getragen wird.

    12. Einführung einer EU-Steuer: Dafür
    Jede kleine Gemeinde hat nach dem Prinzip der Selbstverwaltung eigene Finanzquellen, nicht aber die EU. Persönlich fände ich eine Kerosin-Steuer sehr geeignet oder die Übereignung der Erlöse aus dem CO²-Handel.

    Ja das ist schon eine ganze Menge. Die beiden ersten Zusatzpunkte kann ich nicht beurteilen, das Wahlrecht von Unionsbürger darf gerne auf andere Ebenen ausgeweitet werden, bei den Zentralbanken sehe ich allerdings nicht die Notwendigkeit diese zusammenzufassen. Was es mit dem nächsten Punkt auf sich hat verstehe ich nicht und beim Haushaltsrecht bin ich der Auffassung, dass das Parlament nicht ganz alleine entscheiden sollte. Entsprechend entfallen dann auch die beiden darauffolgenden Punkte. Ebenso würde ich eine EU-Verfassung erst dann bewerten wollen, wenn ich den Inhalt kenne.

    Insgesamt ein netter Wunschzettel und einiges davon darf gerne in Erfüllung gehen.

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