29 Mai 2013

Die globalen Parteien und ihre Rolle in der Weltpolitik

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (nicht im Bild) wollte auch mal eine Internationale gründen.
Als im Dezember 2010 die tunesische Revolution ausbrach, setzte das nicht nur die despotisch herrschenden Präsidenten der arabischen Welt unter Druck, sondern auch die Sozialistische Internationale (SI): Der sozialdemokratische Weltverband musste nämlich bestürzt feststellen, dass sie die Parteien der nordafrikanischen Diktatoren, die da von ihrer Bevölkerung gestürzt wurden, auf ihrer Mitgliederliste führte. Etwas überstürzt machte man sich deshalb daran, die tunesische RCD und die ägyptische NDP, später auch die ivorische FPI auszuschließen. Doch einigen Mitgliedsparteien ging das nicht weit genug: Insbesondere der Vorsitzende der deutschen SPD (SPE), Sigmar Gabriel, machte sich im März 2011 für eine grundlegende Reform stark, um die SI ein für alle Mal von ihren autoritären Mitgliedern zu befreien und wieder „politisch relevant“ zu machen. Diese Forderung zog jedoch offenbar nicht die gewünschten Folgen nach sich, sodass die SPD ab 2012 die Gründung eines neuen globalen Bündnisses vorantrieb. Am vergangenen Mittwoch schließlich war es so weit: Auf einem Kongress in Leipzig wurde die „Progressive Allianz“ (PA) aus der Taufe gehoben.

Die PA: neue Mitglieder, aber kein Unterbau

Vergleicht man die Mitgliedschaft der PA und der SI, dann stellt man zunächst eine recht große Übereinstimmung fest: Die meisten prominenten sozialdemokratischen Parteien sind in beiden Organisationen vertreten. Dass die Mitgliederliste der PA nur knapp halb so lang ist, liegt in erster Linie daran, dass viele Parteien aus kleineren Staaten, besonders aus Entwicklungsländern fehlten. Für Außenstehende ist dabei nicht immer zu erkennen, ob diese Parteien gezielt nicht eingeladen wurden oder nur zufällig nicht nach Leipzig kamen. Mit dem nicaraguanischen FSLN und dem angolanischen MPLA waren zwei bekannte SI-Problemmitglieder jedenfalls abwesend; mit der palästinensischen Fatah und dem Gerechten Russland allerdings zwei andere, ebenfalls nicht unumstrittene Parteien weiterhin dabei.

Vor allem jedoch nehmen an der PA auch einige einflussreiche Parteien teil, die nicht der SI angehören – insbesondere die US-amerikanischen Demokraten. Offensichtlich spielte hier der neue Name eine gewisse Rolle: Obwohl die Partei Barack Obamas in ihrer politischen Ausrichtung klare Überschneidungen mit den europäischen Mitte-links-Parteien zeigt, wäre für sie schon wegen des Reizworts „sozialistisch“ eine SI-Mitgliedschaft wohl auf absehbare Zeit nicht in Frage gekommen, wogegen die Selbstbezeichnung als „progressiv“ auf beiden Seiten des Atlantiks salonfähig ist.

Diese Beteiligung der US-Demokraten, aber auch des indischen INC oder der italienischen PD, ist bislang wohl der wichtigste Trumpf der PA bei dem Ziel, „politisch relevant“ zu werden. Ihre größte Schwäche hingegen dürfte (wie auch Matthias Ecke feststellt) der fehlende organisatorische Unterbau sein. Wohl um nicht zu sehr in Konkurrenz zur alten SI zu treten, hat die PA keinen eigenen Präsidenten, kein Sekretariat und keine Postadresse: Sie versteht sich nicht als supranationale Organisation, sondern lediglich als „Netzwerk“ ihrer Mitgliedsparteien. Einmal im Jahr zu einer gemeinsamen Konferenz zusammenzukommen, wird jedoch kaum genügen, um der PA zu dauerhafter Präsenz und Einfluss auf der politischen Weltbühne zu verhelfen.

Die selbstverständliche Bedeutungslosigkeit der globalen Parteien

Andererseits: Welche globale Partei kann derzeit überhaupt von sich behaupten, dauerhafte Präsenz und Einfluss auf der politischen Weltbühne zu haben? Denn es ist ja nicht so, dass sich nur die Sozialdemokraten in einem weltweiten Verband organisiert hätten. Vielmehr kann man inzwischen geradezu von einem globalen Parteiensystem sprechen: Neben SI und PA gibt es noch die Liberale Internationale (LI, gegründet 1947), die Christlich Demokratische Internationale (CDI, 1961), die Internationale Demokratische Union (IDU, 1983), die Globalen Grünen (GG, 2001), die Internationale der Piratenparteien (PPI, 2010) sowie weitere kleinere Bündnisse. (Mit CDI und IDU gibt es übrigens im konservativen Spektrum eine ähnliche Dopplung wie mit SI und PA im sozialdemokratischen: Die Europäische Volkspartei und zahlreiche andere Mitglieder sind in beiden Organisationen vertreten; die IDU umfasst allerdings auch die US-Republikaner und ist insgesamt etwas weiter rechts positioniert.)

Auf den ersten Blick haben diese Vereinigungen alles, was eine Partei so braucht: Jede von ihnen (mit Ausnahme der PA) hat einen Vorstand mit einem Präsidenten und vielen Vizepräsidenten; jede von ihnen hält alle ein bis zwei Jahre einen Parteitag ab, der als wichtigstes Beschlussorgan fungiert und bei dem sich Delegierte der nationalen Mitgliedsorganisationen versammeln; und vor allem hat jede von ihnen ein mehr oder weniger detailliertes politisches Programm, in dem sie ihre Visionen und Ziele für die Welt formuliert hat.

Dennoch sind die globalen Parteien den allermeisten Menschen vollkommen unbekannt, und in der öffentlichen Debatte über weltpolitische Fragen spielen sie fast keine Rolle. Stattdessen haben wir uns angewöhnt, allein die nationalen Regierungen als die entscheidenden Akteure der globalen Politik zu verstehen. So war in den letzten Monaten zum Beispiel viel davon die Rede, dass die EU, die USA, die Staatengemeinschaft dem syrischen Bürgerkrieg ratlos gegenübersteht. Dass sich bis jetzt auch keine einzige globale Partei in dieser aktuellen Frage zu einer Positionierung durchgerungen hat, war in den Medien hingegen nicht zu lesen. Es kommt uns einfach selbstverständlich vor. Aber warum eigentlich?

Gesellschaftliche Gegensätze verlaufen quer zu nationalen Grenzen

Eine ebenso einfache wie falsche Erklärung scheint mir zu sein, dass es in der Weltpolitik eben nur auf nationale Interessen ankommt und dass weltanschauliche Unterschiede, wie sie die Parteien repräsentieren, auf überstaatlicher Ebene schlicht keine Rolle spielen. Tatsächlich ist dies eine der traditionellen Grundannahmen der „realistischen“ Schule in den Internationalen Beziehungen, doch bei näherer Betrachtung wirkt sie mehr als unplausibel. Die sozialen Gegensätze etwa zwischen Stadt- und Landbevölkerung, zwischen Religion und Laizismus oder zwischen Kapitalbesitzern und Arbeitnehmern, die die politischen Konflikte der Moderne prägten und die Parteiensysteme formten, endeten noch niemals an nationalen Grenzen; und je mehr sich die Gesellschaften im Zuge der Globalisierung transnational verflechten, desto weniger.

Anders formuliert: Ein wohlhabender, atheistischer Apotheker in München teilt in der Regel deutlich mehr politische Interessen mit einem wohlhabenden, atheistischen Apotheker in Buenos Aires als mit einem katholischen Landwirt in Niederbayern oder einem arbeitslosen Augsburger Fabrikarbeiter. Unter dem Slogan „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ lag dieser Gedanke bereits der Gründung der ersten Internationalen, der kommunistischen IAA von 1864, zugrunde. Und auch wenn die heutigen globalen Parteien natürlich nicht mehr der Idee eines revolutionären Klassenkampfes, sondern eher der eines friedlichen demokratischen Wettbewerbs anhängen, bleibt das Argument berechtigt, dass die politisch relevanten Gegensätze in den modernen Gesellschaften quer zu territorialen Grenzen liegen und es nur angemessen wäre, wenn sich dies auch in den Formen politischer Repräsentation niederschlagen würde.

Dass die nationalen Regierungen im Mittelpunkt der internationalen Politik stehen, ist also keineswegs zwingend; mehr noch: Aller Wahrscheinlichkeit nach wären wir Bürger und unsere verschiedenen Interessen dort durch die globalen Parteien weitaus besser vertreten. Worin also liegt der entscheidende Unterschied, durch den Parteien auf nationalstaatlicher Ebene so erfolgreich sind und auf globaler Ebene so irrelevant?

Parteien brauchen Parlamente

Eine Antwort auf diese Frage scheint mir im institutionellen Kontext zu liegen: Was die nationalen Parteien für das demokratische Leben so bedeutend macht, ist ihre Rolle in den nationalen Parlamenten. Tatsächlich war schon die Entstehung der modernen Parteien im 18./19. Jahrhundert eine Folge der Parlamentarisierung. Sowohl in den USA als auch in Europa bildeten sie sich aus parlamentarischen Klubs heraus, in denen ähnlich gesinnte Abgeordnete zunächst nur lose zusammenarbeiteten, um bestimmte gemeinsame Ziele zu erreichen. Für die einzelnen Abgeordneten war dies mit Einschränkungen ihrer persönlichen Überzeugungen verbunden, brachte aber zugleich den Vorteil, sich bei Abstimmungen öfter in der Mehrheit zu befinden. Und da mit zunehmender Macht der Parlamente stabile Mehrheiten immer wichtiger wurden, gewannen auch die Parteien an Bedeutung.

Zum eigentlichen Machtfaktor wurden die Parteien dann im Wahlkampf, wo sie ihren Abgeordneten durch die Bereitstellung finanzieller und organisatorischer Unterstützung entscheidende Vorteile bieten konnten, diese zugleich aber auch immer mehr von sich abhängig machten. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts waren die Parteien schließlich zur zentralen Vermittlungsinstanz zwischen Bürgern und Politikern geworden. Indem sie die Abgeordneten der Fraktionsdisziplin unterwarfen, reduzierten sie die Komplexität des politischen Systems – und erleichterten dadurch letztlich auch dem Wähler die Entscheidung.

Kaum Anreize, auf die globalen Parteien zu achten

Jenseits des Nationalstaats jedoch fehlen diese Mechanismen weitgehend: Lediglich in der EU gibt es mit dem Europäischen Parlament ein direkt gewähltes supranationales Organ, das in parteipolitisch ausgerichtete Fraktionen gegliedert ist und über echte Gesetzgebungsmacht verfügt; und es ist deshalb nicht besonders überraschend, dass mit seinem institutionellen Aufstieg seit den 1990er Jahren auch die europäischen Parteien immer wichtiger wurden. Auf globaler Ebene jedoch werden die wichtigsten Entscheidungen nicht von Parlamenten, sondern von intergouvernementalen Gremien getroffen, die sich aus den Vertretern nationaler Regierungen zusammensetzen. Wo es aber kein einflussreiches Parlament gibt, entfällt die Notwendigkeit, stabile parlamentarische Mehrheiten zu sichern; und wo keine Wahllisten aufgestellt werden, haben die Parteien auch keine Sanktionsmöglichkeit, um ihre Mitglieder auf eine gemeinsame Linie zu verpflichten.

Für Politiker, die im NATO-Rat, auf der WTO-Konferenz oder in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Beschlüsse fassen, gibt es deshalb kaum einen Anreiz, sich bei ihrem Handeln an den Positionen der globalen Parteien zu orientieren. Ihre Loyalität wird vielmehr vor allem denjenigen gelten, denen sie auch durch institutionelle Mechanismen Rechenschaft ablegen müssen: eben den nationalen Regierungen, den nationalen Parteien, die diese Regierungen bilden, und letztlich der nationalen Wählerschaft, der sich die nationalen Parteien stellen müssen. Und darum ist der Maßstab in der Weltpolitik am Ende meistens das nationale Interesse – und nicht jene anderen sozialen Gegensätze in der transnationalen Gesellschaft, die die globalen Parteien repräsentieren.

Was globale Parteien tun können

Wie können die globalen Parteien darauf reagieren? Eine Möglichkeit besteht sicher darin, sich in die Verhältnisse zu fügen, die internationalen Organisationen den nationalen Regierungen zu überlassen und sich stattdessen auf jene Bereiche der globalen Politik zu konzentrieren, die außerhalb formeller Institutionen stattfinden. Das Gründungsdokument der Progressiven Allianz etwa spricht zwar vage davon, zur „Entstehung einer kooperativen Weltordnung“ beitragen zu wollen, doch konkrete Hinweise auf deren institutionelle Ausgestaltung sucht man vergeblich. Stattdessen beschränken sich die Pläne der PA im Wesentlichen auf Aktivitäten, wie man sie auch von politischen Stiftungen kennt: etwa den Austausch von best practices zur Parteiorganisation, die Veranstaltung von Diskussionsveranstaltungen oder (immerhin!) die Unterstützung der Mitgliedsparteien bei nationalen Wahlkämpfen.

Nun sind das alles natürlich honorige Vorhaben, mit denen man gewiss auch einiges Gutes bewirken kann. Ein wenig scheint es mir dennoch, dass die PA damit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Wer als globale Partei „politisch relevant“ sein will, der sollte wenigstens den Anspruch aufrechterhalten, auch einmal auf globaler Ebene die Funktion einer Partei zu erfüllen und bei globalen Wahlen in ein globales Parlament einzuziehen – auch wenn dieses globale Parlament erst noch geschaffen werden muss. Die Liberalen, die Grünen, die Piraten und die SI haben es schon einmal vorgemacht.

Bild: By Kentin [Public Domain], via Wikimedia Commons.

22 Mai 2013

Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!

Am heutigen Mittwoch ist es noch genau ein Jahr bis zur nächsten Europawahl: Vom 22. bis 25. Mai 2014 werden dann die Bürger der EU zum achten Mal das Europäische Parlament direkt wählen. Und auch wenn die meisten Europäer dem Urnengang bislang eher gelassen bis gleichgültig entgegensehen, kann es nicht schaden, schon einmal einen Blick auf die Fragen zu werfen, um die es in den nächsten Monaten gehen wird. Hier deshalb zum Einstimmen ein kleines Was ist Was zur Europawahl 2014.

Wer tritt an?

Die Sitzordnung im Europaparlament: 34 Linke, 190 Sozialdemokraten, 58 Grüne, 85 Liberale, 269 Christdemokraten, 55 Konservative, 35 Rechtspopulisten und ein paar Fraktionslose in den hinteren Reihen.
Die entscheidenden Kräfte im Europäischen Parlament sind die europäischen Parteien, die sich zunächst aus informellen Parteibündnissen entwickelten, heute aber in Art. 10 EU-Vertrag auch eine vertragsrechtliche Grundlage haben. Inzwischen gibt es dreizehn solche Parteien, die sich auf sieben Fraktionen im Parlament verteilen. Fünf von ihnen – die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE, die liberale ALDE, die grüne EGP und die linke EL – entsprechen im Wesentlichen ihren Pendants im Deutschen Bundestag. Hinzu kommen die von den britischen Konservativen ins Leben gerufene AECR, die beiden rechtspopulistisch-europaskeptischen Gruppierungen MELD und EAF, die eine gemeinsame Fraktion bilden, einige Kleinparteien, die sich jeweils einer der größeren Fraktionen angeschlossen haben, sowie die fraktionslose rechtsextreme AENM. Wikipedia weiß die Details.

Allerdings ist die Mitgliedschaft in einer dieser Parteien keine Voraussetzung, um bei der Wahl anzutreten: Etwa ein Zehntel der Europaabgeordneten gehört rein nationalen Parteien ohne europäischen Dachverband an, die sich teilweise einer der sieben Fraktionen angeschlossen haben, teilweise aber auch fraktionslos sind. Die daraus entstehende Zersplitterung ist einer der Gründe, dass es im Parlament keinen klaren Gegensatz zwischen verschiedenen politischen Lagern gibt: Da weder die Parteien links noch die Parteien rechts der Mitte eine klare Mehrheit haben, kommen die meisten Entscheidungen durch eine informelle „große Koalition“ aus EVP, SPE und ALDE zustande.

Wie wird gewählt?

Wie immer. Vor gut einem Jahr scheiterte der Versuch des britischen Abgeordneten Andrew Duff (LibDem/ALDE) zu einer umfassenden Wahlrechtsreform, die unter anderem europaweite Wahllisten einführen sollte. Stattdessen wird nun erneut jeder Staat ein festes Sitzkontingent haben, und auch an dem umstrittenen Prinzip der „degressiven Proportionalität“ (größere Länder bekommen mehr Sitze, kleinere aber mehr Sitze pro Einwohner) hat sich nichts geändert.

Die genaue Ausgestaltung des Wahlverfahrens ist, von ein paar allgemeinen Vorgaben abgesehen, Sache der einzelnen Mitgliedstaaten; einen Überblick bietet wiederum Wikipedia. In Deutschland besonders umstritten ist dabei die Anwendung der Sperrklausel: Genauso wie für den Bundestag galt bis zur Europawahl 2009 jeweils eine Fünf-Prozent-Hürde, die aber Ende 2011 vom Bundesverfassungsgericht in einem umstrittenen Urteil gekippt wurde. Die Europaabgeordneten selbst befürworteten hingegen Ende 2012 in einer Resolution nationale Sperrklauseln, um dadurch der Zersplitterung des Parlaments Einhalt zu gebieten. Und da zuletzt auch aus dem Bundestag Pläne zur Wiedereinführung einer Drei-Prozent-Hürde bekannt wurden, wird es mit einiger Sicherheit vor der Europawahl noch einige verfassungsrechtliche Debatten geben.

Wie wird sich die Wahlbeteiligung entwickeln?

Abwärtstrend: Beteiligung an der Europawahl in den vier größten Mitgliedstaaten.
Für viele Medien ist das Interessanteste an der Europawahl die Frage, wie viele Bürger überhaupt zum Wählen gehen. Tatsächlich sank die Wahlbeteiligung im Lauf der Zeit immer weiter ab – von erst 63 auf zuletzt 43 Prozent. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens spielten wohl die EU-Erweiterungen eine Rolle: Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich je nach Land und ist in den neuen Mitgliedstaaten meist niedriger als in den alten (2009 waren die Extreme 19,6 % in der Slowakei und 90,8 % in Luxemburg). Doch auch in den Gründungsländern ging die Beteiligung zurück, was, zweitens, mit enttäuschten Erwartungen zu tun haben mag: Bei der ersten Wahl, die 1979 in teils euphorischer Stimmung stattfand, besaß das Parlament noch kaum Kompetenzen – und als es diese seit den 1990er Jahren schrittweise erhielt, stand es bei vielen schon im Ruf einer bedeutungslosen Quasselbude.

Drittens und vor allem aber gelang es dem Parlament bis heute nicht, die europapolitische Debatte entlang der Unterschiede zwischen den verschiedenen europäischen Parteien zu strukturieren. Stattdessen herrschen in den Medien etwa in der Diskussion über die Eurokrise meist nationale Gegensätze vor: Die Antagonisten sind nicht EVP und SPE, sondern Deutschland und Griechenland. Für die Wähler bleibt daher unklar, wofür die verschiedenen parteipolitischen Optionen eigentlich stehen, zwischen denen sie sich bei der Europawahl entscheiden können; und immer öfter entscheiden sie sich deshalb gar nicht, sondern bleiben gleich zu Hause.

Diese unzureichende parteipolitische Debatte hat selbst wiederum verschiedene Ursachen (mehr dazu hier). Ein wichtiger Faktor dürfte allerdings die fehlende Personalisierung sein: Wegen der nur nationalen Wahllisten hatten die europäischen Parteien bislang niemanden, der ihre Positionen für ein europaweites Publikum verkörpert hätte. Das jedoch wird nächstes Jahr anders sein.

Wer wird Spitzenkandidat?

Sehen wir Martin Schulz und Donald Tusk demnächst im Wahlkampf wieder?
Die große Neuigkeit der Europawahl 2014 werden die Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten sein, die die großen europäischen Parteien erstmals nominieren wollen. Bereits seit dem Vertrag von Maastricht 1992 wird der Kommissionspräsident nicht mehr allein von den nationalen Staats- und Regierungschefs ernannt, sondern vom Europäischen Rat vorgeschlagen und anschließend vom Europäischen Parlament bestätigt. Schon in der Vergangenheit kam deshalb immer wieder die Forderung auf, dass die europäischen Parteien bereits vor der Wahl ihre Wunschkandidaten benennen und dadurch die Staats- und Regierungschefs unter Druck setzen sollten. Weiter verstärkt wurde dies durch eine neue Formulierung im Vertrag von Lissabon, derzufolge der Europäische Rat bei seinem Vorschlag für den Kommissionspräsidenten das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigt“ (Art. 17 EU-Vertrag). Im Dezember 2009 fasste daraufhin die SPE als erste europäische Partei den Beschluss, vor der Europawahl 2014 einen eigenen Kandidaten zu benennen.

Inzwischen ist klar, dass alle größeren europäischen Parteien auf die ein oder andere Weise Spitzenkandidaten aufstellen werden. Allerdings haben nur SPE und EGP bislang ein formelles Verfahren dafür beschlossen: Bei den Sozialdemokraten wird im Oktober eine Vorauswahl von bis zu sechs Kandidaten erfolgen; im Dezember und Januar werden dann (nach Vorbild der US-amerikanischen primaries) innerhalb der nationalen Mitgliedsparteien Delegierte für einen Parteikongress gewählt, der schließlich im Februar den Spitzenkandidaten kürt. Bei den Grünen hingegen soll ein Spitzenkandidaten-Duo gewählt werden, und zwar durch eine offene Online-Abstimmung, an der sich alle Mitglieder und Sympathisanten ab 16 Jahren beteiligen können.

Spekulationen, wer als Kandidat in Frage käme, gibt es schon heute zuhauf. Der Europablogger Jon Worth hat vor einigen Tagen gute Übersichten zu den verschiedenen Parteien zusammengestellt: SPE und EVP, die realistische Chancen auf einen Wahlsieg haben, sowie ALDE und EGP, deren Kandidaten als Kompromisslösung zum Zuge kommen könnten. Klarer Favorit bei der SPE ist Martin Schulz, ehemaliger sozialdemokratischer Fraktionschef und derzeit Präsident des Europäischen Parlaments; mögliche Konkurrenten könnten die dänische Premierministerin Helle Thorning-Schmidt, der SPE-Parteivorsitzende und ehemalige bulgarische Ministerpräsident Sergej Stanishev oder der frühere belgische Wirtschaftsminister Paul Magnette sein. Bei der EVP ist das Tableau weniger eindeutig: Als mögliche Kandidaten gelten unter anderem der polnische Premierminister Donald Tusk, die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė und die derzeitige EU-Justizkommissarin Viviane Reding.

Wie wird sich das auf das institutionelle Gleichgewicht auswirken?


Die wichtigste Hoffnung, die mit der Ernennung der Spitzenkandidaten einhergeht, ist natürlich die größere Medienpräsenz und damit ein höheres Interesse der Bevölkerung an der Europawahl, das möglichst auch zu einer stärkeren Wahlbeteiligung führen sollte. Doch nicht nur diese stärkere Wahlbeteiligung an sich ist von Bedeutung, sondern auch die Auswirkungen, die sie auf das Gleichgewicht zwischen dem Europäischen Parlament und den anderen EU-Organen haben wird. Denn bei politischen Konflikten etwa mit dem Europäischen Rat können sich die Abgeordneten vor allem dann Gehör verschaffen, wenn sie auf eine klare Legitimation durch die Bürger verweisen können. Je niedriger die Wahlbeteiligung hingegen ist, desto leichter fällt es den übrigen Institutionen, über die Position des Parlaments einfach hinwegzugehen.

Von einem personalisierten Wahlkampf mit klar benannten Spitzenkandidaten könnte aber nicht nur das Parlament, sondern auch die Kommission profitieren. Schon seit längerem leidet diese an einer zunehmenden Profillosigkeit. Seit Jacques Delors (PS/SPE), der von 1985 bis 1995 im Amt war, verfolgte kein Kommissionspräsident mehr eine klare politische Linie, und der 2004 ernannte José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) galt schon bei seiner Ernennung als langweilig und ideenlos. Die Folge davon war in den letzten Jahren ein ungeahnter Machtgewinn des intergouvernementalen Europäischen Rates: Während Delors etwa in den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht eine Führungsrolle übernahm, blieb Barroso in der Eurokrise weitgehend passiv und folgte lediglich den Vorgaben der nationalen Staats- und Regierungschefs (die sich dafür bedankten, indem sie ihn 2009 noch einmal nominierten).

Mit der Europawahl 2014 dürfte sich dies ändern: Zum einen werden sich die europäischen Parteien hüten, im Wahlkampf mit einem solch uncharismatischen Kandidaten wie Barroso anzutreten. Zum anderen wird Barrosos Nachfolger sich auch nach seiner Ernennung besser gegenüber den nationalen Regierungschefs behaupten können, weil er durch einen personalisierten Wahlkampf bereits einer breiten Öffentlichkeit bekannt sein wird. Insgesamt kann das der europäischen Demokratie nur nutzen – wenngleich die Wahl der übrigen Kommissionsmitglieder wohl auch weiterhin eher nach nationalen als nach parteipolitischen Kriterien erfolgen wird.

Was werden die Wahlkampfthemen sein?

Neben der niedrigen Beteiligung litten die bisherigen Europawahlen noch an einem zweiten großen Problem: Obwohl ein europäisches Organ gewählt wird, sind die Wahlkampfthemen in allen Mitgliedstaaten meist nationale Fragen, und häufig sind die Sympathiewerte der nationalen Regierung für das Wahlergebnis wichtiger als alles, was in Brüssel geschieht. Auch hier gibt es allerdings die Hoffnung, dass die Spitzenkandidaten 2014 die Aufmerksamkeit im Wahlkampf auf die echten europapolitischen Entscheidungen lenken werden: Als gesamteuropäische Kandidaten werden sie schließlich nur mit einer gesamteuropäischen Agenda antreten können.

Und tatsächlich sollte man meinen, dass an europapolitischen Themen derzeit kein Mangel besteht; schließlich könnte die seit Jahren wütende Eurokrise in den nächsten Jahren große institutionelle Änderungen erforderlich machen. Problematisch ist allerdings, dass in diesen Fragen nichts ohne die nationalen Regierungen geht: Welche Partei auch immer die Europawahl gewinnt, zuletzt wird das Parlament doch auf eine Zusammenarbeit mit dem Europäischen Rat angewiesen sein. Dieser Zwang zum Kompromiss könnte dazu führen, dass allzu weitgehende Reformvorschläge schon im Wahlkampf unglaubwürdig wirken – jedenfalls sofern die Kandidaten nicht auch die Unterstützung wichtiger nationaler Regierungen haben. Wenn sich hingegen auch nationale Staats- und Regierungschefs auf der Seite ihres jeweiligen Spitzenkandidaten aktiv an einer transnationalen Debatte über die Zukunft der EU beteiligen, könnte die Wahl im besten Fall zur Richtungsentscheidung für die weiteren Entwicklungen werden.

Und schließlich: Wer wird gewinnen?

Diese Frage ist von allen wohl am schwersten zu beantworten: Es gibt bis heute keine europaweiten Wahlumfragen, und auch die naheliegende zweitbeste Lösung, die Werte nationaler Umfragen zusammenzuzählen, wird meines Wissens von keiner Institution systematisch durchgeführt. Betrachtet man nur die größeren Mitgliedstaaten, so könnte die EVP – derzeit mit 269 Abgeordneten die stärkste Fraktion – in Frankreich und Italien leichte, in Spanien und Polen deutliche Verluste erleiden. Doch auch die bislang mit 190 Mandaten zweitplatzierte SPE würde nach heutigem Stand wohl allenfalls stagnieren: Gegenüber 2009 hat sie nur in Großbritannien klar zugelegt, in Spanien hingegen stark verloren.

Gut sehen die Umfragen hingegen für verschiedene kleinere Parteien aus: UKIP (EAF) in Großbritannien, IU (EL) in Spanien, PiS (AECR) in Polen sowie die spanische UPyD und das italienische M5S, die beide keiner europäischen Partei angehören. Vor allem in Spanien und Italien dürfte der Aufstieg der kleinen Parteien allerdings vor allem den Frust der Wähler über die anhaltende Eurokrise widerspiegeln, für die es innerhalb der nationalen politischen Systeme schlicht keinen Ausweg gibt. Sofern es den Spitzenkandidaten von EVP und SPE gelingt, im Wahlkampf plausible gesamteuropäische Lösungen vorzuschlagen, könnte auch das Vertrauen in die großen Parteien wieder zurückkehren.

Es bleibt jedenfalls spannend. Und für alle, die bereits die Tage zählen, findet sich in der rechten Spalte dieses Blogs ab heute ein kleiner Countdown.

Weitere Artikel zur Europawahl in diesem Blog:

● Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!
Europawahl 2014: Wie die europäischen Parteien ihre Spitzenkandidaten wählen
Nach der Wahl ist vor der Wahl: Zwischenstand auf dem Weg zur Europawahl 2014
Parlamentarismus wagen: Die Spitzenkandidaten zur Europawahl schwächen den Europäischen Rat und stärken die Demokratie
Martin Schulz, Alexis Tsipras und noch immer kein Christdemokrat: erste Vorentscheidungen im Europawahlkampf
Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (1)
Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (2)
„Green Primary Debate“ in Berlin: Eindrücke aus einem transnationalen Wahlkampf
Grüne Enttäuschungen, liberale Kompromisse – und immer noch kein Christdemokrat: Neues aus dem Europawahlkampf
Krisenstaaten wählen links, kleine Länder liberal, und die Christdemokraten sind vor allem in der Eurozone stark: Zur Wahlgeografie der Europäischen Union
Die AfD und ihre Partner: Wie sich die europäische Rechte nach der Europawahl verändern wird
Nach der Europawahl 

Bilder: By Glentamara (Own work) [CC-BY-SA-3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons; eigene Grafik (Quelle: Europäisches Parlament); European Union 2013 - European Parliament [CC-BY-NC-ND-2.0], via Flickr.

19 Mai 2013

Die CDU, die AfD und die Europapolitik im Bundestagswahlkampf

Mit manchen Dingen will sich Angela Merkel (CDU/EVP) im Wahlkampf lieber nicht beschäftigen. Der AfD zum Beispiel.
Vier Monate vor der nächsten deutschen Bundestagswahl liegt die CDU/CSU (EVP) in Umfragen zwölf bis fünfzehn Prozentpunkte vor der SPD (SPE), und auch wenn sie die derzeitige Koalition mit der FDP (ALDE) wohl nicht fortsetzen kann, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass sie auch die nächste Bundesregierung anführen wird. Eigentlich eine komfortable Lage – und doch zeigten die Christdemokraten in der letzten Woche einige Nervosität vor dem Wahlkampf. Ursache dafür ist die unlängst gegründete nationalkonservativ-europaskeptische Partei Alternative für Deutschland (AfD). Diese kommt zwar in Umfragen bislang nur auf rund drei Prozent und würde damit nicht in den Bundestag einziehen. Diese drei Prozent aber dürften vor allem den heutigen Regierungsparteien fehlen: Von den derzeit rund 10 000 AfD-Parteimitgliedern war etwa jeder Zehnte zuvor in der CDU aktiv, weitere 500 in der FDP. Schlimmstenfalls könnte die AfD der CDU einen Teil ihres Wählerpotenzials dauerhaft abspenstig machen, ähnlich wie vor einigen Jahren die Linkspartei (EL) der SPD.

Die CDU-Parteispitze reagierte auf diese Bedrohung bislang, indem sie sie ignorierte. Nachdem Fraktionschef Volker Kauder die AfD im März als „institutionalisierte Angst vor der Zukunft“ bezeichnet hatte, nahm kaum ein prominentes Parteimitglied noch öffentlich auf sie Bezug. Dahinter dürfte ein doppeltes Kalkül stecken: Zum einen die Hoffnung, dass sich die AfD, wenn man ihr nicht zu viel Aufmerksamkeit schenkt, nach dem Scheitern ihrer Bundestagsambitionen selbst zerlegen und als rechtspopulistische Splittergruppe enden wird. Und zum anderen das Bewusstsein, dass die Europapolitik für die CDU im Wahlkampf zu einem allzu heißen Pflaster werden könnte.

Warum die CDU das Europathema lieber meidet

Denn bislang zeigen die deutschen Umfragen einerseits eine hohe Zustimmung zu der Europapolitik der Bundesregierung, und insbesondere Kanzlerin Angela Merkel profitiert davon, dass sie auf den europäischen Gipfeln so gut die deutschen Interessen zu vertreten scheint. Andererseits aber ist die Eurokrise heute nach wie vor nicht vorüber – was nicht zuletzt an der Bundesregierung liegt, die in den vergangenen Jahren etliche Lösungswege zurückgewiesen (Ausweitung des gemeinsamen Haushalts, Eurobonds) oder verschleppt hat (Bankenunion), ohne schlüssige Alternativen aufzuzeigen.

Stattdessen setzte sie auf eine Sparpolitik, die die wirtschaftliche Lage der Krisenstaaten nur noch weiter verschlimmerte, und auf kleinere institutionelle Nachbesserungen wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Letzterer genügte zwar, um Teile der nationalen Öffentlichkeit in Empörung zu versetzen, blieb aber weit hinter dem zurück, was für die Überwindung der Krise notwendig wäre. Inzwischen dürfte deshalb auch im Kanzleramt klar sein, dass die bisherigen Durchwurstelversuche gescheitert sind. Und so kann man davon ausgehen, dass die Bundesregierung in den nächsten Jahren entweder ihren Widerstand gegen eine weitere Vergemeinschaftung finanzieller Risiken aufgeben – oder den Zerfall der Eurozone in Kauf nehmen wird.

Einstweilen jedoch hat sich die CDU mit ihrem gleichzeitigen Ja zur Gemeinschaftswährung und Nein zu jeder Form von „Transferunion“ in eine argumentative Sackgasse befördert, aus der sie vor der Bundestagswahl kaum wieder herauskommen kann. Besonders unglücklich ist dabei, dass auch ihre Wähler nur allzu geneigt sind, einen solchen Weg für möglich zu halten. Für den Meinungsforscher Bruce Stokes, der zuletzt für das Pew Research Center eine Studie über die Krisenwahrnehmung in den verschiedenen europäischen Staaten durchgeführt hat, lebt die deutsche Bevölkerung „mental auf ihrem eigenen Kontinent“: Anders als ihre Nachbarn, die die derzeitige wirtschaftliche und politische Lage durchweg als düster einschätzen, sehen die Deutschen keine besonderen Probleme – nicht gerade die beste Ausgangslage für eine Regierung, um im Wahlkampf die Notwendigkeit eines großen politischen Richtungswechsels anzukündigen.

Der Streit über den Umgang mit der AfD

Während es für die CDU-Bundespartei also naheliegend scheint, das Europathema vorerst besser zu meiden, regte sich in den Landesverbänden zuletzt Widerstand gegen diesen Kurs. In einem gemeinsamen Positionspapier forderten die CDU-Fraktionsvorsitzenden von Thüringen, Sachsen und Hessen „eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Programmatik der AfD und den hieraus folgenden Konsequenzen“. Merkel und einige andere Mitglieder der Parteispitze wiesen dieses Ansinnen zwar umgehend brüsk zurück; nur kurz danach jedoch legten die CDU-Ministerpräsidenten von Hessen, Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie einige Bundestagsabgeordnete nach und unterstützten die drei Fraktionsvorsitzenden. Wenigstens parteiintern dürfte die Dethematisierungsstrategie der Bundesregierung damit gescheitert und eine intensivere Europadebatte kaum zu verhindern sein.

Was stand hinter diesem Vorstoß der drei Fraktionschefs? Betrachtet man die europapolitischen Positionen der Beteiligten, so scheint die Rollenverteilung klar zu sein. Die Befürworter einer intensiveren Auseinandersetzung mit der AfD entstammen zum großen Teil nämlich selbst dem europaskeptischen Flügel der CDU; mehrere von ihnen sind Mitglieder des konservativen „Berliner Kreises“. Mehr noch: Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, beinhaltete das Schreiben der drei Fraktionschefs auch die Forderung, dass die CDU auf die „nie wirklich zu Ende diskutierte Frage nach der Finalität des Europäischen Integrationsprozesses“ endlich mit einer klaren Absage an die „Vereinigten Staaten von Europa“ antworten und sich für einen Staatenverbund „mit den europäischen Nationen als entscheidender Größe“ aussprechen solle. Umgekehrt fanden sich unter den Verteidigern des bisherigen Kurses gegenüber der AfD mehrere prominente Integrationsbefürworter, etwa Elmar Brok, CDU-Europaabgeordneter und Ehrenpräsident der föderalistischen Europa-Union.

Insgesamt scheint es also, als ob es in der CDU-internen Debatte über die Auseinandersetzung mit der AfD in Wahrheit eher um eine Annäherung an die AfD geht: Während die Mitglieder des „Berliner Kreises“ darin eine Chance sehen, nationalkonservative Argumente wieder stärker in der Partei zu verankern, ist den Merkelianern vor allem daran gelegen, den Ball flach zu halten: Einerseits wollen sie sich nicht zu einer umfassenden europäischen Fiskalunion mit Souveränitätsübertragungen im steuer- und sozialpolitischen Bereich bekennen, weil sie das Stimmen im konservativen Lager kosten könnte; andererseits wollen sie eine solche Fiskalunion aber auch nicht ausschließen, weil sie wissen, dass das vielleicht die einzige Möglichkeit sein wird, um die Währungsunion zu erhalten. Also versuchen sie, sich im Bundestagswahlkampf nicht zu kompromittieren – und dadurch für die Zeit danach alle Optionen offen zu halten

Die AfD kann sich als glückliche Fügung erweisen

Doch so schlau diese Taktik auf den ersten Blick wirken mag: Auf die Dauer dürfte sie sich für die Proeuropäer in der CDU als schwere Last erweisen. Denn sie verstößt nicht nur gegen die schlichte demokratische Forderung, dass die Regierung im Wahlkampf klare Positionen zu den zentralen politischen Themen beziehen soll. Auch für den Fortgang der europäischen Integration selbst wird es einen wichtigen Unterschied machen, ob sich die Parteien, die die nächste Bundesregierung stellen, schon jetzt zu der Notwendigkeit weiterer institutioneller Reformen bekennen. Nur dann werden sie nämlich nach der Wahl darauf verweisen können, dass sie von den Bürgern zur Durchführung dieser Reformen legitimiert sind.

Wenn die übrigen Parteien die richtige Antwort darauf finden, könnte sich die Gründung der AfD daher im Nachhinein sogar als eine glückliche Fügung für die europäische Integration erweisen. Jahrzehntelang war die mehrheitliche Europafreundlichkeit der deutschen Bevölkerung eine bloße Behauptung: gestützt durch unverbindliche Meinungsumfragen, aber aufgrund des weitreichenden Konsenses unter den Bundestagsparteien niemals in der echten politischen Auseinandersetzung erprobt. Mit der AfD wird dieser Konsens nun herausgefordert, sodass es erstmals zu einem tatsächlichen Kräftemessen zwischen Integrationsbefürwortern und -gegnern kommen kann. Aber nur wenn die Befürworter diese Herausforderung annehmen, können sie auch gewinnen – und nur wenn sie gewinnen, können sie hinterher entschlossen ihre politischen Ziele in die Tat umsetzen. Wenn die großen Parteien sich hingegen wegducken und den Anschein erwecken wollen, als genügte eine einfache Fortsetzung der bisherigen Politik, wird es ihnen in ein oder zwei Jahren umso schwerer fallen, öffentliche Zustimmung zu dem dann nötigen großen Integrationsschritt zu mobilisieren.

Der Gegner, auf den wir gewartet haben

Ganz in diesem Sinn bekundete kürzlich übrigens auch Jürgen Habermas, seit Jahren einer der prominentesten Verfechter überstaatlicher Demokratie (und damit anders als etwa die Mitglieder des „Berliner Kreises“ reichlich unverdächtig, die inhaltlichen Ziele der Europaskeptiker insgeheim zu teilen):
In der Bundesrepublik bestärkt eine unsäglich merkelfromme Medienlandschaft alle Beteiligten darin, das heiße Eisen der Europapolitik im Wahlkampf nicht anzufassen und Merkels clever-böses Spiel der Dethematisierung mitzuspielen. Daher ist der „Alternative für Deutschland“ Erfolg zu wünschen. Ich hoffe, dass es ihr gelingt, die anderen Parteien zu nötigen, ihre europapolitischen Tarnkappen abzustreifen. Dann könnte sich nach der Bundestagswahl die Chance ergeben, dass sich für den fälligen ersten Schritt eine „ganz große“ Koalition abzeichnet.
Wer es in den deutschen Parteien gut meint mit der europäischen Integration, wer für eine vertiefte Wirtschafts- und Währungsunion, für eine föderale Kompetenzordnung und für mehr supranationale Demokratie ist, der sollte sich gerade durch die AfD zu einer offenen Auseinandersetzung über diese Fragen anspornen lassen. Es mag sein, dass die Parteispitzen – in der CDU und anderswo – das nicht wollen, weil sie Angst haben, dadurch im Wahlkampf ihre Siegchancen zu mindern. Aber der schönste Wahlerfolg hilft nichts, wenn man hinterher seine politischen Ziele nicht umsetzen kann, weil es dafür an Rückhalt in der Bevölkerung fehlt. Und diesen Rückhalt wird es nur geben, wenn die Bürger schon vor der Wahl erfahren, für welche europapolitischen Optionen die verschiedenen Parteien stehen, und sich dann mehrheitlich für eine vertiefte Integration entscheiden.

Liebe Europafreunde in allen Parteien: Die AfD kann der Gegner sein, auf den wir gewartet haben. Nutzen wir die Gelegenheit!

Bild: By Kuebi = Armin Kübelbeck (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

06 Mai 2013

Ist die Macht von Experten der Grund für das Demokratiedefizit der EU?

Könnte es ein schöneres Sinnbild bürgerferner Technokratie geben als die Architektur des Brüsseler Kommissionsgebäudes?
In der letzten Ausgabe des Freitag findet sich ein interessanter Artikel, in dem sich der bekannte Parteienforscher Franz Walter mit der „Politik der Ingenieure“ befasst. Seine Grundthese ist, dass die jüngsten Bürgerproteste in Deutschland von einem stark technokratischen Impuls getragen sind: Ihre Protagonisten sind häufig Experten auf einem bestimmten Feld, die der Idee einer objektiv besten Problemlösungsstrategie anhängen und die vielen Kompromisse verachten, zu denen Politiker in einem pluralistischen System gezwungen sind. Walter zieht dabei einen Bogen, der vom scheinbar über allen Konflikten stehenden Bundesverfassungsgericht bis zur jüngst gegründeten europaskeptischen Partei AfD reicht, und warnt davor, dass das Politikverständnis der „Gesellschaftsingenieure und Reißbrettökonomen“ letztlich mit der Demokratie unvereinbar ist:
Und so könnte eine Expertengesellschaft in einem nächsten Schritt den Weg […] in ein Zensussystem neuen Typus nehmen, in dem kleine oligarchische Zirkel von Honoratioren des Sachverstands und Führungskader hochspezialisierter Fachkenntnisse die Dinge regeln. Man soll sich nicht täuschen: Auf die derzeitigen Strukturen transnationaler Kommissionen wäre ein solches Verständnis einer von der Volkssouveränität entkleideten Expertokratie perfekt zugeschnitten.
Und da ich vermutlich nicht der Einzige bin, der bei der Formulierung „transnationale Kommission“ als Erstes an das gleichnamige Organ der Europäischen Union denkt, stellt sich die Frage: Besteht das Demokratieproblem der EU tatsächlich darin, dass die ehemals auf nationaler Ebene erfolgreich verankerte Herrschaft der Bürger einer entstaatlichten Herrschaft der Experten weicht?

Vorwürfe an die EU

Um fair zu bleiben: Franz Walter selbst erwähnt die EU in seinem Artikel mit keinem einzigen Wort, und man sollte ihm nicht unterstellen, dass er gerade sie im Sinn hatte. Tatsächlich gibt es auf dieser Welt eine ganze Reihe anderer internationaler Organisationen, die sich in erster Linie über ihre fachliche Expertise legitimieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die OECD, die sich als ein Forum zum zwischenstaatlichen Austausch von best practices versteht und mit ihren Statistiken und Vergleichsanalysen starken Einfluss auf politische Diskurse ausüben kann – man denke nur an die viel diskutierte PISA-Studie, die im letzten Jahrzehnt die nationale Bildungspolitik zahlreicher Länder durcheinander gewirbelt hat. Allerdings besitzt die OECD keine formelle Macht, sondern kann allenfalls Empfehlungen aussprechen. Eine Bedrohung für Volkssouveränität und Demokratie ist sie eher nicht.

Die Europäische Union hingegen übt echte staatliche Gewalt aus und steht darum auch sehr viel öfter im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Und an Vorwürfen mangelt es nicht: Das Bild eines regelungswütigen Beamtenapparats, eines „Raumschiffs Brüssel“, einer selbstbezogenen und bürgerfernen „Eurokratie“ ist spätestens seit den 1980er Jahren weit verbreitet. Durch die Eurokrise verschärfte sich diese Kritik noch weiter, da das EU-Expertentum nun oft auch als Bedrohung für die nationale Demokratie wahrgenommen wurde. Besonders virulent war die Debatte Ende 2011, als in Griechenland und Italien zwei parteilose Ökonomen zu Regierungschefs ernannt wurden. Zwar gaben beide inzwischen ihre Ämter nach Neuwahlen wieder an Berufspolitiker ab, sodass die Aufregung um diese „Technokraten-Kabinette“ heute weitgehend vorüber ist. Die Kritik an den supranationalen Organen, speziell der Europäischen Kommission, bleibt uns hingegen erhalten. Ist sie berechtigt?

Die technokratischen Anfänge der europäischen Integration

Blickt man auf die 1950er Jahre zurück, so zeigt sich, dass die Idee einer Expertenherrschaft bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften tatsächlich eine wesentliche Rolle spielte. Der Historiker Guido Thiemeyer hat dies am Beispiel der Vorgeschichte zur gemeinsamen europäischen Agrarpolitik dargelegt. Demnach strebten zentrale politische Akteure die europäische Integration zunächst insbesondere deshalb an, weil dadurch wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen dem demokratischen Wechselspiel, das sich immer nur am kurzfristigen (Wahl-)Erfolg, an Klientelpolitik und an den Forderungen einflussreicher Interessenverbände ausrichte, entzogen würden. Stattdessen sollte mit der Kommission ein mächtiges überstaatliches Expertengremium geschaffen werden, das allein das europäische Gemeinwohl in den Blick nehmen würde.

Derartige Überlegungen sind freilich nichts EU-Spezifisches und auch nichts, was zwingend im Widerspruch mit einem im Ganzen demokratischen System stehen müsste. Auch auf nationaler Ebene gibt es eine Vielzahl von Politikfeldern, die man den wechselnden parteipolitischen Mehrheiten entzieht und stattdessen unabhängigen Exekutivorganen überlässt. Ein typisches Beispiel ist etwa die Geldpolitik, die auch in Demokratien meist Sache einer unabhängigen Zentralbank ist, da diese glaubwürdiger als die Regierung eine langfristig stabile Inflationsrate garantieren kann. Aber auch andere staatliche Funktionen, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zum Datenschutzbeauftragten, sind bewusst dem Zugriff der Politik entzogen. Man kann deshalb, wie es etwa der Politologe Giandomenico Majone tut, die europäische Integration generell als einen Versuch ansehen, auch für bestimmte staatenübergreifende Themen solche Mechanismen „nicht-majoritärer“ (d.h. nicht dem Mehrheitsverfahren unterworfener) Herrschaft einzurichten.

Wann Expertenherrschaft sinnvoll ist – und wann nicht

Das Problem ist allerdings, dass nicht alle Politikfelder dafür gleichermaßen geeignet sind. Sinnvoll sind nicht-majoritäre Verfahren vor allem dort, wo sich erstens (wie bei der Geldpolitik) recht einfach allgemein anerkannte Zielvorgaben formulieren lassen, deren Umsetzung dann lediglich eine Frage der richtigen Methode ist und wo zweitens (wie beim öffentlichen Rundfunk) die ernsthafte Sorge besteht, dass die jeweilige Regierung ihre Macht missbrauchen könnte. Problematisch sind nicht-majoritäre Verfahren hingegen, wenn es um die Abwägung von verschiedenen Werten (etwa dem Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz) oder um finanzielle Umverteilung (etwa durch Steuern oder Sozialsystem) geht. Da es in diesen Fällen keine „objektiv richtigen“ Entscheidungen geben kann, müssen sie der offenen politischen Debatte und den demokratischen Mechanismen der Mehrheitswahl unterliegen.

Besteht das Demokratiedefizit der Europäischen Union also möglicherweise darin, dass sie schlicht zu viele Politikfelder bei nicht-majoritären Expertenorganen angesiedelt hat? Auf den ersten Blick spricht einiges für diese These: Immerhin beschränken sich die Zuständigkeiten der EU bei weitem nicht auf rein technische Angelegenheiten, sondern greifen tief in das gesellschaftliche Zusammenleben ein. (Wobei, genau genommen, bereits die Einführung der gemeinsamen Agrarpolitik 1962 mit einem teuren Subventionssystem und daher mit Umverteilungseffekten verbunden war.) Spätestens seit Ausbruch der Eurokrise dürfte es kaum noch Zweifel daran geben, dass sich die EU nicht allein dadurch legitimieren lässt, dass ihre Politik für alle zu einem besseren Ergebnis führt – sondern dass hier gravierende Entscheidungen über die Verteilung von Kosten und Risiken getroffen werden müssen, die man letztlich nur den Betroffenen, also den Bürgern, und den von ihnen gewählten Parlamentariern überlassen kann.

Die EU-Organe sind politisch

Dennoch scheint es mir falsch, das Demokratiedefizit der Europäischen Union in erster Linie als einen Auswuchs der Expertokratie in der Europäischen Kommission zu verstehen – und zwar aus dem einfachen Grund, dass die wichtigsten Entscheidungsträger dort gar keine Experten sind. Tatsächlich entsprach Jean Monnet, der von 1952 bis 1955 als Erster die Hohe Behörde (den Vorgänger der Kommission) leitete, noch recht gut dem Bild eines technokratischen Beamten. Seine Nachfolger jedoch waren zum größten Teil Berufspolitiker, die zuvor in ihren jeweiligen Nationalstaaten politische Karriere gemacht hatten. Auch unter den 27 Mitgliedern der heutigen Kommission bekleideten fast alle zuvor wichtige nationale Partei- oder Regierungsämter, einige waren Europaabgeordnete. Natürlich gibt es auch einen Beamtenapparat, der ihnen zuarbeitet – die entscheidenden Beschlüsse aber fallen im Kommissarskollegium, und das ist eindeutig ein politisches, kein technokratisches Organ.

Hinzu kommt, dass Europapolitik natürlich nicht von der Kommission allein gemacht wird, sondern auch vom Europäischen Parlament und dem Rat, die sich beide ebenfalls nicht aus Experten, sondern aus gewählten Berufspolitikern zusammensetzen. Im Rahmen der „delegierten Rechtsakte“ nach Art. 290 AEUV können diese zwar der Kommission widerrufbar begrenzte Gesetzgebungsbefugnisse übertragen, was immer mal wieder zu Kritik führt. Doch analoge Verfahren gibt es auch auf nationaler Ebene schon lange (in Deutschland etwa in Art. 80 GG), ein Beleg für eine besonders ausgeprägte europäische Expertokratie sind sie eher nicht.

Und die EZB?

Das einzige bedeutende Exekutivorgan der EU, das tatsächlich primär nach dem Kriterium fachlichen Expertentums zusammengesetzt ist, scheint mir die Europäische Zentralbank zu sein. Allerdings ist die Geldpolitik, siehe oben, ja genau eines der Politikfelder, die man am besten unabhängigen Experten überlassen sollte. Solange die EZB sich auf ihre Kernzuständigkeit konzentriert, scheint mir also auch hier nicht viel Anlass zu Sorge gegeben.

Aus demokratischer Sicht problematischer ist allerdings die Rolle der EZB in der Eurokrise, in der sie auch jenseits der reinen Geldpolitik an Bedeutung gewann: Sei es durch den massiven Aufkauf von Staatsanleihen, der de facto zu einer finanziellen Umverteilung führt; sei es durch die Teilnahme an der „Troika“, in der sie zusammen mit der Kommission und dem Internationalen Währungsfonds die radikalen Sparprogramme in die Krisenstaaten überwacht. Nicht ganz zu Unrecht stieß dieser Machtgewinn in der öffentlichen Debatte auf teils heftige Kritik. Unverkennbar ist allerdings auch, dass die EZB selbst ihre Krisenaktivitäten nur höchst widerwillig aufnahm – weniger als ein Versuch der technokratischen Herrschaftsübernahme denn als Reaktion auf das Versagen des Europäischen Rates. Als Bürger sollten wir uns deshalb weniger Gedanken darüber machen, die EZB aufzuhalten, als die eigentlich zuständigen politischen Institutionen endlich zu einer funktionierenden Krisenlösungsstrategie zu bewegen.

Worin das eigentliche Demokratiedefizit der EU besteht

Und damit nähern wir uns dem eigentlichen Kern des europäischen Demokratiedefizits an. Denn dieses besteht eben nicht in einer ungebremsten Herrschaft nicht gewählter Experten – sondern ganz im Gegenteil in einem Zuviel an politischen Akteuren, das zu einer Auflösung von Verantwortlichkeiten führt. Dies beginnt bei der Wahl der Kommission, die nicht in erster Linie parteipolitischen Kriterien folgt, sondern dem Willen der nationalen Regierungen. Es zeigt sich in einem Gesetzgebungsverfahren, in dem kaum etwas ohne einen Kompromiss zwischen Kommission, Rat und Parlament beschlossen werden kann. Es setzt sich fort in einem Budgetverfahren, in dem jeder Staat ein Vetorecht besitzt, sodass der EU-Haushalt weniger eine gesamteuropäische Strategie als ein Tauziehen von Partikularinteressen widerspiegelt. Und schließlich manifestiert es sich noch in Details wie den Abstimmungsregeln im Europäischen Parlament, die oft breite fraktionenübergreifende Mehrheiten erzwingen und damit parteipolitische Unterschiede verdecken.

Was die europäische Politik bürgerfern und intransparent macht, ist nicht ein Übermaß an Expertokratie, sondern ein überkomplexes System politischer checks and balances. Gerade dadurch, dass Herrschaftsausübung auf europäischer Ebene nur im Konsens möglich ist, lässt es sich für den Bürger häufig nicht mehr nachvollziehen, welche Institution eine bestimmte Entscheidung zu verantworten hat und wie er selbst durch sein Wahlrecht darauf einwirken könnte, dass die Entscheidung anders ausfällt. Dies ist in der Tat ein Legitimationsproblem, das wir nicht unterschätzen dürfen. Schuld daran sind aber nicht irgendwelche Technokraten – sondern die nationalen Regierungen und Parlamente, die als „Herren der EU-Verträge“ zum großen Teil noch nicht bereit sind, zugunsten einer supranational-parlamentarischen Demokratie auf eigene Mitspracherechte zu verzichten.

Bild: antaldaniel [CC-BY-SA-2.0], via Flickr.