29 Juni 2012

Der ESM wird zum EU-Schattenhaushalt: Ein erster Eindruck von den Gipfelergebnissen

Der Euro muss stabiler werden. Der Europäische Rat setzt deshalb auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus.
Je schneller die Stellungnahme, desto kürzer ihre Halbwertszeit, aber ein paar Worte will ich doch verlieren über die gestern Nacht erzielten Einigungen bei der Tagung des Europäischen Rates (hier das Kommuniqué). Die entscheidende Frage war ja, ob sich der Gipfel nur zu einem einmaligen Wachstumspaket durchringen würden, das die Staats- und Regierungschefs der vier größten Euro-Staaten schon Anfang der Woche angekündigt hatten, oder ob es darüber hinaus auch grundsätzliche Reformen der europäischen Finanzverfassung geben würde. Diese sind nötig, um erstens den investitionshemmenden Austeritäts-Bias des Fiskalpakts auszugleichen und um zweitens Mechanismen zu schaffen, die der Eurozone eine Reaktion auf asymmetrische Schocks ermöglichen.

In den letzten Wochen wurden, auch in diesem Blog, verschiedene Maßnahmen zu diesen Zwecken diskutiert: die Goldene Regel (zum Erhalt öffentlicher Investitionen), Eurobonds (gegen asymmetrische Schocks bei der Staatsfinanzierung), eine gemeinsame Einlagensicherung der europäischen Banken (gegen asymmetrische Schocks im Finanzsystem) – jeweils begleitet von einer Übertragung von Aufsichts- und Kontrollrechten an die europäische Ebene, um Moral Hazard zu verhindern. Mit Ausnahme der Goldenen Regel fanden sich diese Ideen auch in den Vorschlägen wieder, die die vier Präsidenten der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates, der Europäischen Zentralbank und der Eurogruppe kurz vor dem Gipfel präsentierten (Wortlaut).

Der Europäische Rat setzt auf den ESM

Nachdem die deutsche Bundesregierung sich jedoch scharf gegen diese Pläne ausgesprochen hatte, schlug der Gipfel einen anderen Weg ein und verzichtete sowohl auf Eurobonds als auch auf die gemeinsame Einlagensicherung. Stattdessen scheint er voll auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu setzen – den neuen 500 Milliarden schweren Fonds, der in den Medien als „Euro-Rettungsschirm“ bekannt ist. Ziel dieses Fonds war es ursprünglich, Euro-Staaten Kredite zu gewähren, wenn ansonsten die Stabilität der Eurozone insgesamt gefährdet wäre. Im Ausgleich müssten die geretteten Staaten jeweils strikte Reform-, d.h. Sparprogramme durchführen.

Die Beschlüsse des Gipfels laufen nun erstens darauf hinaus, dass solche Rettungskredite auch ohne zusätzliche Sparprogramme gewährt werden können, sofern die Krisenstaaten zuvor alle Vorgaben des Stabilitätspakts erfüllt haben. Damit wird der Europäische Rat der Tatsache gerecht, dass ein Staat auch ohne eigenes Verschulden in eine Finanzkrise geraten kann – eben wenn er von einem exogenen Wirtschaftsschock getroffen wird, den er mangels eigener Währung nicht durch Abwertung ausgleichen kann.

Zweitens soll der ESM künftig auch direkt zur Sanierung von angeschlagenen Banken verwendet werden können. Mittelbar kann er damit die gemeinsame Einlagensicherung ersetzen: Diese sollte ja vor allem die Sorgen der Investoren abbauen, dass bei einer Bankenpleite ihre Einlagen in den Krisenländern schlechter abgesichert sind als in den stabilen Staaten. Wenn nun der ESM einschreiten kann, um solche Pleiten zu verhindern, kann das auch das Vertrauen in den spanischen, italienischen oder irischen Bankensektor wiederherstellen.

Je flexibler der ESM, desto ähnlicher ist er einem gemeinsamen Haushalt

In einiger Hinsicht also bieten die gestern getroffenen Beschlüsse gangbare Ansätze für wichtige Herausforderungen der Eurozone. Ich habe hier vor einigen Wochen geschrieben, dass die eigentliche Lösung der europäischen Finanzschwierigkeiten in der Einrichtung eines großen EU-Haushaltes bestünde – und dass die verschiedenen Modelle, die zur Überwindung der Eurokrise diskutiert werden, am besten als der Versuch verstanden werden können, dessen nützlichen Effekte zu simulieren. Je flexibler nun die ESM-Regelungen gestaltet werden, desto mehr Ähnlichkeit bekommt der Fonds mit einem solchen gemeinsamen Haushalt.

Etliche Probleme jedoch bleiben auch ungelöst. Erstens kann der ESM nach wie vor nur Kredite vergeben. Zwar kann auch ein niedrig verzinster Kredit eine indirekte Form des Transfers sein – dennoch ist nicht sicher, ob das schon genügt, um größere Asymmetrien in der Eurozone hinreichend ausbalancieren zu können. Zweitens bietet der ESM keine Lösung für das Problem, dass die Schuldenbremse öffentliche Investitionen abwürgen wird (wobei hier die ebenfalls auf dem Gipfel zu beschließende Kapitalaufstockung der Europäischen Investitionsbank einen Lösungsansatz bieten mag). Und drittens ist der ESM für einen echten gemeinsamen Haushalt viel zu klein; je mehr Aufgaben ihm nun übertragen werden, desto eher wird auch seine finanzielle Kraft irgendwann erschöpft sein. Um eine glaubwürdige Garantie für die Stabilität der Eurozone zu bieten, müsste man deshalb sicherstellen, dass er gegebenenfalls an weiteres Geld gelangen kann – etwa durch eine unbegrenzte Nachschusspflicht der Mitgliedstaaten. Dies aber käme einer EU-Steuer gleich und würde deshalb von zahlreichen Regierungen (darunter der deutschen) sicher abgelehnt.

Hauptproblem: Die Entscheidungsverfahren des ESM

Das Hauptproblem des ESM jedoch liegt in seinen Entscheidungsverfahren: Das zentrale Beschlussgremium des neuen Fonds ist sein Gouverneursrat, der sich aus den Finanzministern der Euro-Mitgliedstaaten zusammensetzt und in allen wichtigen Fragen nur einstimmig entscheiden kann. Das schmälert zum einen seine Glaubwürdigkeit auf den Finanzmärkten, da immer zu fürchten sein wird, dass in einer Krisensituation eine einzelne Regierung mit ihrem Veto alle Rettungsmaßnahmen blockieren kann. Und zweitens ist diese Entscheidungsstruktur natürlich reichlich undemokratisch, da sie keine Parlamentsbeteiligung vorsieht. In vielen Ländern wurde nun durch die nationale Gesetzgebung sichergestellt, dass die Finanzminister ihre Entscheidungen im Gouverneursrat nur nach der vorherigen Zustimmung ihres jeweiligen nationalen Parlaments treffen können. Aber sollte die Stabilität der Währungsunion nicht eigentlich auch eine Angelegenheit des Europäischen Parlaments sein?

Es gab in der Geschichte der europäischen Integration über Jahrzehnte hinweg eine skurrile Aufteilung des EU-Haushalts in „obligatorische“ und „nicht-obligatorische Ausgaben“. Während Letztere einer gemeinsamen Kompetenz des Rates und des Europäischen Parlaments unterlagen, entschied über Erstere der Rat allein. Erst durch den Vertrag von Lissabon wurde diese Trennung aufgegeben; das Europäische Parlament ist seitdem als Haushaltsbehörde für alle Bereiche des regulären EU-Etats mit dem Rat gleichberechtigt.

Nun aber droht ein Rückfall in diese alten Zeiten, in denen die Finanzierung mancher Politikbereiche (in diesem Fall die Stabilisierung der Eurozone) allein dem Rat (bzw. hier den Finanzministern der Eurogruppe) überlassen wird. Ein Effizienzgewinn ist dadurch nicht zu erwarten – im Gegenteil war der Kern der alten „obligatorischen Ausgaben“ gerade das Budget für die Gemeinsame Agrarpolitik, der mit Abstand teuerste und ineffizienteste Politikbereich der EU. Und demokratischer ist eine Entscheidung ohne das Europäische Parlament erst recht nicht.

Wenn der ESM nun also zum neuen EU-Schattenhaushalt werden soll, dann muss man auch seine Entscheidungsverfahren reformieren: Wie wäre es, wenn auch hier künftig nur eine Mehrheit der Staatenvertreter erforderlich wäre und dafür die Europaabgeordneten ein Mitspracherecht erhielten? De facto würde das bedeuten, den neuen Fonds in den regulären EU-Haushalt einzugliedern. Aber das wäre zuletzt ohnehin die sauberste Lösung.

Bild: By Adrian Petty (Own work) [CC-BY-SA-3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons.

25 Juni 2012

Die Fiskalunion, das Grundgesetz und der Ruf nach einem deutschen Europa-Referendum

Bald wohl ein Auslaufmodell.
Plötzlich ist die Idee wieder in aller Munde: Warum sollte nicht auch Deutschland mal ein europapolitisches Referendum durchführen? Horst Seehofer (CSU/EVP) ist sowieso dafür, Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) geht davon aus, „dass es schneller kommen könnte, als ich es noch vor wenigen Monaten gedacht hätte“, Peer Steinbrück (SPD/SPE) nennt die nächsten zwei Jahre als möglichen Zeithorizont. Und das, obwohl nirgendwo im deutschen Grundgesetz nationale Volksabstimmungen vorgesehen sind.

Thema des Referendums, so viel ist auch klar, sollten massive Kompetenzübertragungen von der nationalen auf die europäische Ebene sein. Die Euro-Krise hat deutlich gemacht, dass aufgrund der großen zwischenstaatlichen Verflechtung insbesondere in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nationale Vetos und Alleingänge ungeheuren Schaden anrichten können und wir ohne eine echte Fiskalunion (also gemeinsame Entscheidungen und gemeinsame Haftung – plus einen Transfermechanismus zum Ausgleich asymmetrischer Schocks) nicht weiterkommen. Das aber bedeutet auch, dass Steuerpolitik künftig nicht mehr allein national, sondern nur gesamteuropäisch gestaltet werden kann. Und das ist nicht nur sehr wünschenswert, sondern auch von großer verfassungsrechtlicher Brisanz: denn das deutsche Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, dass ein solcher Schritt mit dem gegenwärtigen Grundgesetz nicht möglich ist.

Hintergrund: Das Lissabon-Urteil

Das Urteil zum Vertrag von Lissabon jedenfalls ist diesbezüglich verhältnismäßig eindeutig. In einer viel kritisierten Passage beschäftigte sich das Verfassungsgericht damals statt mit dem Vertrag selbst mit einer Reihe von hypothetischen künftigen Integrationsschritten und definierte mehrere „integrationsfeste“ Politikbereiche, darunter „die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand“ sowie „die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen“. Dabei argumentierte das Gericht, für Laien etwas überraschend, mit Art. 38 GG, der die allgemeinen Modalitäten der Bundestagswahl festlegt. Die Verfassungsrichter lesen daraus, dass das in Art. 20 GG festgeschriebene Demokratieprinzip nur dann erfüllt ist, wenn der Bundestag (und nicht etwa das Europäische Parlament) die zentralen Entscheidungen in der deutschen Politik trifft. Und da die Grundsätze in Art. 20 GG der „Ewigkeitsgarantie“ in Art. 79 Abs. 3 GG unterliegen, kann es eine echte budgetpolitische Integration nur geben, wenn das bisherige Grundgesetz durch eine neue Verfassung ersetzt wird.

Dieser verfassungsrechtliche Hintergrund mag eines der Motive sein, weshalb die deutsche Bundesregierung sich in der Euro-Krise so defensiv verhält und allenfalls die Simulation einer Fiskalunion, nicht aber einen gemeinsamen europäischen Haushalt selbst akzeptieren will. Die Notkredite für Griechenland und der Rettungsschirm EFSF jedenfalls wurden vom Verfassungsgericht akzeptiert. Doch im Moment steht in Frage, ob nicht auch schon der Fiskalpakt und der Europäische Stabilitätsmechanismus die Vorgaben des Lissabon-Urteils verletzen – so jedenfalls argumentieren die Fraktion der Linkspartei (EL) und die frühere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD/SPE), die gegen diese Beschlüsse Verfassungsklage eingereicht haben. Und da das Gericht das anscheinend nicht vollkommen abwegig findet, mehren sich jetzt wieder die Spekulationen über ein neues Grundgesetz.

Referendumsagenda des Verfassungsgerichts?

Bemerkenswerterweise scheinen diese Spekulationen auch den Verfassungsrichtern selbst keineswegs unangenehm zu sein. Denn die Abschaffung des Grundgesetzes ist im Grundgesetz selbst vorgesehen – nämlich „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ (Art. 146 GG). Im Lauf der letzten Jahre haben verschiedene Mitglieder des Verfassungsgerichts (etwa Andreas Voßkuhle und Peter-Michael Huber) auf diese Möglichkeit hingewiesen. Zugleich wurde auch deutlich, wie sich die Richter eine solche neue Verfassungsgebung vorstellen: nämlich in Form eines Referendums.

Womöglich war das umstrittene Lissabon-Urteil also keineswegs ein europapolitischer Blockadeversuch, sondern eher ein rechtspolitischer Trick, um für die Zukunft nationale Volksabstimmungen über größere EU-Vertragsreformen einzuführen. In Irland gibt es diese schon längst, im deutschen Grundgesetz sind sie bislang nicht vorgesehen. Will man das Vorgehen der Richter also freundlich deuten, so könnte man ihre Verdienste um die europapolitische Debatte loben: Schließlich sorgen Referenden in aller Regel für eine sehr viel höhere öffentliche Aufmerksamkeit als rein parlamentarische Abstimmungen, die dann auch noch im Konsens aller großen Parteien getroffen werden.

Nationale Referenden generieren nationale Debatten

Doch stimmt das wirklich? Wie ich hier vor einigen Monaten schon einmal geschrieben habe, bedeutet eine Zunahme nationaler Europa-Diskussionen noch keine europäische Öffentlichkeit. Die Frage, wer an einer Entscheidung beteiligt ist, hat immer auch Auswirkungen darauf, welche Argumente in der Auseinandersetzung über diese Entscheidung vorgebracht werden: Was aus europäischer Perspektive eine notwendige Bündelung von Kompetenzen ist, ist aus einzelstaatlicher Sicht ein Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte – und während sich wohl die meisten Deutschen in einer gemeinsamen Debatte mit Italienern, Franzosen und Finnen schnell darüber einig wären, dass eine Harmonisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik in Europa notwendig ist, wird es bei einer rein nationalen Diskussion viel schwerer zu erklären sein, weshalb Beschlüsse über „unsere“ Finanzen künftig im ach-so-fernen Brüssel getroffen werden sollen.

Auch wenn es irrational erscheint: Bei Entscheidungen, die in einem supranational-europäischen Rahmen getroffen werden, verstehen sich die meisten Menschen als europäische Bürger. Bei europapolitischen Beschlüssen, die auf nationaler (oder auch intergouvernementaler) Ebene gefasst werden, wird der Rest der EU jedoch schnell zum „Ausland“. In der öffentlichen Debatte dominieren dann außenpolitische Paradigmen: nationale Interessen und nationale Souveränität. Und ist das wirklich das Vorzeichen, unter dem wir die notwendigen nächsten Schritte bei der Vertiefung der Europäischen Union diskutieren wollen?

Max Steinbeis hat das vor einigen Monaten im Verfassungsblog sehr treffend ausgedrückt, als er die enge Verbindung zwischen der Debatte über ein neues Grundgesetz und einen neuen EU-Vertrag beschrieb:
Wenn wir tatsächlich die deutsche Nation neu konstitutionalisieren wollten, dann würde das darauf hinauslaufen, dass wir in Wahrheit eine Debatte darüber führen, wie wir Europa neu konstitutionalisieren. Ich bin sehr dafür, dass wir diese Debatte führen, aber das können wir nicht alleine tun. Das ist nicht etwas, das wir Deutschen mit uns selbst ausmachen könnten. Das müsste als gesamteuropäischer Verfassungsgebungsprozess geschehen. Und den werden wir nicht bekommen.

 Alternative: Eine verfassunggebende Versammlung

Wenn nun also aus europapolitischen Gründen ein neues Grundgesetz unausweichlich ist, zugleich aber ein nationales Referendum ein ungeeigneter Weg dafür ist, bleibt vor allem eine Alternative: die Einberufung einer Nationalversammlung, die beispielsweise 2013 zusammen mit dem Bundestag gewählt werden könnte und dann das neue Grundgesetz verabschieden würde. Diese Möglichkeit entspräche der deutschen Verfassungstradition (die Paulskirchenverfassung von 1848, die Weimarer Verfassung von 1919 und das Grundgesetz von 1949 wurden ebenfalls von verfassunggebenden Versammlungen ausgearbeitet) und wurde auch von Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle als gangbarer Weg beschrieben.

Um einen möglichst breiten Konsens zu gewährleisten, sollten die Beschlüsse in einer solchen Nationalversammlung nur mit superqualifizierten Mehrheiten getroffen werden können: etwa drei Viertel oder vier Fünftel, was die Zustimmung mindestens der beiden großen und einer kleineren Partei erforderlich machen würde. Wenn sich die Parteien dann möglichst schon im Voraus darauf verständigen, die Änderungen am Grundgesetz auf die europapolitisch notwendigen Reformen zu begrenzen, könnte die Verfassungsgebung am Ende zu einem recht unspektakulären Ereignis werden – jedenfalls nicht spektakulärer, als es zuletzt die Verhandlungen über die Ratifikation des Fiskalpakts waren.

Wenn Referendum, dann europäisch

Aber was würde dann aus dem Wunsch nach einer breiten öffentlichen Debatte, die sich die Befürworter eines Referendums zu Recht erhoffen? Nun, die würde durch eine Verfassungsgebung qua Nationalversammlung natürlich nicht befördert. Aber über das neue Grundgesetz hinaus würde die Einrichtung einer echten europäischen Wirtschafts- und Fiskalunion ja auch eine Änderung der EU-Verträge notwendig machen. Und warum sollte man über eine so gravierende Reform der europäischen Finanzverfassung nicht ein gesamteuropäisches Referendum durchführen?

Eine solche EU-weite Volksabstimmung wurde bereits im Vorfeld des 2005 gescheiterten Verfassungsvertrags von verschiedenen Seiten vorgeschlagen – in Deutschland etwa von Grünen (EGP) und CSU (EVP), in Österreich von Bundespräsident Heinz Fischer (SPÖ/SPE) und Europaparlamentarier Othmar Karas (ÖVP/EVP). Eines der wichtigsten Hindernisse war damals das deutsche Grundgesetz, das eben keine Referenden auf höherer als regionaler Ebene vorsieht. Aber wenn man das Grundgesetz schon reformiert und europapolitisch öffnet, dann gäbe es auch die Möglichkeit, für die Zukunft gesamteuropäische Volksentscheide zu erlauben.

Für deren genaue Ausgestaltung gäbe es dann verschiedene Optionen. Wenn man auf nationale Sicherungsmechanismen nicht verzichten will, so könnte man als Bedingung für das Inkrafttreten der EU-Vertragsreform eine Abstimmungsmehrheit sowohl der europäischen Bevölkerung als auch der Mitgliedstaaten fordern. Und man könnte den Ländern, in denen die Mehrheit der nationalen Bevölkerung gegen die Vertragsreform gestimmt hat, die Möglichkeit zum Austritt aus der Union geben – etwa in Form einer Zusatzfrage zum Referendum.

Jedenfalls aber wäre ein gesamteuropäischer Volksentscheid mindestens ebenso demokratisch und ebenso gut zur Förderung der öffentlichen Debatte geeignet wie ein nationaler. Und anders als dieser würde er der Diskussion über genuin europäische Fragen wie die Fiskalunion nicht von vornherein ein nationales Framing verpassen, sondern es den europäischen Bürgern ermöglichen, sich auch politisch als solche zu erleben.

Bild: kruxmux [CC-BY-NC-2.0], via Flickr.

22 Juni 2012

Eine vertane Gelegenheit

Der deutsche Oppositionsführer Frank-Walter Steinmeier (SPD/SPE) konnte gestern keinen sehr überzeugenden Deal präsentieren.
Es kommt in diesen Zeiten, in denen die nationalen Regierungen die Steuerung der Anti-Krisen-Politik an sich reißen, nicht häufig vor, dass eine nationale Opposition bedeutenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Europäischen Union nehmen kann. In Deutschland bot sich der SPD (SPE) und den Grünen (EGP) diese Woche eine solche Chance: Da die Bundesregierung für die Ratifikation des Fiskalpakts und des Europäischen Stabilitätsmechanismus eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag benötigt, war sie auf die Zustimmung mindestens einer der Oppositionsparteien angewiesen. Dass diese die neuen Maßnahmen vollständig zum Scheitern bringen würden, galt dabei von Anfang an als ausgeschlossen – aber immerhin konnten sie Bedingungen stellen und damit für ein ausgewogeneres Krisenbekämpfungspaket sorgen. Nachdem gestern die Details des Kompromisses verkündet wurden, lässt sich sagen: Sie sind damit weitgehend gescheitert.

Keine Goldene Regel

Für jeden, der nicht an die allein seligmachende Wirkung des radikalen Sparens glaubt, ist der Fiskalpakt derzeit die größte Herausforderung der Europäischen Union. Nicht nur, dass er für sich allein keine Lösung der Euro-Krise bietet: Mit seiner strikten Schuldenbremse versucht er zudem der künftigen Wirtschaftspolitik aller Mitgliedstaaten eine austeritätspolitische Schlagseite zu geben, die auch mittel- und langfristig die öffentlichen Investitionen und damit das ökonomische Wachstum der Euro-Staaten abwürgen wird. Die Austeritätskritiker müssen deshalb nicht nur ein einmaliges Konjunkturprogramm, sondern eine verfassungspolitische Korrektur durchsetzen.

Die einfachste Art, diese austeritäre Schieflage des Fiskalpakts zu überwinden, bestünde in der Einführung der sogenannten Goldenen Regel, wie sie der italienische Ministerpräsident Mario Monti (parteilos) vor einiger Zeit vorgeschlagen hat: Demnach sollen nur staatliche Konsumausgaben auf Pump verboten werden, nicht aber öffentliche Investitionen. Diese Option, für die sich vor einigen Jahren auch der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ausgesprochen hat, würde eine unkontrollierte Entwicklung der Staatsdefizite verhindern, trotzdem aber Raum für notwendige staatliche Maßnahmen lassen. Zudem wäre sie wohl mit dem Wortlaut des Fiskalpakts vereinbar und damit ohne allzu großen rechtlichen Aufwand zu verwirklichen.

Wie Carsten Schneider, haushaltspolitischer Sprecher der Fraktion, auf seiner Webseite schreibt, war die SPD vor einigen Jahren, als die Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz beschlossen wurde, der Goldenen Regel gar nicht abgeneigt. In den Verhandlungen, die Bundesregierung und Opposition jetzt über den Fiskalpakt führten, kam dieser Lösungsansatz jedoch überhaupt nicht vor. Falls die deutsche Opposition das Ausmaß der austeritätspolitischen Schlagseite in der künftigen europäischen Finanzverfassung überhaupt erkannt hat, dann scheint sie jedenfalls nicht willens oder nicht fähig, etwas dagegen zu tun.

Kein Schuldentilgungsfonds

Wenn in den Verhandlungen das langfristige verfassungspolitische Problem keine Rolle spielte, dann war doch wenigstens zu hoffen, dass sie wenigstens eine überzeugende Lösung für die derzeitige Euro-Krise bieten würden. Tatsächlich traten SPD und Grüne mit einem Vorschlag hierfür an: dem Schuldentilgungsfonds, in dem die Euro-Länder einen Teil ihrer bestehenden Staatsschulden vergemeinschaften sollten. Dabei sollte jeder Mitgliedstaat seine in den Fonds ausgelagerten Schulden am Ende selbst abbezahlen – allerdings mit einem so langen Zeitplan, dass der akute Refinanzierungsdruck gelindert und das Vertrauen der Finanzmärkte wiederhergestellt würde.

Insgesamt also entspricht die Idee des Schuldentilgungsfonds einer Art „Eurobonds auf Zeit“. Sicherlich hat sie einige Schwächen: Zum einen würde der Fonds Spanien kaum nützen, dessen Schuldenproblem nicht im staatlichen, sondern im privaten Sektor liegt; zum anderen böte er keine dauerhaften Transfermechanismen, sodass die Währungsunion beim nächsten asymmetrischen Schock wieder in dieselbe Krise schlittern würde wie zuletzt. Immerhin jedoch bestehen gute Chancen, dass die aktuellen Probleme durch den Schuldentilgungsfonds eine gewisse Entlastung erfahren würden. Zusammen mit anderen Wachstumsmaßnahmen wäre er ein plausibler Schritt in Richtung Krisenlösung.

Bei den Verhandlungen mit der Regierung jedoch ließ die Opposition den Schuldentilgungsfonds zuletzt fallen. Auch wenn vor allem die Grünen sich zuvor sehr für die Idee stark gemacht hatten, setzte sich zuletzt die ablehnende Haltung der CDU/CSU (EVP) und FDP (ELDR) durch.

Aber immerhin eine Finanztransaktionssteuer

Was bei den Verhandlungen tatsächlich beschlossen wurde, war die Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer, also einer Abgabe auf jegliche Geschäfte mit Aktien, Anleihen, Devisen und anderen Finanzprodukten. Dass sich SPD und Grüne ausgerechnet hierauf versteiften, ist wohl kein Zufall: Schließlich handelt es sich dabei um die in Deutschland populärste Idee im Forderungskatalog der Opposition. Ihr einziger Nachteil liegt darin, dass niemand so recht sagen kann, wozu sie eigentlich gut sein soll.

Denn von den Befürwortern einer Finanztransaktionssteuer werden in der Regel zwei Argumente angeführt, die beide wenig überzeugend sind: Einerseits sollen dadurch die Banken als angebliche Hauptverursacher der Krise an den Kosten für ihre Bekämpfung beteiligt werden, andererseits soll durch die Verteuerung von Spekulationsgeschäften die Bildung wirtschaftlicher Blasen verhindert werden. Doch das erste dieser beiden Ziele wäre auch auf sehr viel effizientere Weise möglich gewesen: etwa indem man direkt die Steuern auf Bankengewinne erhöht – oder auch durch die vom Internationalen Währungsfonds befürwortete „Stabilitätsabgabe“, die nicht alle Bankgeschäfte gleich behandeln, sondern je nach deren Risikograd mehr oder weniger hoch ausfallen würde.

Was jedoch die Verhinderung einer wirtschaftlichen Überhitzung betrifft, so ist die Transaktionssteuer ebenfalls ein reichlich ungeeignetes Instrument: Sie verteuert zwar Finanzgeschäfte und bremst damit die ökonomische Dynamik, doch die großen Immobilienblasen, die am Anfang der jüngsten Finanzkrise standen, hätte sie mit Sicherheit nicht verhindert. Denn bis zu ihrem Platzen ermöglichte die Blase enorme Spekulationsgewinne im zwei-, teilweise dreistelligen Prozentbereich – und keine Bank hätte sich von diesen Geschäften von einer Transaktionssteuer in Höhe von 0,1 oder 0,01 Prozent, wie sie jetzt geplant ist, abhalten lassen.

Der einzige Bereich, auf den die Transaktionssteuer tatsächlich Auswirkungen haben könnte, ist deshalb der sogenannte Hochfrequenzhandel: computerbasierte Geschäfte, bei denen Gewinne durch sehr viele im Millisekundentakt getätigte Einzeltransaktionen mit jeweils niedrigen Margen erzielt werden. Auch wenn die ökonomische Theorie seine genauen Auswirkungen noch nicht durchdrungen hat, gilt dieser automatisierte Handel gemeinhin als destabilisierender Faktor auf dem Finanzmarkt, und es ist wohl richtig, ihn durch die Transaktionssteuer einzudämmen.

Nur hat das nichts mit den Ursachen der Euro-Krise zu tun und bietet auch keinerlei Ansatz zu ihrer Überwindung. Was die Finanztransaktionssteuer und den Fiskalpakt thematisch miteinander verbindet, ist, dass es in beiden Fällen um Geld geht. Aber viel mehr dann auch nicht.

Alles bleibt dem Europäischen Rat überlassen

Hat die deutsche Opposition also versagt? Wenn man freundlich zu ihr sein will, dann kann man vielleicht sagen, dass sie ihr Bestes gegeben hat. Auf jeden Fall aber hat sie sich in den Verhandlungen mit der Bundesregierung von einer sehr nationalen Logik leiten lassen und sich mehr auf diejenigen Vorschläge konzentriert, die bei der deutschen Wählerschaft gut ankommen – nicht auf diejenigen, die tatsächlich erforderlich wären, um die Euro-Krise zu überwinden und eine austeritäre Schieflage der europäischen Finanzverfassung zu verhindern.

Dennoch bedeutet das natürlich nicht, dass diese Ideen nun gescheitert wären. Am Ende muss die Einigung darüber ohnehin auf gesamteuropäischer Ebene erzielt werden: das heißt im Europäischen Rat, der sich in einer Woche zu seinem nächsten regulären Gipfel versammeln wird. Sowohl die Europäische Kommission als auch die Regierungschefs von Frankreich, Spanien und Italien werden dort auf entschlossene Schritte zur Krisenbekämpfung pochen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Goldene Regel oder der Schuldentilgungsfonds zuletzt doch noch beschlossen werden. Auf nationaler Ebene aber haben SPD und Grüne der sparwütigen Bundesregierung erst einmal den Rücken gestärkt und damit eine hervorragende Gelegenheit verpasst, ihren eigenen Beitrag zu einer dauerhaften Krisenlösung zu leisten.

Und die Linke geht nach Karlsruhe

Die Krone aber setzte dem Fass die dritte deutsche Oppositionspartei auf: die Linke (EL), die sich gar nicht erst auf Verhandlungen einließ und im Bundestag als Einzige geschlossen gegen Fiskalpakt und Stabilitätsmechanismus stimmen wird. Kaum war die Einigung zwischen den übrigen Parteien bekannt geworden, kündigte sie eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an. Doch während einiges an der inhaltlichen Kritik, die die Linke gegen den Fiskalpakt vorbringt, durchaus berechtigt ist, suchte sie sich für die Verfassungsklage das schlechteste aller möglichen Argumente aus: Wie Wolfgang Nešković, der Justiziar der Fraktion, erklärte, würde durch den Fiskalpakt und den ESM die Budgethoheit des Bundestags delegiert – und die deutsche Politik damit zukünftig „fremdbestimmt“.

Nun ist es allgemein bekannt, dass man in Karlsruhe kaum mit ökonomischen Argumenten, dafür aber seit einiger Zeit recht gut mit dem Schlagwort der nationalen Souveränität punkten kann. Aber, liebe Linke: „fremdbestimmt“? Und das von einer Partei, die für sich in Anspruch nimmt, der politischen Strömung anzugehören, die im 19. Jahrhundert den Internationalismus erfunden hat? Wann endlich werden wir uns daran gewöhnt haben, dass Brüssel nicht die Hauptstadt eines fernen Imperiums ist und dass wir für das europäische Recht selbst verantwortlich sind – als Bürger der Europäischen Union und vertreten durch unsere europäischen und nationalen Abgeordneten?

Die letzten beiden Tage jedenfalls waren keine Sternstunde der deutschen Europapolitik. Hoffen wir, dass die nächste Woche besser wird.

Bild: By Kuebi = Armin Kübelbeck [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

13 Juni 2012

Die Schengen-Reform und das Wesen der Europäischen Union

Eigentlich ist es doch ganz nett, dass man an der Grenze zwischen Bayern und Hessen keinen Pass mehr braucht.
Bei der Schengen-Reform liegen die Nerven blank. Inzwischen scheint es fast unmöglich zu sein, sich nüchtern Gedanken darüber zu machen, wie die EU-Mitgliedstaaten am besten ihre gemeinsamen Außengrenzen sichern können und in welchen spezifischen Ausnahmefällen der freie Personenverkehr innerhalb Europas eingeschränkt werden sollte. Stattdessen entwickelt sich die Frage zum symbolträchtigen Kräfteringen um das Wesen der EU selbst: Sind wir eine Union von Staaten, von denen letztlich jeder selbst für seine Sicherheit verantwortlich ist – oder sind wir eine Union von europäischen Bürgern, die sich gemeinsam um ihre gemeinsame Innenpolitik kümmern?

Institutionell wird dieser Konflikt zwischen dem Rat der nationalen Innenminister und dem Europäischen Parlament ausgetragen. Letzter Höhepunkt war die gestrige Parlamentsdebatte (Video), wo unter anderem der liberale Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt (Open-VLD/ELDR) vorschlug, die derzeitige dänische Ratspräsidentschaft (die allerdings bereits in zwei Wochen endet) in allen innenpolitischen Fragen zu boykottieren. Außerdem wird es eine Klage des Parlaments vor dem Europäischen Gerichtshof geben. Es ist viel von Misstrauen die Rede – und es ist offensichtlich, dass der Streit auch in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen wird.

Die Hintergründe

Worum es bei dem Konflikt konkret geht, habe ich hier und hier bereits ausführlicher dargestellt. Kurz gefasst zeigten sich 2011 einige Probleme des Schengen-Systems, durch das Personenkontrollen an innereuropäischen Grenzen abgeschafft wurden: Einerseits zeigte sich, wie missbrauchsanfällig das derzeitige Ausnahmeregelungssystem ist, bei dem es keine klaren Vorschriften gibt, unter welchen außergewöhnlichen Umständen Mitgliedstaaten vorübergehend doch wieder Grenzkontrollen einrichten können. Andererseits wurde offensichtlich, dass einige EU-Randstaaten (etwa Griechenland und Italien) mit der Sicherung der Schengen-Außengrenzen überfordert sind, sodass einige EU-Binnenstaaten (etwa Deutschland und Frankreich) einen Zustrom illegaler Einwanderer befürchten.

Infolgedessen präsentierte die Europäische Kommission einige Reformvorschläge, in deren Mittelpunkt eine Überarbeitung des sogenannten Schengener Grenzkodex steht (hier die derzeitige und die vorgeschlagene Version). Darin werden die Ausnahmeregelungen genauer gefasst und unter anderem ein neuer Punkt eingeführt, der die „Auswirkungen schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen“ als Argument zur Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen zulässt. Wenn also, so die Grundidee, Italien außerstande ist, seine Außengrenzen vor illegalen Einwanderern aus Afrika zu schützen, dann sollen künftig Österreich und Frankreich ihrerseits die Grenze zu Italien schließen dürfen.

Umstritten an der Reform war zunächst vor allem die Frage, wer in einem konkreten Fall darüber entscheidet, ob ein solcher Ausnahmetatbestand gegeben ist oder nicht. Um Missbrauch einzelner Mitgliedstaaten zu vermeiden, schrieb die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag vor allem sich selbst eine zentrale Rolle zu. Dies wurde Ende April von Deutschland und Frankreich zurückgewiesen, die den Mitgliedstaaten mehr Entscheidungsfreiheit lassen wollen. Diese Woche nun schloss sich der Innenministerrat der deutsch-französischen Position an. Allerdings ist zweifelhaft, ob er damit durchkommen wird: Nach Art. 77 AEU-Vertrag fällt der Schengener Grenzkodex unter das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, bei dem der Rat und das Europäische Parlament zu einer gemeinsamen Position finden müssen; und da das Parlament in dieser Frage klar auf Seiten der Kommission steht, wird es entweder einen Kompromiss geben – oder die Reform wird gänzlich scheitern.

Schengener Evaluierungsmechanismus

Der eigentliche Aufreger von dieser Woche war jedoch ein anderer Punkt: Der Reformvorschlag der Kommission betrifft nämlich nicht nur den Schengener Grenzkodex, sondern auch den sogenannten Schengener Evaluierungsmechanismus (Wortlaut). Dabei handelt es sich um einen neuen eigenständigen Rechtsakt, der ein Verfahren einführt, mit dem überprüft werden soll, ob die Mitgliedstaaten ihre Schengener Verpflichtungen einhalten – darunter auch die Kontrolle der EU-Außengrenzen. Die Feststellung schwerwiegender Mängel im Rahmen dieses Evaluierungsverfahrens ist Bedingung dafür, dass die Ausnahmeregelungen des Grenzkodex greifen können. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Nur wenn durch den Evaluierungsmechanismus festgestellt wird, dass Italien den Flüchtlingsstrom nicht unter Kontrolle hat, darf Frankreich seine Grenze zu Italien schließen.

Was nun die heftigen Proteste im Europäischen Parlament auslöste, war, dass der Rat die Rechtsgrundlage dieses Evaluierungsmechanismus änderte. Für die Kommission stellt der Evaluierungsmechanismus einen Bestandteil des Schengen-Systems dar, der also wie der Grenzkodex unter Art. 77 AEU-Vertrag fällt. Der Rat jedoch beschloss, den Evaluierungsmechanismus stattdessen auf Art. 70 AEU-Vertrag zu stützen, in dem der Rat ermächtigt wird, Maßnahmen zur „Bewertung der Durchführung der [EU-Innenpolitik] durch die Behörden der Mitgliedstaaten“ zu beschließen.

Diese Änderung der Rechtsgrundlage hat auf den Inhalt des Evaluierungsmechanismus zunächst einmal keine Auswirkungen: Die Durchführung der Evaluierung sollte schon nach dem Kommissionsvorschlag durch einen speziellen Ausschuss mit Beamten aller Mitgliedstaaten erfolgen, der dann das Europäische Parlament nur über die Ergebnisse informiert. Der Unterschied liegt im Verfahren, mit dem der Evaluierungsmechanismus gegebenenfalls in Zukunft geändert werden könnte: Während für Entscheidungen nach Artikel 77 das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt, beschließt der Rat Maßnahmen nach Artikel 70 allein.

Technisches Detail oder Provokation?

Für den Beschluss des Rates gibt es deshalb zwei unterschiedliche Interpretationen. Der dänische Justizminister Morten Bødskov (S/SPE) etwa beteuerte im Europäischen Parlament, es handle sich nur um eine ganz „unpolitische“ Entscheidung: Da es im Evaluierungsmechanismus nun einmal darum gehe, die Durchführung von EU-Innenpolitik durch die Mitgliedstaaten zu bewerten, sei Artikel 70 rechtlich angebracht. Zu derselben Ansicht kam bereits Ende Januar übrigens auch das European Policy Centre, ein europäischer Thinktank, der allerdings dem Rat nahelegte, einen breiteren Kompromiss mit dem Parlament zu suchen.

Aus Sicht der meisten Europaabgeordneten dagegen handelt es sich bei dem Ratsbeschluss schlicht um eine unnötige Provokation; und auch die Innenkommissarin Cecilia Malmström (Mod./EVP), die für den ursprünglichen Kommissionsentwurf verantwortlich zeichnet, schloss sich dem Ärger der Parlamentarier an. Denn aus der Sicht der supranationalen Institutionen erscheint es nicht nur logisch, dass alle Schengen-Rechtsakte auf derselben Rechtsgrundlage, eben Artikel 77, erfolgen. Vor allem reagieren sie auf die indirekte Botschaft der Ratsentscheidung: nämlich dass die Innenminister entschlossen sind, die Kontrolle über das Schengen-System so weit wie möglich selbst zu behalten – und Kommission und Parlament aus den Entscheidungen herauszuhalten.

Institutionelle Logiken

Und dies ist der Punkt, an dem die Emotionen aufkochen und der Konflikt zwischen den Organen zu einem Konflikt über das Selbstverständnis der Europäischen Union insgesamt wird. Der Rat und das Parlament folgen dabei jeweils ihrer eigenen institutionellen Logik: Für die nationalen Innenminister geht es darum, den Wähler in ihrem jeweils eigenen Land das Gefühl von staatlichem Schutz zu geben – wenn nötig, auch durch die Wiedereinführung von Kontrollen an den nationalen Grenzen. Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU/EVP) brachte das kürzlich zum Ausdruck: „Das Letztentscheidungsrecht bleibt natürlich bei den Mitgliedstaaten, denn wir sind verantwortlich für die Sicherheit unserer Bürger.“

Das Parlament dagegen versteht sich als Vertretung aller europäischen Bürger und betont deren Recht auf ungestörte Reisefreiheit im ganzen Schengen-Raum. So erklärte die grüne Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms (Grüne/EGP), das nationale Entscheidungsrecht über die Wiedereinführung von Binnengrenzen sei „absurd, da ja Schengen von seiner Idee her übernational konzipiert ist und daher auch die Entscheidungen auf EU-Ebene […] getroffen werden sollten“. Und wenn einzelne Staaten mit der Sicherung der Außengrenzen überfordert sind, dann ist die Lösung aus Sicht von Parlament und Kommission eben nicht, die Binnengrenzen zu schließen – sondern eine weitere Supranationalisierung der Einwanderungs- und Grenzschutzpolitik. In den Worten der Abgeordneten Birgit Sippel (SPD/SPE): „Migration ist keine nationale Bedrohung, sondern eine Herausforderung, die einen gemeinsamen Ansatz und Solidarität auf EU-Ebene erfordert.“

Nationale oder europäische Innenpolitik?

Was also ist das Wesen der Europäischen Union? Bleiben wir eine Gemeinschaft von Staaten, die sich in guten Zeiten vertrauen und bereit sind, den Kontakt zwischen ihren jeweiligen Staatsbürgern zu erleichtern – die aber für schlechte Zeiten die Möglichkeit behalten wollen, sich auf sich selbst zurückzuziehen, die Solidarität mit den Nachbarn zu kappen und ihre Grenzen wieder hochzuziehen? Oder sind wir eine Gemeinschaft von Bürgern geworden, die ein gemeinsames europäisches Interesse daran haben, sich frei in Europa zu bewegen – und deshalb auch bereit sind, den Schutz der Außengrenzen und der inneren Sicherheit gemeinsamen europäischen Institutionen anzuvertrauen? Für die nationalen Minister bezieht sich das Wort „Innenpolitik“ auf das Innere ihres jeweiligen Staates. Für die europäischen Bürger aber, die sich als solche verstehen, braucht es in ganz Europa kein Außen mehr zu geben.

Bild: von Kontrollstellekundl (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

07 Juni 2012

Die Sache mit der Bankenunion

Vielleicht gelingt es Michel Barnier ja doch noch, Angela Merkel zu überzeugen.
Seit ein paar Tagen ist das Europa-Vokabular um einen neuen Begriff reicher geworden. Die EU, so wissen wir jetzt, muss nicht nur eine Wirtschafts-, Währungs- und politische Union sein, sondern auch eine „Bankenunion“. Gemeint ist damit im Wesentlichen eine gemeinsame Bankenaufsicht (die es bislang nur in Ansätzen gibt) plus ein gemeinsamer Einlagensicherungsfonds. Die Europäische Kommission hat gerade einige vorsichtige Vorschläge dafür präsentiert.

In Deutschland stößt das alles auf wenig Begeisterung: Der Bundesverband deutscher Banken nennt die gemeinsame Einlagensicherung einen „Irrweg“, die Bundesbank spielt bei der Abgabe von Kompetenzen an die Europäische Bankaufsichtsbehörde auf Zeit. Aber der eigentliche Skandal ist, dass die Pläne nicht noch deutlich weitergehen. Denn in einem gemeinsamen Binnenmarkt mit freiem Kapitalverkehr verzerren nationale Bankensysteme den grenzüberschreitenden Wettbewerb.

Die Einlagensicherung ist ein Wettbewerbsfaktor

Zweck eines Einlagensicherungssystems ist es zunächst, Bankkunden zu schützen. Damit bei einer Bankenpleite nicht auch all die Kleinsparer in den Ruin gestürzt werden, die dort ihr Vermögen angelegt haben, gibt es in jedem Land Fonds, die diese Einlagen bis zu einer bestimmen Höhe garantieren (nach der bisherigen EU-Richtlinie mindestens 100.000 Euro, wobei einzelne Länder darüber hinausgehen). Zugleich stabilisiert der Fonds damit aber auch das Bankensystem insgesamt: Wenn Kunden fürchten müssten, dass bei einer Pleite auch ihre Ersparnisse verloren sind, würden sie sehr viel nervöser auf schlechte Nachrichten über die Bonität ihrer jeweiligen Banken reagieren. Sobald das Gerücht umgeht, dass eine Bank möglicherweise Konkurs anmelden muss, würde jeder, der dort sein Vermögen angelegt hat, das Geld sofort abheben und zu einem sichereren Institut bringen. Das aber würde die gefährdete Bank erst recht in den Abgrund stoßen – selbst wenn der Konkurs vielleicht noch abwendbar gewesen wäre. Durch die Einlagensicherungsfonds werden solche Effekte verhindert und damit Bankenpleiten, die gravierende Auswirkungen auf die Volkswirtschaft insgesamt haben können, in der Regel schon im Voraus abgewendet.

Da die Einlagensicherungsfonds mit dem Geld der Banken selbst finanziert werden, müssen diese per Gesetz zu einer Beteiligung daran gezwungen werden und sind darüber in normalen Zeiten nicht allzu begeistert. In einer Finanzkrise, in der viele Institute mit Liquiditätsproblemen kämpfen, ändert sich das jedoch: Zu einer soliden Einlagensicherung zu gehören, wird für die Bank dann plötzlich zum Wettbewerbsvorteil, da es das Vertrauen der Anleger stärkt. Die Stabilität eines Einlagensicherungssystems hängt dabei insbesondere auch von der Zahl seiner Mitglieder ab: Je mehr Banken einander stützen, auf desto mehr Schultern wird das Risiko einer Pleite verteilt. Bei einem System nationaler Einlagensicherungssysteme haben Banken aus großen Mitgliedstaaten (bzw. aus Staaten mit vielen anderen Banken) deshalb einen strukturellen Vorteil gegenüber dem Rest.

Wettbewerbsverzerrung in der Krise

Diese Wettbewerbsverzerrung mag im Alltag nicht ständig sichtbar sein, da große Bankenkrisen ohnehin recht selten vorkommen. Es ist jedoch keine vier Jahre her, dass die Eurozone diese Effekte geradezu lehrbuchartig beobachten konnte – nämlich im Zuge der Panik, die auf die Lehman-Pleite im September 2008 folgte. Da die irischen Finanzinstitute damals als besonders gefährdet galten, kündete die irische Regierung an, sie werde zwei Jahre lang für sämtliche Einlagen bei den großen Banken des Landes einstehen. Diese Maßnahme bedeutete eine massive Verstärkung des nationalen Sicherungssystems: Die Einlagen der irischen Banken waren nun nicht mehr nur durch die anderen irischen Banken, sondern auch durch den irischen Steuerzahler garantiert. Das verschaffte ihnen einen plötzlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihrer europäischen Konkurrenz, und für vier Tage sah es so aus, als hätte Irland sein Problem unter Kontrolle. Dann aber reagierte die deutsche Bundesregierung mit einer ebensolchen Ankündigung für die deutschen Banken. Und weil die Einlagen in Irland nun nur durch die Steuern der 4,5 Millionen Iren, die in Deutschland aber durch die der 80 Millionen Deutschen garantiert wurden, drehte sich der Wettbewerbsvorteil plötzlich um: In den folgenden Monaten setzte eine Kapitalflucht aus Irland (und den südeuropäischen Ländern) in Richtung Deutschland ein, und weil die irische Regierung nun mit der Bankenrettung Ernst machen musste, verwandelte sich die Finanzkrise in ein Staatsschuldenproblem. Die Folgen sind bekannt.

Inzwischen sind die Rettungsschirme von 2008 längst wieder zusammengefaltet, aber das Problem bleibt erhalten. Derzeit ist es insbesondere Spanien, dessen Bankensektor so angeschlagen ist, dass die bestehenden nationalen Sicherungssysteme schlicht nicht ausreichen, um das Vertrauen der Anleger wiederherzustellen. Die aktuelle Debatte wurde dann auch durch die drohende Pleite des Instituts Bankia ausgelöst, das vom spanischen Staat mit zweistelligen Milliardenbeträgen gerettet werden musste – und damit dessen eigene Liquidität in Bedrohung brachte.

Nun wird für dieses akute Problem jeder Plan einer europäischen „Bankenunion“ zu spät kommen (sodass darüber nachgedacht wird, vorläufig den bestehenden Rettungsschirm EFSF umzufunktionieren). Dass die Euro-Staaten bis heute Probleme mit ihren Banken haben, macht aber offensichtlich, dass in einem integrierten Binnenmarkt mit freiem Kapitalverkehr die Sicherungsmechanismen nicht rein national sein dürfen. Andernfalls wird in jeder ernsten Finanzkrise eine Kapitalflucht aus den schwächeren in die stärkeren Länder stattfinden – nicht weil die Banken dort besser gewirtschaftet hätten, sondern einfach weil sie durch das dichtere Sicherungsnetz geschützt sind. Das aber hat denselben Effekt wie ein nationales Kartell und verstößt damit gegen das Prinzip des freien grenzüberschreitenden Wettbewerbs.

Der Kommissionsvorschlag und seine Gegner

Der zuletzt vorgestellte Vorschlag von Binnenmarktkommissar Michel Barnier (UMP/EVP) bietet einige sehr vorsichtige Lösungsansätze für diese Probleme. Erstens soll es in Zukunft keine staatlichen Hilfen für Banken mehr geben, sondern Krisenfonds, die von den Banken selbst finanziert werden und mit denen konkursgefährdete Institute notfalls saniert oder abgewickelt werden. Zweitens sollen die nationalen Einlagensicherungssysteme vereinheitlicht werden, um in der Krise „Sicherungswettläufe“ zu verhindern (allerdings haben die deutschen Sparkassen für sich einige Ausnahmen durchgedrückt). Und drittens sollten, so der ursprüngliche Plan, die verschiedenen nationalen Einlagensicherungs- und Abwicklungsfonds europaweit miteinander verbunden werden – sodass im Notfall die deutschen Banken nicht nur füreinander, sondern auch für die Banken in Irland, Spanien oder Italien einspringen sollten.

Es ist kaum verwunderlich, dass der deutsche Bankenverband sich über diese Idee nicht besonders freute. Wer verzichtet schon gern auf die Vorteile eines nationalen Kartells? Als einigermaßen plausibles Argument führt der Verband deshalb an, dass die Bankenaufsicht weiterhin hauptsächlich national erfolgt: Da die Pleite einer Bank auch durch ein Versagen der nationalen Aufsichtsbehörden verschuldet sein könnte, dürfe man ihre Kosten nicht gesamteuropäisch verteilen. Die logische Schlussfolgerung wäre deshalb eigentlich eine Kompetenzstärkung der europäischen Bankenaufsicht, wie sie erst kürzlich von EZB-Chef Mario Draghi gefordert wurde. Das aber ginge natürlich mit einer Schwächung der nationalen Kontrollbehörden einher, weshalb die deutsche Bundesbank alle möglichen technischen Vorbehalte vorbringt und ein einheitliches Aufsichtssystem erst „am Ende eines langen Weges“ sehen will.

Und die deutsche Bundesregierung? Nun, die tat, was ihre nationale Bankenlobby von ihr erwartete, und machte sich erfolgreich daran, die Vorschläge der Kommission abzuschwächen. Nicht zuletzt deshalb blieb der Barnier-Plan an einer entscheidenden Stelle unvollständig: Die Einlagensicherungsfonds werden auch künftig rein national bleiben. Und für die neuen nationalen Abwicklungsfonds soll es lediglich eine Klausel geben, die sie in Notfällen zu wechselseitigen Krediten verpflichtet, wobei auch das noch im Ministerrat gestrichen werden könnte. Selbst Optimisten sprechen deshalb allenfalls von dem „Embryo“ eines gemeinsamen europäischen Systems. Die pessimistische taz sagt es kürzer: „Die viel beschworene Bankenunion bleibt außen vor.“

Fazit

In der Euro-Krise gibt es viele Fragen, über die man unterschiedlicher Meinung sein kann. Eurobonds zum Beispiel haben Vor- und Nachteile, der Fiskalpakt hat Vor- und Nachteile, und sogar ein griechischer Austritt aus der Währungsunion hat (wenige) Vor- und (viele) Nachteile. Eine starke europäische Bankenaufsicht und ein gemeinsames Einlagensicherungssystem dagegen sollten in einem Binnenmarkt mit freiem Kapitalverkehr eine Selbstverständlichkeit sein – etwas, worum man sich schon vor Jahren hätte kümmern müssen. Sollte Deutschland sich hier schon wieder auf die Bremse stellen, dann gäbe es dafür wohl vor allem einen Grund: dass es weiterhin die Gewinne abschöpfen will, die seine Banken in der Krise aus der Wettbewerbsverzerrung ziehen. Ein solcher nationaler Protektionismus aber wäre jenseits von allem, was europapolitisch noch akzeptabel ist.

Wollen wir hoffen, dass von dem Gipfel des Europäischen Rates in drei Wochen ein anderes Signal ausgeht!

Bild: By European People's Party (EPP Congress Warsaw) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

03 Juni 2012

Eurobonds und Fiskalpakt: Die europäische Simulation einer Fiskalunion

Europäischer Ententest: Wenn es aussieht wie eine Fiskalunion, schwimmt wie eine Fiskalunion und schnattert wie eine Fiskalunion...
Vor einer Woche habe ich an dieser Stelle einen Plan beschrieben, von dem ich denke, dass er einige der drängendsten Probleme der europäischen Währungsunion lösen könnte: Eurobonds, um die Schuldenkrise zu überwinden und den Krisenstaaten wieder Zugang zu bezahlbaren Krediten zu verschaffen. Der Fiskalpakt, um zu vermeiden, dass die Eurobonds zu Moral Hazard führen, also dem Anreiz, immer mehr öffentliche Kredite aufzunehmen und dann die Haftung auf die anderen Mitgliedstaaten abzuwälzen. Und eine Goldene Regel, die trotz Schuldenbremse staatliche Investitionen in wenigstens manche Branchen gestattet, um die Konjunktur nicht vollständig abzuwürgen und eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft zu ermöglichen.

Dieses Modell könnte funktionieren. Aber natürlich wäre es, wie so oft in der europäischen Politik, eine ausgefeilte Kombination von ineinander greifenden Regeln, die zuletzt kaum noch jemand ganz verstehen würde. Deshalb sollte man nicht vergessen, dass es auch eine einfache Alternative dazu gibt – nämlich die Einrichtung einer echten Fiskalunion, mit einem EU-Haushalt, der so groß wäre, dass daraus ein wesentlicher Teil der europäischen öffentlichen Ausgaben bestritten werden könnte.

Eine gemeinsame Währung verlangt eine Fiskalunion

Die Bedingungen, unter denen eine gemeinsame Währung funktionieren kann, werden in der Wirtschaftswissenschaft seit Jahrzehnten diskutiert (für einen Überblick über die „Theorie optimaler Währungsräume“ siehe hier). Eines der wichtigsten Probleme ist dabei die Anfälligkeit einer Währungsunion für asymmetrische Schocks, also unvorhergesehene ökonomische Ereignisse, die bestimmten Ländern stärker schaden als anderen. Bei Staaten mit unterschiedlicher Währung werden solche asymmetrischen Schocks durch die Wechselkurse absorbiert: Die Währung des härter getroffenen Staates wertet ab, was seine Importe verteuert und Exporte verbilligt, daher seine Konjunktur anregt und die Wirtschaft ins Gleichgewicht zurückbringt. In einer Währungsunion funktioniert dieser Mechanismus nicht, sodass andere Mittel notwendig sind.

Eines dieser Mittel ist, wie der Ökonom Peter Kenen 1969 beschrieb, die fiskalische Integration: Ein gemeinsamer öffentlicher Haushalt, also ein gemeinsames Steuer- und Sozialsystem, wirkt als automatischer Stabilisator und kann deshalb asymmetrische Schocks auffangen. Auf nationaler Ebene lässt sich das regelmäßig beobachten: Gerät eine Region stärker in die Krise als andere, so steigen dort die Sozialausgaben (etwa die Arbeitslosenhilfe), während zugleich die Steuereinnahmen sinken. Da Steuern und Sozialausgaben aber aus einem gesamtstaatlichen Haushalt finanziert werden, kommt es zu einem Finanztransfer von den stabileren zu den schwächeren Regionen. Dies wiederum belebt die Konjunktur der Krisenregionen und sorgt so für eine Wiederherstellung des Gleichgewichts.

Der Unterschied zu den USA

In der jüngsten Wirtschaftskrise wurden deshalb immer wieder Vergleiche zwischen der Eurozone und anderen, nationalen Währungsunionen gezogen: etwa zwischen Griechenland und Wales oder zwischen Spanien und Florida. Tatsächlich geht derzeit niemand davon aus, dass das Pfund oder der Dollar in nächster Zeit zerbrechen könnte – obwohl Wales und Florida von Art und Ausmaß her teilweise ganz ähnlich Probleme haben wie die südeuropäischen Länder. Der Unterschied aber ist, dass sowohl Großbritannien als auch die USA eine Fiskalunion sind: Beide verfügen über große, nationale Haushalte, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen ausbalancieren können.

In der Eurozone dagegen gibt es keinen großen gemeinsamen Haushalt; das Budget der Europäischen Union beträgt kaum mehr als ein Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts. Im Haushaltsplan 2010 verfügte die EU insgesamt über rund 140 Milliarden Euro, während sich der Etat allein der Bundesrepublik Deutschland, deren Einwohnerzahl weniger als ein Sechstel davon beträgt, auf fast 320 Milliarden Euro belief. Entsprechend fallen auch die europäischen Transfermechanismen (im Wesentlichen die Strukturfonds) relativ bescheiden aus und sind nicht in der Lage, plötzliche asymmetrische Schocks zu absorbieren. Die wichtigsten automatischen Stabilisatoren – progressive Einkommensteuer und Sozialsystem – gibt es ohnehin nur auf nationaler Ebene, nicht für die Eurozone insgesamt.

Vorteile eines gemeinsamen Budgets

Doch nicht nur die ausbleibenden Transfers sind ein Problem; die fehlende Fiskalunion schafft noch eine Reihe weiterer Schwierigkeiten. So gibt es in einer Fiskalunion wie den USA jeweils nur einen relevanten Zinssatz für Staatsanleihen, nämlich den der Zentralregierung. Kommt es nun zu einem asymmetrischen Schock, der einzelne Gliedstaaten hart trifft, so mag dieser Zins vorübergehend ansteigen. Im Wesentlichen jedoch bleibt er stabil, da für die Kreditwürdigkeit der Zentralregierung die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der USA insgesamt entscheidend ist – also einschließlich der wirtschaftlich stabilen Regionen. Anders die Eurozone: Da Irland und die südeuropäischen Staaten von der Finanzkrise 2008 härter getroffen wurden als der Rest, fürchteten die Investoren einen Staatsbankrott dieser Länder. Während die Zinsen auf deutsche Staatsanleihen in den Keller gingen, stiegen die Risikoaufschläge für Irland, Spanien und Italien rapide an, und es kam zur großen Schuldenkrise.

Zugleich stellt sich bei einem gemeinsamen Budget das Problem des Moral Hazard nicht: Der einzige relevante Haushalt einer Fiskalunion ist derjenige des Zentralstaats, und die Höhe der Staatsverschuldung wird durch die Politik des gemeinsam gewählten Parlaments bestimmt. Von dem Problem der Generationengerechtigkeit abgesehen kann es deshalb nicht zu der Situation kommen, dass einer Schulden macht, die ein anderer bezahlen muss: Für Einnahmen wie Ausgaben ist jeweils die Gesamtbevölkerung verantwortlich.

Und schließlich erfolgen in einer Fiskalunion auch die wichtigsten staatlichen Investitionen aus dem gemeinsamen Haushalt, sodass die Zentralregierung eine einheitliche, kohärente Wirtschaftspolitik führen kann. In der Eurozone dagegen betreibt bislang jeder Staat seine Investitionen aus dem eigenen nationalen Etat und nach den eigenen nationalen Vorstellungen. Das aber erhöht die Anfälligkeit für asymmetrische Schocks, da die Widerstandsfähigkeit der Staaten gegenüber bestimmten Ereignissen auch davon abhängig ist, auf welche Branchen sie jeweils gesetzt haben. Dass Spanien von der Immobilienkrise so viel härter getroffen wurde als Deutschland, liegt eben auch daran, dass dort viel mehr in den Bausektor und viel weniger in Forschung und Entwicklung investiert wurde.

Eurobonds & Co. sollen die Erhöhung des EU-Etats ersetzen

Mit einer echten Fiskalunion – die Bündelung der vielen nationalen Etats in einem gemeinsamen europäischen Budget – wären die meisten der Probleme, an denen die Eurozone derzeit leidet, also gar nicht erst aufgetreten. Dennoch weigern sich die europäischen Regierungen nach wie vor, den Haushalt der EU zu erhöhen; selbst die recht bescheidenen Wünsche der Kommission und des Europäischen Parlaments stoßen auf heftigen Widerstand der Mitgliedstaaten. Das hat teilweise machtpolitische Motive (natürlich wollen die Regierungen auch künftig lieber selbst Millionen verteilen, als sie der Kommission zu überlassen), teilweise auch verfassungsrechtliche (dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zufolge wäre die deutsche „Verfassungsidentität“ verletzt, „wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde“). Und das ist der einzige Grund, weshalb wir uns überhaupt Gedanken über Eurobonds, Fiskalpakt & Co. machen müssen.

Denn letztlich läuft das Konstrukt, das ich oben beschrieben habe, auf die Simulation einer Fiskalunion hinaus: auf den Versuch, die Effekte einer Fiskalunion zu erzielen, ohne wirklich ein ausreichendes EU-Budget einzurichten. In einer Fiskalunion gibt es einen einheitlichen Zinssatz auf Staatsanleihen, sodass ein asymmetrischer Schock nicht zu einer Schuldenkrise führt? Auch Eurobonds garantieren einen gemeinsamen Zinssatz! In einer Fiskalunion wird die Höhe der Staatsverschuldung von der Bevölkerung gemeinsam festgelegt? Der Fiskalpakt schafft ebenfalls ein einheitliches Defizit! In einer Fiskalunion gibt es eine kohärente Investitionspolitik? Wenn wir die Goldene Regel jeweils nur für bestimmte, von der Kommission festzulegende Branchen anwenden, dann können wir auch in Europa die Richtung der öffentlichen Investitionen künftig zentral steuern!

Wie gesagt: Das könnte funktionieren. Womöglich übersehen wir auch etwas – irgendeinen positiven Effekt eines gemeinsamen Haushalts, der sich in unserer europäischen Simulation nicht wiederfindet – und lösen damit die nächste große Krise aus. Aber immerhin würde niemand sagen können, wir hätten keinen juristischen und politischen Innovationsgeist gezeigt. Mit einem gewaltigen Aufwand an Kreativität hätten wir die erste Fiskalunion ohne ein gemeinsames Budget geschaffen, zusammengezurrt aus zwei, drei, vier verschiedenen Verträgen und einer Vielzahl von Verordnungen, Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Jeder leidenschaftliche Technokrat wird das lieben.

Aber wäre es nicht vielleicht am Ende doch etwas einfacher, allgemeinverständlicher und, nun ja, demokratischer, wenn wir stattdessen den direkten Weg gehen und die Europäische Union so bald wie möglich mit einem angemessenen Budget ausstatten?

PS

Nur damit es keine Missverständnisse gibt: In der Rhetorik der deutschen Bundesregierung wird das Wort „Fiskalunion“ seit einiger Zeit synonym mit dem Fiskalpakt gebraucht – ganz als ob man die Effekte eines gemeinsamen Haushalts schon allein durch eine allgemeine Schuldenbremse erreichen könnte. Dass das nicht funktionieren wird, ist ziemlich offensichtlich. Ohne wenigstens indirekte Mechanismen zur Abfederung asymmetrischer Schocks, etwa in Form von Eurobonds, wird es immer wieder zu Krisen wie der jetzigen kommen können. Oder, um es in den Worten von Kevin O'Rourke zu sagen:
Describing this as a “fiscal union,” as some have done, constitutes a near-Orwellian abuse of language.

Bild: By Fizykaa (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.