28 September 2013

Nach der Wahl ist vor der Wahl: Zwischenstand auf dem Weg zur Europawahl 2014

Das Gebäude des Europäischen Parlaments wurde schon mal kampagnenfertig gemacht.
Nun liegt sie also hinter uns, die Bundestagswahl 2013, die die deutsche Öffentlichkeit zuletzt so sehr in Beschlag genommen hat, dass (auch in diesem Blog) viele andere Themen etwas liegen geblieben sind. Während sich in Berlin die Personal- und Koalitionsdebatten auch in diesen Tagen weitergehen, wird es nun Zeit, mal wieder den Blick zu heben: Schließlich stehen in nicht einmal acht Monaten schon wieder die nächsten Wahlen an, wenn das Europäische Parlament neu zusammengesetzt wird. Und tatsächlich fanden auch auf europäischer Ebene in den letzten Wochen einige Vorwahlkampf-Manöver statt, die in dem nationalen Rummel leider untergingen. Deshalb hier ein kleiner Überblick, was bisher geschah.

Kick-off“ der Informationskampagne

Am 10. September hat die Vorwahlzeit offiziell begonnen. Jedenfalls startete an diesem Tag das Europäische Parlament (genauer: die Kommunikationsabteilung der Parlamentsverwaltung) eine „Informations- und Sensibilisierungskampagne“, mit der es die Bürger davon überzeugen will, dass vielleicht doch lohnenswert sein könnte, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Der zentrale Slogan der Kampagne lautet „Act – React – Impact“, auf Deutsch: „Handeln – Mitmachen – Bewegen“, und wer das etwas albern-trivial findet, ist mit dieser Einschätzung sicher nicht allein. Dazu gibt es bis jetzt ein kurzes Video, dessen Ästhetik stellenweise an einen Horror- oder Katastrophenfilm erinnert; weitere werden wohl folgen. Immerhin: Kosten soll der ganze Spaß diesmal nur 16 Millionen Euro, was 2 Millionen weniger wären als vor fünf Jahren.

Auch die Parlamentsverwaltung dürfte inzwischen verstanden haben, dass Informationskampagnen nicht das wichtigste Mittel sein können, um die Wähler an die Urnen zu bringen. Die Bürger geben ihre Stimme nicht dem Europäischen Parlament als Institution, sondern einer bestimmten Partei – und darum müssen auch in erster Linie die Parteien darlegen, was sie mit der Macht anfangen wollen, die sie dadurch erhalten. Staatsbürgerliches Pathos hilft da nicht weiter: Welche Bedeutung meine Wahl hat, weiß ich erst, wenn ich die Unterschiede zwischen den Wahlvorschlägen kenne. Und diese Unterschiede können die betreffenden Politiker nur selbst definieren.

Rede zur Lage der Union

Eine gute Gelegenheit zur Präsentation solcher Unterschiede wäre zum Beispiel die alljährliche Rede zur Lage der Union gewesen, die Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) am 11. September hielt. Doch leider blieb sie ungenutzt: Nur einen Tag zuvor hatte ein Sprecher des Parlaments die Ansprache als „Meilenstein“ der Informationskampagne bezeichnet; hinterher aber sprach selbst die biedere Neue Zürcher Zeitung von einer „insgesamt wenig inspirierenden Rede“. Noch 2012 hatte Barroso mit der Ankündigung überrascht, dass die Kommission vor den Europawahlen Vorschläge für die Weiterentwicklung der EU zu einer „demokratischen Föderation von Nationalstaaten“ vorlegen würde. Diesmal hingegen beschränkte er sich auf den Ausdruck „echte politische Union“ und die Forderung, das Regelwerk zur gemeinschaftlichen Abwicklung von Pleitebanken voranzutreiben.

In der weiteren Parlamentsdebatte über die Rede wurde Barroso von links wie rechts kritisiert; nur der Vorsitzende seiner eigenen Fraktion, Joseph Daul (UMP/EVP), verteidigte die Bilanz des Kommissionspräsidenten ein wenig. Sollte Barroso aber – wie bis heute immer wieder spekuliert wird – tatsächlich vorhaben, bei den Europawahlen noch einmal als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei anzutreten, dann hat er hier sicher eine Chance verpasst, eine breitere Öffentlichkeit für seine Visionen zu begeistern.

EVP: Bloß nicht zu viel Charisma

Oder aber Barroso hat einfach nur gut die internen Dynamiken der EVP verstanden, denn tatsächlich scheint sich die Begeisterung für Zukunftsvisionen dort in engen Grenzen zu halten. Angela Merkel (CDU/EVP) jedenfalls hat gerade erst auf nationaler Ebene einen eindrucksvollen Wahlsieg gewonnen, ohne dass in ihrem Wahlprogramm auch nur das Geringste über die künftige Gestalt der EU zu lesen gewesen wäre – und es ist kaum anzunehmen, dass sich die mächtigste Frau Europas nun ab 2014 einen charismatischen und ideenreichen Brüsseler Gegenspieler wünscht. Entsprechend zurückhaltend sind die potenziellen EVP-Kandidaten bisher.

Fest steht bislang, dass der polnische Premierminister Donald Tusk (PO/EVP), der lange als Favorit der Partei galt, nicht antreten will (obwohl etwa der Deutschlandfunk ihn immer noch zu den potenziellen Kandidaten zählt). Interesse hätte hingegen die derzeitige Justizkommissarin Viviane Reding (CSV/EVP), die jedoch vielen als „zu proeuropäisch“ gilt und deshalb an den Merkelianern scheitern dürfte. Außerdem brachte sich jüngst auch Michel Barnier (UMP/EVP) ins Gespräch, der als Binnenmarktkommissar in den letzten Jahren vor allem durch seine Vorschläge zur Bankenunion, aber auch durch die missglückte Kommunikation der Konzessionsvergabe-Richtlinie aufgefallen ist. Weitere mögliche Kandidaten wären der schwedische Premierminister Fredrik Reinfeldt (M/EVP) oder die parteilose, aber der EVP nahestehende litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė.

Mit erschwert wird die Kandidatensuche noch dadurch, dass der Vorsitzende der EVP, der 77-jährige Wilfried Martens (CD&V/EVP), an gesundheitlichen Problemen leidet und deshalb wohl nur eingeschränkt als Vermittler tätig sein kann. Und da die Partei bis jetzt auch noch kein Verfahren, geschweige denn einen Zeitplan für die Nominierung hat, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie zuletzt in aller Eile einen möglichst harmlosen Kompromisskandidaten präsentieren wird. Wie zum Beispiel Barroso.

ALDE: Guy Verhofstadt vs. Olli Rehn

Guy Verhofstadt (Mitte links) und Olli Rehn (Mitte rechts) wären beide gern Spitzenkandidat der europäischen Liberalen.
Mehr Bewegung gibt es derweil bei den europäischen Liberalen. Nachdem dort lange Zeit der derzeitige Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) als unangefochtener Favorit galt, erklärte Ende August überraschend auch Olli Rehn (Kesk./ALDE) sein Interesse an der Spitzenkandidatur. Für den parteiinternen Vorwahlkampf verspricht das Spannung, da Verhofstadt und Rehn für recht unterschiedliche Politikansätze stehen. Zusammen mit dem Grünen Daniel Cohn-Bendit ist Verhofstadt ein führendes Mitglied der föderalistischen Spinelli-Gruppe und Autor des Pamphlets Für Europa!, in dem sie in drastischen Worten die Gründung eines europäischen Bundesstaates als Lösung für die Eurokrise fordern.

Olli Rehn hingegen war in den letzten Jahren als Kommissar für Wirtschaft und Währung vor allem das Gesicht der europäischen Austeritätspolitik. Auch er befürwortet zwar die Einführung von Eurobonds, was vor allem die deutsche ALDE-Mitgliedspartei, die FDP, nicht gerne hören wird. Zugleich aber vertrat Rehn wie kein Zweiter den radikalen Sparkurs, mit dem die Krisenstaaten ihre Haushalte sanieren sollten, und prallte dabei unter anderem mit dem belgischen Entwicklungsminister Paul Magnette (PS/SPE) sowie mit dem amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman in spektakulären medialen Auseinandersetzungen zusammen.

Gelegenheit, um über diese und mögliche weitere Kandidaten zu diskutieren, werden die europäischen Liberalen auf einem Kongress Ende Oktober haben. Formelle Frist für die Nominierung ist dann der 19. Dezember, wenn sich die Chefs der nationalen Mitgliedsparteien zu einem kleinen Parteitag treffen. Die endgültige Entscheidung soll dann – nach einem noch festzulegenden Verfahren – voraussichtlich im Februar fallen.

Grüne: Startschuss für die Nominierungsphase

Bereits begonnen hat der Nominierungsprozess dagegen bei der Europäischen Grünen Partei: Seit dem 4. September können dort die nationalen Mitgliedsverbände ihre Kandidaten vorschlagen. Unter den Nominierten, die die Unterstützung von mindestens fünf Verbänden vorweisen können, soll dann ab November eine große Online-Vorwahl stattfinden, bei der sich alle europäischen Bürger beteiligen können, die sich zu den Grundwerten der Grünen bekennen. (Mehr zu dem Vorwahlverfahren hier.)

Aussichten auf die zwei Spitzenplätze haben dabei gleich mehrere Kandidaten. Die deutschen Grünen stellten bereits vor drei Wochen erneut die derzeitige Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms auf; außerdem dürften die Österreicherin Ulrike Lunacek (Grüne/EGP) und der Franzose José Bové (EELV/EGP) ins Rennen gehen. Und auch die Belgier Isabelle Durant und Philippe Lamberts (beide Ecolo/EGP) werden sich wohl um eine Nominierung bemühen – und dafür zunächst auf nationaler Ebene gegeneinander antreten müssen, um die Unterstützung ihrer Partei zu gewinnen.

SPE: Alles läuft auf Martin Schulz zu

Der Unvermeidliche? Martin Schulz dürfte in den nächsten Monaten noch viele Hände schütteln.
Am deutlichsten schließlich sieht die Lage bei den europäischen Sozialdemokraten aus. Dort beginnt die offizielle Nominierungsphase zwar erst am 1. Oktober, und darauf soll noch ein recht aufwendiges Vorwahlverfahren folgen. Doch schon jetzt scheint festzustehen, wer daraus als Sieger hervorgehen wird: der Deutsche Martin Schulz (SPD/SPE), seit 2012 Präsident des Europäischen Parlaments, der recht offensichtlich schon länger auf diese Nominierung hinarbeitet und in der Partei auch auf breite Zustimmung zählen kann.

Etwas bedauerlich wäre es freilich schon, wenn Schulz zuletzt ganz ohne Konkurrenz zum Spitzenkandidat der SPE ernannt würde. Schließlich sollten die Vorwahlen auch als Anlass zu einer länderübergreifenden Debatte und als Aufhänger für das Interesse der Medien dienen. Allerdings erscheint es eher unwahrscheinlich, dass allzu viele andere Sozialdemokraten Lust haben werden, es auf eine mögliche Vorwahl-Niederlage ankommen zu lassen. Für die dänische Premierministerin Helle Thorning Schmidt (S/SPE), über deren Interesse an der Kommissionspräsidentschaft verschiedentlich spekuliert wurde, wäre eine Kandidatur jedenfalls auch mit Risiken für ihr Image auf nationaler Ebene verbunden.

MyVote2014

Aber nicht nur im Europäischen Parlament und in den verschiedenen europäischen Parteien beginnen sich die Maschinen in Bewegung zu setzen. Auch in der Zivilgesellschaft werden bereits die ersten Wahlaktionen vorbereitet. So dürfte es insbesondere die Wahlomat-begeisterten Deutschen freuen, dass vor wenigen Tagen eine erste Online-Orientierungshilfe für die Europawahl erschienen ist. Sie nennt sich MyVote2014 und wurde von den Betreibern der Seite VoteWatch.eu entwickelt, die das Abstimmungsverhalten der Fraktionen und einzelnen Abgeordneten im Europäischen Parlament dokumentiert.

Entsprechend basiert auch MyVote2014 (anders als etwa der Wahlomat vor der Bundestagswahl) nicht auf den Wahlprogrammen der Parteien, die ohnehin erst in den nächsten Monaten veröffentlicht werden sollen. Stattdessen können die Benutzer ihre Meinung zu 15 europapolitischen Themen angeben und diese dann mit dem realen Abstimmungsverhalten der Parlamentsparteien in den letzten fünf Jahren vergleichen. Wer Spaß daran hat: Hier ist der Link.

Weitere Artikel zur Europawahl in diesem Blog:

Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!
Europawahl 2014: Wie die europäischen Parteien ihre Spitzenkandidaten wählen
● Nach der Wahl ist vor der Wahl: Zwischenstand auf dem Weg zur Europawahl 2014
Parlamentarismus wagen: Die Spitzenkandidaten zur Europawahl schwächen den Europäischen Rat und stärken die Demokratie
Martin Schulz, Alexis Tsipras und noch immer kein Christdemokrat: erste Vorentscheidungen im Europawahlkampf
Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (1)
Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (2)
„Green Primary Debate“ in Berlin: Eindrücke aus einem transnationalen Wahlkampf
Grüne Enttäuschungen, liberale Kompromisse – und immer noch kein Christdemokrat: Neues aus dem Europawahlkampf
Krisenstaaten wählen links, kleine Länder liberal, und die Christdemokraten sind vor allem in der Eurozone stark: Zur Wahlgeografie der Europäischen Union
Die AfD und ihre Partner: Wie sich die europäische Rechte nach der Europawahl verändern wird
Juncker, Schulz – oder doch ein ganz anderer? Die Chancen im Wettstreit um die Kommissionspräsidentschaft
Nach der Europawahl

Bilder: European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Alberto Novi (ALDEADLE) [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr; Matthias Groote [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.

18 September 2013

Die Bundestagswahl und Europa (13): EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung

Bei der Bundestagswahl im kommenden September wählen die Deutschen nicht nur ihre nationalen Abgeordneten, sondern auch ihre Vertreter in den intergouvernementalen EU-Organen. Welche Alternativen stehen dabei zur Auswahl? In einer Sommerserie vergleicht dieses Blog die europapolitischen Vorschläge in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien – CDU/CSU (EVP), SPD (SPE), FDP (ALDE), Grüne (EGP) und Linke (EL). Als letzte Folge heute: die Zukunft der EU. (Zum Anfang der Serie.)

Reform der EU-Verträge

„Mehr Europa“ ist schnell gesagt. Erfreulicherweise haben die meisten deutschen Parteien auch noch ein paar konkretere Reformvorschläge.
Wenn über die weitere Entwicklung der Europäischen Union eines sicher ist, dann dass die nächsten Jahre große Veränderungen bringen werden. Die Eurokrise hat nicht nur zahlreiche Designfehler der Währungsunion offengelegt, sondern auch verdeutlicht, wie schwer es der EU mit ihrem heutigen Institutionengefüge fällt, im Ernstfall gesellschaftliche Zustimmung für ihre Entscheidungen zu erzeugen. Europa muss nicht nicht nur handlungsfähiger, sondern auch demokratischer werden: Diese Überzeugung scheint nicht nur in Brüssel, sondern auch in vielen anderen europäischen Hauptstädten an Kraft zu gewinnen. Gut möglich, dass wir deshalb noch vor der Bundestagswahl 2017 die nächste große EU-Vertragsänderung nach Lissabon erleben werden. Und natürlich käme der nächsten deutsche Bundesregierung dabei eine entscheidende Rolle zu. Was also sagen die deutschen Parteien zu diesem Thema?

Im Fall der CDU/CSU ist die Antwort auf diese Frage kurz: nichts. Im Wahlprogramm der Kanzlerinnenpartei findet sich lediglich ein einziger europapolitischer Vorschlag, der eine Vertragsreform erforderlich machen würde; er lautet: „Wir halten an unserem Ziel fest, die im Grundgesetz betonte Verantwortung vor Gott auch im EU-Vertrag deutlich zu machen.“ Über darüber hinausgehende Neuordnungen etwa im Kompetenzgefüge der EU möchte Angela Merkel gerne „nach der Bundestagswahl“ diskutieren – also wenn der Wähler sein Kreuz bereits gesetzt hat.

Europäischer Konvent

Alle anderen Bundestagsparteien hingegen sprechen sich in ihren Wahlprogrammen ausdrücklich für eine Vertragsreform aus. Als Weg dafür fordern SPD, Grüne und FDP die Einberufung eines Europäischen Konvents, an dem nach Art. 48 EU-Vertrag Vertreter des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission, der nationalen Regierungen und der nationalen Parlamente beteiligt wären. Außerdem wollen die Grünen auch „Vertreterinnen und Vertreter […] der Zivilgesellschaft und SozialpartnerInnen“ mit einbinden, ohne genau zu erklären, wie das rechtlich zu bewerkstelligen wäre. Die FDP wiederum behält sich vor, auch andere Wege zu nutzen, falls „die Konventsmethode nicht gangbar ist, weil einige wenige nicht wollen“: In diesem Fall soll die Vertragsreform nach dem Vorbild des Fiskalpakts erfolgen, also durch einen eigenen völkerrechtlichen Vertrag, der neben dem alten EU-Vertrag existieren würde.

Über die grundsätzliche Richtung der Vertragsreform sind sich die Parteien weitgehend einig: Die Grünen wollen „mehr Demokratie“ und „Mitbestimmung der europäischen BürgerInnen auf allen politischen Ebenen“, die SPD will die EU „demokratischer, transparenter, gerechter und effizienter“ machen, die Linke „eine demokratische, soziale, ökologische und friedliche Europäische Union“. Das anspruchsvollste Schlagwort gebraucht die FDP: Am Ende der Vertragsreformen soll für sie „ein durch eine europaweite Volksabstimmung legitimierter europäischer Bundesstaat stehen“. Blickt man allerdings etwas genauer hin, so geben die Positionen der Parteien schnell ein deutlich differenziertes Bild.

Stärkung des Europäischen Parlaments

SPD, FDP, Grüne und Linke wollen dem Europäischen Parlament mehr Macht verleihen.
Bei der Demokratisierung des institutionellen Gefüges setzen alle vier Parteien auf eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Die SPD will das „Gewaltenteilungsmodell, das wir aus den nationalen Staaten kennen, auch auf die europäische Ebene übertragen“. Dafür soll die Europäische Kommission „zu einer Regierung ausgebaut werden, die vom Europaparlament gewählt und kontrolliert wird und ggf. abgesetzt werden kann“. Im Zuge einer „vollen Parlamentarisierung der EU“ soll das Parlament künftig ein Recht zur Gesetzesinitiative erhalten. Außerdem will die SPD eine „parlamentarisch kontrollierte Wirtschaftsregierung“ der Eurozone, für die „Europäisches Parlament und nationale Parlamente weiter gestärkt werden“ sollen. Wie das im Einzelnen aussehen soll, erklärt sie allerdings nicht.

Auch die Grünen sprechen sich für eine weitere Parlamentarisierung aus, was sich in dem Programm in der technisch formulierten Forderung niederschlägt, der „Gemeinschaftsmethode […] grundsätzlich Vorrang vor intergouvernementalem Handeln einzuräumen“. Im Einzelnen wollen auch sie dem Parlament das Recht zur Wahl des Kommissionspräsidenten, das Recht zur Gesetzesinitiative und ein „Mitspracherecht bei den Krisenmechanismen und der Economic Governance“ geben. Außerdem soll bei der Bankenaufsicht eine „demokratische Rechenschaftspflicht der EZB gegenüber dem Europaparlament“ sichergestellt werden.

Etwas unspezifischer sind FDP und Linke. Die FDP will das Europäische Parlament „zu einem Vollparlament mit gleichberechtigtem Initiativrecht in der Gesetzgebung“ machen, schreibt aber auch dem Ministerrat eine „essentielle Rolle“ zu, „um demokratische Kontrolle und politischen Ausgleich […] im europäischen Mehrebenensystem zu garantieren“. Die Linke wendet sich gegen die „immer stärkere Ersetzung von Unionsrecht durch Vereinbarungen zwischen EU-Organen und Mitgliedstaaten“ und will die „Rechte des Europäischen Parlaments […] stärken“, geht darauf aber nicht näher ein.

Reform des Europawahlrechts

Wenn das Europäische Parlament noch stärker ins Zentrum des Institutionengefüges rücken soll, dann stellt sich natürlich auch die Frage, wie es eigentlich gewählt wird. Viel diskutiert wird dabei seit einigen Jahren die Forderung, dass die europäischen Parteien bei der Europawahl künftig mit transnationalen Listen antreten sollen – auch in diesem Blog habe ich dazu bereits einiges geschrieben. In den Wahlprogrammen von FDP und Grünen stößt dieser Vorschlag auf Zustimmung.

Die SPD hingegen stellt beim Europawahlrecht ein anderes Ziel in den Vordergrund: Sie will die „Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments dadurch stärken, dass wir uns in Deutschland sowie in der EU für Sperrklauseln bei der Europawahl einsetzen“. Auf nationaler Ebene hat der Bundestag diese Forderung allerdings bereits vor einigen Monaten mit der umstrittenen Dreiprozenthürde umgesetzt.

Europaweite Volksentscheide

Eine der meistgepriesenen Reformen des Vertrags von Lissabon war die Einführung der Europäischen Bürgerinitiative, durch die erstmals direktdemokratische Elemente auf EU-Ebene eingeführt wurden. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um eine Art Volkspetition, die so gut wie keine verbindlichen Folgen hat. Verschiedene Beobachter, darunter auch ich selbst, haben daher schon Zweifel geäußert, wie viel die Bürgerinitiative letztlich tatsächlich bewirken kann.

Unter den deutschen Parteien fordern die Linke und die Grünen, die direkte Demokratie in der EU weiter auszubauen. Die Grünen wollen die Europäische Bürgerinitiative weiter stärken und mittelfristig in Richtung eines europäischen Volksentscheides entwickeln“; die Linke will „verbindliche Volksbegehren und Volksentscheide [...], mit denen auch die EU-Verträge geändert werden können“. Die übrigen Parteien äußern sich nicht zu dem Thema.

Verstoß von Mitgliedstaaten gegen Werte der Union

Ein weiteres Problem, das in den letzten Jahren viel diskutiert wurde, ist der Umgang der EU mit Regierungen ihrer Mitgliedstaaten, die gegen die Grundwerte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Die Verfassungskrisen in Ungarn und Rumänien verdeutlichten, wie machtlos die europäischen Institutionen hier sind: Außer Art. 7 EU-Vertrag hält das Europarecht kaum Sanktionsmöglichkeiten gegen solche Regierungen vor; Artikel 7 aber ist mit solch hohen Hürden versehen, dass er praktisch irrelevant ist.

In ihren Wahlprogrammen erklären sich Grüne und FDP mit dieser Situation unzufrieden. Beide scheinen allerdings auch ein wenig ratlos, wie ihr abzuhelfen wäre. So fordert die FDP nur allgemein, „unterhalb dieser Schwelle des Artikels 7 […] einen angemessenen Mechanismus [zu] schaffen, der es der Europäischen Kommission erlaubt, die europäischen Grundwerte in den Mitgliedstaaten zu verteidigen und nötigenfalls spürbare und angemessene Sanktionen zu verhängen“. Kaum konkreter werden die Grünen. Diese wollen, dass die Kommission „viel öfter die bestehenden Möglichkeiten [nutzt]“, um europäische Geldzahlungen an die betreffenden Regierungen zurückzuhalten. Außerdem soll „diese Möglichkeit auf alle Teile des Unionshaushalts ausgedehnt werden“. Nach einer allzu großen Neuerung klingt das nicht. Die übrigen Parteien allerdings sagen zu dem Problem überhaupt nichts.

Europäische Steuern

Das Wort „Eigenmittelsystem“ klingt, als wäre es gerade dem Bürokraten-Handbuch entsprungen. Doch was sich dahinter verbirgt, ist nichts anderes als die Frage, wie die Ausgaben der Europäischen Union künftig finanziert werden sollen. Derzeit erfolgt dies im Wesentlichen durch Beiträge der Mitgliedstaaten, deren Höhe sich jeweils am nationalen Bruttoinlandsprodukt orientiert, wobei allerdings mehrere Nettozahler-Staaten (darunter neben Großbritannien auch Deutschland) besondere Beitragsrabatte genießen. In den letzten Jahren forderten die Kommission und das Europäische Parlament wiederholt eine Reform dieses Systems, bei der ein Großteil der nationalen Beiträge durch eine eigene EU-Steuer ersetzt werden soll. Von mehreren Mitgliedstaaten, insbesondere von der deutschen Bundesregierung, wurde dies bislang allerdings strikt abgelehnt.

In ihren Wahlprogrammen äußern sich nur Grüne und FDP zu dieser Frage – mit diametral entgegengesetzten Positionen. Die Grünen stellen sich dabei hinter die Forderung der Kommission und verlangen, dass der „Eigenmittelanteil […] erheblich ausgeweitet und die intransparenten Rabattregelungen abgeschafft werden“. Außerdem soll die Finanztransaktionssteuer künftig direkt „in den EU-Haushalt“ fließen. Die FDP hingegen will, dass „die EU-Mitgliedstaaten die eigene Budgethoheit und die Verantwortung zu sorgfältigem Haushalten auch in Zukunft behalten“, und lehnt eine EU-Steuer deshalb rundheraus ab. Nimmt man das FDP-Programm als Ganzes, führt dies zu dem bemerkenswerten Umstand, dass die Liberalen einen europäischen Bundesstaat wünschen, der jedoch keine Möglichkeit haben soll, sich selbstständig zu finanzieren.

Weitere institutionelle Forderungen

Auch sonst sind Grüne und FDP die Parteien mit den meisten Wünschen zur EU-Vertragsreform. Außer den genannten Vorschlägen wollen die Grünen auch, dass EU-Bürger ein allgemeines Wahlrecht an ihrem Wohnsitz erhalten, „und dies nicht nur für Kommunalparlamente und das Europaparlament, sondern auch bei regionalen und nationalen Wahlen, wenn sie seit fünf Jahren dort leben“. Außerdem wollen die Grünen das Amt des Kommissars für Wirtschaft und Währung aufwerten: Außer seinen bisherigen Zuständigkeiten soll er künftig auch „den Vorsitz der Eurogruppe und des ECOFIN ausüben“ und „durch das Europäische Parlament individuell wähl- und abwählbar sein“.

Die FDP wiederum fordert eine „Verkleinerung der Europäischen Kommission“, durch die künftig nicht mehr jeder Mitgliedstaat einen Kommissar stellen könnte. Außerdem will sie eine „zügige Umsetzung des Beitrittsabkommens“ der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention, das derzeit verhandelt wird. Und schließlich möchte die FDP „die Bundesbank im EZB-Rat stärken“, indem sie bei „außergewöhnlichen Entscheidungen wie dem Aufkauf von Staatsanleihen“ ein Veto-Recht erhalten soll – auch dies ein Vorschlag, über den ich in diesem Blog bereits ausführlicher geschrieben habe.

Kerneuropa

Wenig Informatives findet sich in den Wahlprogrammen zu der Frage, was die Europäische Union tun soll, wenn sich einzelne Mitgliedstaaten (sprich: Großbritannien) künftigen Integrationsschritten verweigern. Die FDP möchte in diesem Fall, wie schon erwähnt, Parallelverträge nach dem Vorbild des Fiskalpakts abschließen. Auch die Grünen sehen die Notwendigkeit, notfalls „im Einzelfall vorübergehend unterschiedliche Geschwindigkeiten der Integration zu entwickeln“. Dabei müssten aber „die Institutionen und Regeln des Gemeinschaftsrechts“ den „Rahmen der Zusammenarbeit“ bilden – was vermutlich ein verklausulierter Hinweis auf das Instrument der Verstärkten Zusammenarbeit ist.

Die CDU/CSU wiederum will „möglichst gemeinsam mit allen EU-Partnern voranschreiten“, spricht sich aber zugleich für eine „starke deutsch-französische Partnerschaft“ als „Motor“ der europäischen Integration sowie für die „Zusammenarbeit von Frankreich, Polen und Deutschland im Weimarer Dreieck“ aus. Genaueres ist von ihr (wie auch von SPD und Linke) nicht zu erfahren.

Subsidiarität, Renationalisierung von Kompetenzen

Ein beliebtes Schlagwort in der europäischen Debatte ist das (auch in Art. 5 EU-Vertrag verankerte) „Subsidiaritätsprinzip“, demzufolge Kompetenzen stets von der niedrigsten politischen Ebene ausgeübt werden sollen, die dazu sinnvoll in der Lage ist. Fast alle deutschen Parteien bekennen sich in ihren Programmen noch einmal ausdrücklich zu diesem Grundsatz – allerdings ohne daraus besonders konkrete Forderungen abzuleiten.

So will die CDU/CSU explizit „kein zentralistisch organisiertes und regiertes Europa“, sondern verlangt, dass „die Nationalstaaten und die Regionen prägende Bestandteile eines Europas der Einheit in Vielfalt“ bleiben. SPD und Grüne wollen unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip prüfen, „ob sich die Kompetenzverteilung zwischen nationaler und europäischer Ebene bewährt hat“ (SPD), und sind „grundsätzlich dafür, Kompetenzen auf untere Ebenen zurückzugeben, wenn es sachlich sinnvoll erscheint“ (Grüne). Welche Kompetenzen das sein könnten, verraten sie allerdings nicht. Die FDP schließlich fordert ein neu zu gründendes „europäisches Subsidiaritätsgericht, in dem man auch Kompetenzverstöße rügen kann“. Wie sich dieses Subsidiaritätsgericht zusammensetzen und worin es sich vom bereits existierenden Europäischen Gerichtshof unterscheiden soll, bleibt dabei jedoch offen.

EU-Erweiterung, Beitritt der Türkei

Im Großen und Ganzen sehen es die deutschen Parteien gern, wenn die hellblauen Flecken auf der Europakarte dunkelblau werden.
Wenn es um die Weiterentwicklung der EU geht, darf natürlich auch die Frage nicht fehlen, welche Länder ihr denn künftig angehören sollen. Außer Island, das die Verhandlungen jüngst auf Eis gelegt hat, haben derzeit Mazedonien, Montenegro, Serbien und die Türkei den Status eines Beitrittskandidaten; Albanien, Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo gelten offiziell als „potenzielle Beitrittskandidaten“.

Bis auf die Linke, die die Frage in ihrem Programm nicht thematisiert, bekennen sich alle deutschen Bundestagsparteien grundsätzlich zu der Beitrittsperspektive für die Staaten des Westbalkans, sobald diese die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Die FDP fordert zudem, dass jedes dieser Länder „vor einer Entscheidung über seine Aufnahme alle offenen Streitfragen mit seinen Nachbarn abschließend lösen“ muss – was in erster Linie auf Serbien und Kosovo, aber auch auf Griechenland und Mazedonien anspielen dürfte. Außerdem will die FDP auch der Ukraine „langfristig […] eine Chance auf eine Beitrittsperspektive“ geben, „wenn sie in den kommenden Jahren konsequent auf einen Modernisierungskurs setzt und sich kontinuierlich an EU-Standards heranarbeitet“.

Traditionell umstritten ist hingegen der Beitritt der Türkei. SPD, Grüne und FDP wollen hier dieselben Kriterien wie auf dem Westbalkan anlegen und die Verhandlungen „mit dem klaren Ziel eines EU-Beitritts“ (SPD) fortsetzen, auch wenn zuvor noch „Defizite, z.B. im Fall von Pressefreiheit, Frauenrechten und Minderheitenschutz“ (Grüne) behoben werden müssen. Die CDU/CSU hingegen ist nur für eine „enge und besondere Zusammenarbeit“ und lehnt eine Vollmitgliedschaft der Türkei ab, weil diese „die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt nicht erfüllt“ und die EU „angesichts der Größe des Landes und seiner Wirtschaftsstruktur“ überfordert wäre. Bemerkenswerterweise spiegelt diese Begründung allerdings nur die Kopenhagener Kriterien wider, zu denen sich auch die übrigen Parteien bekennen. Insgesamt scheint sich die CDU/CSU in dieser Frage inzwischen also nicht mehr ganz so grundsätzlich von den übrigen Parteien abzugrenzen wie in der Vergangenheit.

Fazit

Wer wissen will, wie das künftige institutionelle Gefüge der Europäischen Union aussehen könnte, der braucht im CDU/CSU-Wahlprogramm nicht nach Antworten suchen. Alle anderen Parteien wollen eine Vertragsreform, um das Europäische Parlament zu stärken und die EU an das Vorbild nationaler Demokratien anzugleichen. Insbesondere soll nach dem Wunsch von SPD und Grünen künftig das Parlament allein den Kommissionspräsidenten wählen. FDP und Grüne fordern außerdem transnationale Listen bei der Europawahl; Grüne und Linke wollen die Einführung europaweiter Volksentscheide. Außerdem sind die Grünen für ein allgemeines Unionsbürgerwahlrecht auch bei regionalen und nationalen Wahlen. Die FDP wiederum will die Europäische Zentralbank reformieren, um der deutschen Bundesbank ein Vetorecht zu verschaffen.

Uneinigkeit besteht zwischen Grünen und FDP über die Art, wie der EU-Haushalt künftig finanziert werden soll: Während die Grünen dafür eine europäische Steuer einführen möchten, beharren die Liberalen strikt auf einem System nationaler Mitgliedsbeiträge. In der Erweiterungspolitik sind sich alle Parteien hingegen weitgehend einig: Auch in der Frage des türkischen Beitritts zeigt die CDU/CSU zwar weiterhin die meisten Vorbehalte, nähert sich aber den Argumenten der übrigen Parteien an.

Die Bundestagswahl und Europa – Überblick:

1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung

Bild: By Rock Cohen [CC BY 2.0], via Flickr; European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Kolja21 (derivative work: Treehill) [Public domain], via Wikimedia Commons.

15 September 2013

Die Bundestagswahl und Europa (12): Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik

Bei der Bundestagswahl im kommenden September wählen die Deutschen nicht nur ihre nationalen Abgeordneten, sondern auch ihre Vertreter in den intergouvernementalen EU-Organen. Welche Alternativen stehen dabei zur Auswahl? In einer Sommerserie vergleicht dieses Blog die europapolitischen Vorschläge in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien – CDU/CSU (EVP), SPD (SPE), FDP (ALDE), Grüne (EGP) und Linke (EL). Heute: Grenzen. (Zum Anfang der Serie.)

Reform des Schengener Grenzkodex

Willkommen in Europa: Wie offen die europäischen Grenzen sein sollen, ist unter den Bundestagsparteien umstritten.
Zu den populärsten Errungenschaften der europäischen Integration zählt ohne Zweifel die Reisefreiheit. Das 1995 in Kraft getretene Schengener Abkommen, das sich jetzt in Art. 77 AEUV und dem 19. Protokoll zum EU-Vertrag wiederfindet, ermöglicht den Bürgern, sich in fast allen europäischen Ländern ohne Grenzkontrollen frei zu bewegen. In den letzten Jahren allerdings zeigte dieses System einige Schwächen: Als 2011 zahlreiche Flüchtlinge aus Nordafrika in Italien Touristenvisa erhielten und damit nach Frankreich weiterreisen wollten, berief sich die französische Regierung unter Nicolas Sarkozy (UMP/EVP) auf eine Ausnahmeregelung im Schengener Grenzkodex, die im Falle einer „schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit“ die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen erlaubt. Kurz darauf tat es ihr auch die dänische Regierung gleich – ihrerseits ganz ohne äußeren Anlass und offenbar nur als PR-Aktion in einem Wahlkampf, den sie letztlich verlor.

Auch wenn sich die Aufregung nach einigen Wochen wieder legte, verdeutlichte sie, wie missbrauchsanfällig die Ausnahmeregelungen im Grenzkodex waren. Die Kommission leitete deshalb eine Reform ein, die in den letzten Jahren zwischen den EU-Institutionen verhandelt wurde. Doch während die supranationalen Organe damit vor allem verhindern wollten, dass die Mitgliedstaaten ohne triftigen Grund wieder Kontrollen einführen können, bemühten sich einige Regierungen eher um eine Ausweitung der nationalen Spielräume. Insbesondere die Innenminister von Frankreich und Deutschland, Claude Géant (UMP/EVP) und Hans-Peter Friedrich (CSU/EVP) verlangten unter Verweis auf die „nationale Souveränität“ ein Letztentscheidungsrecht der Mitgliedstaaten (mehr dazu hier und hier). In ihren Bundestagswahlprogrammen stellen sich FDP und Grüne nun auf Seiten der Kommission: Die Liberalen sind „vehement dagegen, nationalen Regierungen einen Blanko-Scheck zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen zu geben“; für die Grünen soll die Wiedereinführung von Grenzkontrollen „allerletztes Mittel“ bleiben und „nur gemeinsam auf europäischer Ebene entschieden und überprüft werden“. In Anspielung auf die Vorfälle von 2011 betonen sie zudem, „verstärkte Einwanderung“ sei „für uns definitiv kein Grund für die Schließung der Binnengrenzen“.

Allerdings könnten die Parteien damit ein wenig spät dran sein. Inzwischen steht das Verfahren für die Reform des Grenzkodex nämlich ohnehin kurz vor dem Abschluss. Heraus kam ein Kompromiss, mit dem die Mitgliedstaaten weiterhin einseitig eine vorübergehende Grenzschließung anordnen können. Die Kommission wird jedoch einen konkreten Leitfaden erlassen, in welchen Fällen dies erlaubt ist (wobei, ganz wie die Grünen fordern, verstärkte Migration als Rechtfertigungsgrund ausgeschlossen wurde). Die Kontrolle im Einzelfall bleibt dann jedoch wiederum dem Ministerrat überlassen. Erst die Zukunft wird zeigen, wie tragfähig dieser Kompromiss ist. Fürs Erste aber scheint das Thema nicht mehr ganz oben auf der Tagesordnung zu stehen.

Armutszuwanderung“, Sinti und Roma

Mit den offenen Grenzen im Schengenraum verwandt, aber nicht identisch ist das Grundrecht auf Freizügigkeit, das in Art. 21 AEU-Vertrag festgehalten ist. Demnach hat jeder EU-Bürger „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten […] frei zu bewegen und aufzuhalten“. Dieses Recht wird allerdings durch eine Richtlinie insoweit eingeschränkt, als der Bürger bei einem mehr als dreimonatigen Aufenthalt erwerbstätig sein oder anderweitig über „ausreichende Existenzmittel“ und eine Krankenversicherung verfügen muss. Nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer darf ihm das Aufnahmeland dann auch den Zugang zum Sozialsystem nicht verwehren, wenn er beispielsweise unfreiwillig arbeitslos wird.

Vor allem infolge der Eurokrise nahm die Binnenmigration in Europa in den letzten Jahren deutlich zu, da viele Bürger aus dem wirtschaftlich schwachen Süd- und Osteuropa in die wohlhabenderen Staaten wie Deutschland auswanderten. Besondere Aufmerksamkeit fand dabei die verstärkte Einwanderung von Sinti und Roma aus Rumänien und Bulgarien, die in ihren Herkunftsländern nicht nur unter ökonomischer Not, sondern auch unter sozialer Diskriminierung leiden – oft aber nicht über das Einkommen und die Krankenversicherung verfügen, die in der Freizügigkeitsrichtlinie gefordert werden. Spätestens seitdem der Deutsche Städtetag im Februar 2013 in einem Positionspapier vor der wachsenden „Armutszuwanderung“ warnte, die die Kommunen rechtlich und finanziell überfordere, ist das Thema in Deutschland zum Politikum geworden. Auch die Wahlprogramme von CDU/CSU, SPD und Grünen gehen darauf ein.

Missbrauch des Sozialsystems oder Diskriminierungsproblem?

Interessant ist dabei allerdings, wie unterschiedlich das Thema von den Parteien gedeutet wird. Für die CDU/CSU liegt das Hauptproblem im Schutz der deutschen Sozialversicherungskassen: „Eine Zuwanderung, die darauf gerichtet ist, die europäische Freizügigkeit zu missbrauchen und die sozialen Sicherungssysteme unseres Landes auszunutzen, lehnen wir ab.“ Stattdessen verlangt die Partei nach einer „europäischen Lösung, um die Lage in den Herkunftsländern zu verbessern“.

Die Grünen hingegen sehen eher einen Fall von ethnischer Diskriminierung. Als einzige Partei sprechen sie explizit an, dass es sich bei den Betroffenen vor allem um Roma handelt und fordern eine Umsetzung der „EU-Romastrategie“, die Deutschland 2011 auf Basis europäischer Vorgaben entwickelt hat. Zudem schlagen sie ein „Programm zur wirksamen Inklusion der Roma in ihren wichtigsten Herkunftsländern“ vor und wollen „Herausforderungen wie massive Armut und Arbeitslosigkeit, Diskriminierung oder Korruption […] gemeinsam europäisch“ angehen. Außerdem sollen „[a]lle EU-BürgerInnen, gleich welcher Herkunft oder Ethnie, […] auch in Zukunft die Möglichkeit haben, sich in einem anderen EU-Land Arbeit zu suchen“ – wobei diese letzte Forderung freilich nur wiedergibt, was ohnehin in den EU-Verträgen steht.

Die SPD schließlich will sowohl „für die besonders von Armutszuwanderung betroffenen Städte ein Sofortprogramm des Bundes zur Verfügung stellen“ als auch eine „rasche Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsstaaten“. Auch die Sozialdemokraten erkennen dabei ein Problem ethnischer Diskriminierung und verlangen daher ausdrücklich, dass die EU-Mitgliedstaaten „den Schutz ihrer Minderheiten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gewährleisten“. Anders als die Grünen fordert die SPD hierfür allerdings kein gesamteuropäisches Programm, sondern sieht offenbar nur die anderen nationalen Regierungen in der Pflicht.

Polizeiliche Zusammenarbeit

Die Abschaffung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum bedeutete nicht nur eine große Erleichterung für Reisende, sondern erleichterte auch die grenzüberschreitende Kriminalität. Seit den neunziger Jahren begannen die EU-Staaten deshalb auch die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz immer enger auszubauen. Besonders bekannt ist etwa der europäische Haftbefehl, der 2002 eingeführt wurde und die Auslieferung von Verdächtigen zwischen den Mitgliedstaaten stark vereinfachte.

Wie weit die polizeiliche Zusammenarbeit in Zukunft gehen sollte, ist Thema in mehreren Wahlprogrammen der Bundestagsparteien. Auf Law and Order setzt dabei vor allem die CDU/CSU, die „grenzüberschreitende Kriminalität besser verhindern bzw. verfolgen“ will und dafür eintritt, „dass die entfallenen Grenzkontrollen im Schengen-Raum weiterhin durch geeignete Maßnahmen ausgeglichen werden, wie etwa durch anlassunabhängige Kontrollen entlang der Grenze“. Außerdem will die Partei die „grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit […] weiter stärken“, und zwar „insbesondere mit den gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn aufgebauten polizeilichen Zentren“.

Grüne und Linke hingegen geben sich eher skeptisch. Für die Grünen etwa muss die Zusammenarbeit „mit verbindlichen hohen Standards zu Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit“ einhergehen. Unter anderem fordern sie „einheitliche Rechtsgrundlagen und Verfahrensstandards“ bei transnationalen Polizeieinsätzen sowie eine „Verankerung verbindlicher und starker Rechte von Beschuldigten und StrafverteidigerInnen und transnationalem Rechtsschutz“. Ähnlich fordert auch die Linke, dass in den Bestimmungen zum europäischen Haftbefehl „das Recht auf anwaltliche Unterstützung und Übersetzung gesichert“ wird. Nichts zu dem Thema sagen SPD und FDP.

Flüchtlingspolitik, Dublin-Verordnung

Wie oben erwähnt, stand am Anfang der Diskussion über die Schengen-Reform eine große Zahl von Migranten, die 2011 aus Nordafrika nach Italien kamen und an die die italienische Regierung Touristenvisa ausstellte, um sie nicht als Flüchtlinge behandeln zu müssen. Der Grund für diesen Trick ist einfach: Mit einem Touristenvisum bestand die Chance, dass die Neuankömmlinge in andere EU-Staaten weiterziehen und dort untertauchen würden. Sobald sie hingegen in Italien einen Asylantrag stellten, hätte sich das Land gemäß der sogenannten Dublin-II-Verordnung selbst um sie kümmern müssen. Diese schreibt seit 2003 vor, dass Asylbewerber ihren Antrag stets in jenem Land stellen müssen, in dem sie zuerst EU-Territorium betreten haben. In den letzten Jahren führte dies zu einer starken Lücke bei den Asylbewerberzahlen der verschiedenen Mitgliedstaaten: Während in Binnenstaaten wie Deutschland kaum noch Flüchtlinge ankommen, sind die südeuropäischen Länder – besonders Italien und Griechenland – massiv überfordert, was teils zu menschenunwürdigen Zuständen in Asylbewerberheimen führt.

Mit der Schengen-Debatte begann daher auch eine Diskussion über eine Reform der Dublin-Verordnung, die sich nun in den Wahlprogrammen niederschlägt. Fast alle Parteien fordern dabei Veränderungen. Am weitesten gehen Grüne und Linke, die die Dublin-Regelung komplett abschaffen wollen. Stattdessen sollen die Flüchtlinge selbst entscheiden, wo sie Asyl beantragen. Zudem fordern die Grünen, dass die Asylstandards in allen Mitgliedstaaten auf ein einheitliches hohes Niveau gehoben werden, wobei Deutschland „die stark betroffenen Aufnahmestaaten unterstützen“ soll. Und auch der Schutz von „Umwelt- und Klimaflüchtlingen“ soll nach Ansicht der Grünen europaweit verankert werden.

Nicht ganz so weit geht die FDP. Auch diese fordert eine „europaweite menschenwürdige Regelung des Grundrechts auf Asyl“. Besonders sollen Flüchtlinge, die nach Deutschland weitergereist sind, obwohl sie eigentlich in einem anderen EU-Land einen Asylantrag hätten stellen müssen, nur dann dorthin ausgewiesen werden, wenn es „eindeutige und gemeinsame Bestimmungen über sichere Drittstaaten“ gibt – das heißt, das andere EU-Land darf den Flüchtling nur dann abschieben, wenn Deutschland sein Ursprungsland ebenfalls als sicher ansieht. Eine freie Wahl, wo der Flüchtling Asyl beantragen will, möchte die FDP jedoch nicht. Stattdessen ist sie für einen „Europäischen Verteilungsschlüssel für Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge – ähnlich dem Königsteiner-Schlüssel in Deutschland“. Recht unspezifisch bleibt schließlich die SPD. Diese will nur die „menschenrechtskonforme Flüchtlingspolitik in der EU voranbringen“ und fordert dafür einen „solidarischen Ausgleich“, ohne zu erklären, wie dieser aussehen könnte.

Die einzige Partei, die nichts zur Dublin-Verordnung sagt, ist die CDU/CSU. Stattdessen findet sich dort ein sehr generelles Bekenntnis zum Schutz politisch Verfolgter, „wie es unserem Grundgesetz und der aus unserem christlich geprägten Menschenbild entspringenden Verantwortung entspricht“. Ansonsten aber fordert die Partei, dass die EU-Mitgliedstaaten „auch künftig die Zuständigkeit behalten, über Zuwanderung in nationaler Verantwortung entscheiden zu können“.

Festung Europa: Smart Borders und Frontex

Ein ständiges Diskussionsthema ist schließlich der Schutz der EU-Außengrenzen und die Verhinderung illegaler Einwanderung. Umstritten ist etwa der „Smart Borders“-Vorschlag der Europäischen Kommission von vergangenem Februar, nach dem unter anderem die Ein- und Ausreise von Drittstaatsangehörigen künftig in einem zentralen elektronischen System erfasst werden soll. Die Artikel-29-Gruppe (ein Expertengremium mit Vertretern aller EU-Datenschutzbehörden) kritisierte diesen Vorschlag im Juni scharf – und in den nächsten Monaten ist mit weiteren Auseinandersetzungen zu rechnen.

In Deutschland wurde der Kommissionsvorschlag vor allem von Innenminister Friedrich (CDU/EVP) unterstützt, der sich bereits zwei Wochen zuvor auch selbst für ein europäisches Ein- und Ausreiseregister ausgesprochen hatte. Zusammen mit der „Einführung eines elektronischen Visumverfahrens als Ausgleichsmaßnahme für Lockerungen bei der Visapflicht“ findet sich diese Forderung nun auch im CDU/CSU-Wahlprogramm. Die FDP hingegen lehnt eine „umfassende Erfassung aller Grenzübertritte in Europa“ vor allem aus Datenschutzgründen ab. Und auch die Grünen wenden sich gegen „Vorschläge wie Eurosur [ein Programm zur technischen Vernetzung der Mitgliedstaaten bei der Grenzüberwachung] und ‚smart borders‘, die die Abschottung der EU zementieren“. Stattdessen fordern sie eine „gemeinsame Grenzpolitik der EU, welche die rechtlichen Normen Europas wahrt, die Menschenrechte garantiert, das Recht auf Asyl durchsetzt, Flüchtlinge aus Seenot rettet und durch das Europäische Parlament kontrolliert wird“.

Für die Linke schließlich ist die Agentur Frontex, die die europäischen Staaten bei der Kontrolle der Außengrenzen koordiniert, schlicht „Symbol der unmenschlichen Abschottungspolitik der EU gegenüber Menschen in Not“. Als Konsequenz will die Partei „Frontex auflösen“ und durch „eine humane und solidarische Flüchtlingspolitik“ ersetzen. Wie diese genau aussehen würde, erklärt sie jedoch nicht.

Fazit

Wenn es um offene Grenzen in Europa geht, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Bundestagsparteien. Während die SPD meist eher vage bleibt, gibt die CDU/CSU gern den harten Hund: Sie möchte Armutszuwanderung verhindern, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum erleichtern, mehr gemeinsame Polizeieinsätze durchführen, eine Europäisierung der Migrationspolitik verhindern und ein zentrales Register zur Erfassung von Ein- und Ausreisen in die EU errichten. Demgegenüber fordern vor allem die Grünen und die Linke, aber auch die FDP eine Bewahrung der Reisefreiheit, die Koppelung der polizeilichen Zusammenarbeit an einheitliche Rechtsstaatskriterien, eine Reform der restriktiven europäischen Asylpolitik und den Verzicht auf eine noch schärfere Überwachung der Außengrenzen.

Die Bundestagswahl und Europa – Überblick:

1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung

Bild: By wfbakker2 [CC BY-SA 2.0], via Flickr.

12 September 2013

Die Bundestagswahl und Europa (11): Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten

Bei der Bundestagswahl im kommenden September wählen die Deutschen nicht nur ihre nationalen Abgeordneten, sondern auch ihre Vertreter in den intergouvernementalen EU-Organen. Welche Alternativen stehen dabei zur Auswahl? In einer Sommerserie vergleicht dieses Blog die europapolitischen Vorschläge in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien – CDU/CSU (EVP), SPD (SPE), FDP (ALDE), Grüne (EGP) und Linke (EL). Heute: Außenbeziehungen. (Zum Anfang der Serie.)

Außenbeziehungen der EU

Dass an diesem Brunnen in Togo statt der Flagge eines europäischen Einzelstaats die zwölf gelben Sterne der EU aufgemalt sind, finden nicht alle Entwicklungspolitiker gut.
In der letzten Folge dieser Serie ging es um die Institutionen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU: den Europäischen Auswärtigen Dienst, die Europäische Verteidigungsagentur und die (wenn es nach der Mehrzahl der deutschen Parteien geht) künftige Europa-Armee. Aber natürlich beschränken sich die außenpolitischen Aktivitäten nicht auf Diplomatie und Militäreinsätze. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit spielt die Europäische Union seit jeher eine wichtige Rolle, und mit den USA verhandelt sie seit einigen Monaten über ein neues transatlantisches Freihandelsabkommen. Außerdem äußern sich die Bundestagsparteien in ihren Wahlprogrammen zu einer Reihe von einzelnen außenpolitischen Standpunkten, die von der „Zentralasien-Strategie“ bis zu den Sanktionen gegen Weißrussland reichen. Was sie dazu zu sagen haben, soll Thema der heutigen Folge sein.

Bilaterale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit

Die Rolle der Europäischen Union in der Entwicklungszusammenarbeit geht bis auf die Römischen Verträge von 1957 zurück. War es damals noch die Idee, die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Kolonien der Mitgliedstaaten zu pflegen, die sich gerade im Unabhängigkeitsprozess befanden, so ist sie heute global aktiv und hat „die Bekämpfung und auf längere Sicht die Beseitigung der Armut“ zum Ziel (Art. 208 AEUV). Recht offen ist dabei allerdings das Verhältnis zwischen den entwicklungspolitischen Aktivitäten der EU und denen ihrer einzelnen Mitgliedstaaten: Laut Vertrag sollen sie einander „ergänzen und verstärken“, was natürlich jede Menge Ausgestaltungsspielraum lässt.

In der Praxis nimmt die EU heute eine Mittelrolle zwischen der klassischen bilateralen Entwicklungshilfe einerseits und der multilateralen Zusammenarbeit andererseits ein. Ein häufiges Problem in der globalen Entwicklungspolitik ist die Vielzahl von Mittelgebern, die alle nur relativ wenig Geld zu verteilen haben und dafür jeweils ihre eigenen Bedingungen stellen – was für die Empfängerländer einen größeren Verwaltungsaufwand bedeutet und die Entwicklung einer kohärenten Gesamtstrategie erschwert. Häufig ist die multilaterale Zusammenarbeit unter der Verantwortung der Vereinten Nationen oder der Weltbank deshalb effizienter als eine rein bilaterale Entwicklungspolitik. Letztere ist allerdings bei den Geberstaaten oft populärer, da sie die internationale Sichtbarkeit des eigenen Landes erhöht und manchmal auch zu anderen außenpolitischen Zielen „mitgenutzt“ werden kann.

Europäischer Entwicklungsfonds

Die Tätigkeiten der EU zeigen Merkmale beider Arten von Entwicklungszusammenarbeit: Zum einen koordiniert sie die nationalen entwicklungspolitischen Aktivitäten ihrer Mitgliedstaaten; zum anderen unterhält sie mit dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) auch ein eigenes Hilfsinstrument, das jährlich derzeit rund 3,5 Milliarden Euro verteilt. Bemerkenswerterweise gehört dieser Fonds allerdings bis heute nicht zum regulären EU-Haushalt. Stattdessen wird er (sehr zum Ärger der Europäischen Kommission) aus Beiträgen finanziert, die die Mitgliedstaaten nach eigenem Ermessen festsetzen – und ist zugleich der einzige EU-Ausgabenposten, über den das Europäische Parlament keine Kontrolle hat.

Blickt man zurück auf die letzten Jahre, so zeigte sich in der Entwicklungspolitik der europäischen Staaten eine Tendenz in Richtung von weniger Multilateralismus. So hatte sich die derzeitige deutsche Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag 2009 explizit zum Ziel gesetzt, dass die bilateralen Leistungen künftig zwei Drittel des Gesamtbudgets der deutschen Entwicklungshilfe umfassen sollten. Infolgedessen ging der Anteil der Mittel, die Deutschland für die multilaterale und europäische Entwicklungspolitik zur Verfügung stellt, seit 2009 von über 40 Prozent auf rund 33 Prozent des gesamten deutschen Entwicklungshilfe-Etats zurück. Und im vergangenen Februar beschloss der EU-Ministerrat, das Budget des Europäischen Entwicklungsfonds im Zeitraum 2014-2020 einzufrieren, obwohl die Kommission zuvor eine deutliche Erhöhung der Mittel vorgeschlagen hatte.

Die Forderungen der Parteien

Vor der Bundestagswahl sprechen sich vor allem die Oppositionsparteien in ihren Wahlprogrammen dafür aus, diese Tendenz zu mehr Einzelstaatlichkeit in der Entwicklungspolitik zu stoppen. So fordern die Grünen eine „deutliche Stärkung der multilateralen Zusammenarbeit, um mit der EU und den VN mehr Wirkung für Entwicklung zu erzielen“ und sprechen sich dafür aus, die von der jetzigen Bundesregierung eingeführte „1/3:2/3-Quote“ aufzuheben. Und auch die SPD ist der Meinung, dass die EU „[b]esonders in der Entwicklungspolitik […] noch deutlicher als bisher einen integrierten gemeinsamen Ansatz verfolgen“ muss.

Zurückhaltender sind hingegen die Regierungsparteien. So will die CDU/CSU in der Entwicklungszusammenarbeit die „Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedstaaten und mit der EU-Kommission weiter verbessern“. Dabei soll die EU „da tätig werden, wo gesamteuropäisches Handeln Vorteile bietet“: Mehr als ein Gemeinplatz ist das nicht. Etwas widersprüchlich ist schließlich die FDP. Auch diese will die EU „in ihrer Rolle der Geberkoordinierung“ stärken und fordert zudem als einzige Partei ausdrücklich, den Europäischen Entwicklungsfonds in den regulären EU-Haushalt zu integrieren, „um die fehlende parlamentarische Kontrolle herzustellen“. Zugleich spricht sich die FDP aber auch gegen eine „Vergemeinschaftung der Entwicklungspolitik“ aus – und verlangt damit, dass letztlich doch die nationalen Regierungen in diesem Bereich das letzte Wort behalten.

Budgethilfe und andere entwicklungspolitische Maßnahmen

Neben der Frage, wie weit die EU sich überhaupt entwicklungspolitisch engagieren soll, ist auch das Ausmaß umstritten, in dem die europäischen Hilfsleistungen an bestimmte politische Bedingungen – etwa politische und wirtschaftliche Reformen in den Entwicklungsländern – geknüpft sein sollen. So spricht sich die FDP für eine „Reform der allgemeinen Budgethilfe“ aus und will die „Kriterien für Budgethilfe weiter verschärfen, um eine blinde Subventionierung von korrupten Regierungen zu verhindern“. Die Linke hingegen kritisiert genau diese Kriterien. In ihren Augen ist die „deutsche und europäische ‚Entwicklungshilfe‘ […] oftmals an erpresserische Strukturreformen geknüpft und untergräbt somit eigenständige Entwicklung“. Sie fordert deshalb Abkommen, „die tatsächlich eine Entwicklung ermöglichen und fördern, und zwar durch „gerechten, solidarischen Handel, kulturellen Austausch und technologische und wissenschaftliche Zusammenarbeit“ sowie einen „ehrlichen und solidarischen Wissenstransfer“.

Allerdings umfasst Entwicklungspolitik nicht nur finanzielle Hilfen, sondern auch handels-, umwelt- oder rechtspolitische Unterstützung. Hierzu haben vor allem die Grünen einen ganzen Strauß an Einzelvorschlägen: Wenn es nach ihnen geht, soll die EU Produkten aus Entwicklungsländern einen „diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Markt“ gewähren. Außerdem sollen „Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen, die [in Drittstaaten] von […] europäischen Unternehmen verursacht wurden“, in der EU eine Klagemöglichkeit bekommen, wobei die europäischen Mutterkonzerne für ihre Töchter in den Drittstaaten haften sollen. Des Weiteren sind die Grünen dafür, die „EU-Fischereiabkommen auf ökologische und soziale Auswirkungen zu überprüfen und neu zu verhandeln“ und wollen europäische „Fischereiaktivitäten vor den Küsten von Entwicklungsländern stark einschränken“. Und schließlich sollen in allen Investitions- und Handelsabkommen der EU mit Drittländern „umfassende Transparenz, verpflichtende menschenrechtliche, soziale und ökologische Folgeabschätzungen […], verbindliche […] Menschenrechts- und Umweltklauseln, die Anerkennung von Schutzinteressen schwächerer Länder, die Förderung lokalen und regionalen Handels und der Ausbau der Wertschöpfung in den Entwicklungsländern“ sichergestellt werden.

Transatlantische Freihandelszone

Nun schließt die EU solche Handelsverträge freilich nicht nur mit Entwicklungsländern ab: Zu den großen außenwirtschaftspolitischen Themen der nächsten Jahre zählt zweifellos auch das transatlantische Freihandelsabkommen mit den USA, für das die Verhandlungen vor einem halben Jahr offiziell beschlossen wurden. Obwohl noch nicht ganz klar ist, welche Bedeutung dieses Projekt am Ende haben wird, widmen ihm fast alle Bundestagsparteien einige Worte in ihren Wahlprogrammen.

Besonders enthusiastisch ist dabei die FDP. Aus ihrer Sicht ist die transatlantische Freihandelszone geeignet, „um gemeinsame Wohlstandsgewinne zu erreichen und um weltweit deutlich zu machen, dass die beiden globalen Zentren demokratischer Marktwirtschaft eng kooperieren“. CDU/CSU und SPD begrüßen die Verhandlungen mit den USA ebenfalls, sind dabei jedoch etwas zurückhaltender: Die Christdemokraten wollen „darauf achten, dass die Stärken unserer Unternehmen und Märkte erhalten bleiben“; die Sozialdemokraten verlangen, dass in dem Abkommen „die jeweils fortschrittlichsten Regeln hinsichtlich ökonomischer, sozialer und ökologischer Standards, der Regulierung der Finanzmärkte und deren Transparenz zugrunde gelegt werden“. (Außerdem forderte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück nach der Veröffentlichung des Wahlprogramms als Reaktion auf den NSA-Skandal eine Unterbrechung der Verhandlungen über die Freihandelszone.)

Die Linke hingegen erwartet von der „neuerdings vielfach geforderten Freihandelszone zwischen der EU und den USA […] keine positive Entwicklung“. Stattdessen fürchtet sie „verschärfte Konkurrenz zwischen den jeweiligen Großunternehmen“, eine „unbeschränkte Einfuhr gentechnisch behandelter Produkte“, die „völkerrechtliche Zementierung von Niedrigstandards“ bei Finanzdienstleistungen und „dass die Daseinsvorsorge uneingeschränkt Gegenstand ungeregelter Weltmarktkonkurrenz wird“.

Sonstige Länder und Regionen

Außer diesen Themen, die alle Parteien beschäftigen, finden sich in den Wahlprogrammen oft noch weitere spezifische Vorschlägen, die jeweils die EU-Politik gegenüber einzelnen anderen Ländern oder Regionen betreffen. So will die SPD „die Asienpolitik der Europäischen Union auf eine breitere Grundlage als bisher stellen und in den letzten Jahren vernachlässigte Ansätze wie die EU-Zentralasienstrategie revitalisieren“. Den Grünen liegt daran, dass der „Staat Palästina […] zeitnah von Europa anerkannt und als Vollmitglied in die VN aufgenommen“ wird. Außerdem wollen sie die Europäische Nachbarschaftspolitik mit den Staaten in Nordafrika und Osteuropa ausweiten und setzen dabei auf „Erleichterungen bei der Visavergabe, dem Marktzugang und der Arbeitsmigration“ und auf mehr „Austausch in den Bereichen Bildung, Sport und Kultur“.

Die FDP wiederum blickt auf Weißrussland und fordert eine „europäisch abgestimmte Sanktionspolitik gegenüber dem Lukaschenko-Regime und verstärkte Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft“. Die Linke schließlich verlangt die „bedingungslose Aufhebung des ‚Gemeinsamen Standpunktes‘ der EU gegenüber Kuba“, in dem die EU die Demokratisierung des Landes zur Bedingung für eine Intensivierung der Zusammenarbeit macht. Tatsächlich setzt sich im Ministerrat vor allem die spanische Regierung schon seit einigen Jahren für eine Überarbeitung dieses Gemeinsamen Standpunkts ein, was bislang nicht zuletzt an Deutschland gescheitert ist.

Fazit

Nachdem die Bundesregierung in den letzten Jahren die deutschen Finanzmittel für die multilaterale Entwicklungshilfe deutlich reduziert hat, setzen sich nun vor allem SPD und Grüne für eine Stärkung der europäischen Entwicklungspolitik ein. CDU/CSU und FDP wünschen von der EU hingegen nur eine bessere Koordinierung. Immerhin ist die FDP aber bereit, dem Europäischen Parlament das seit langem geforderte Mitspracherecht über den Europäischen Entwicklungsfonds zu geben. Außerdem will die FDP die politischen Bedingungen für die Vergabe von Budgethilfe verschärfen – im Gegensatz zur Linken, die in dieser Konditionierung eher ein Entwicklungshindernis sieht.

Die transatlantische Freihandelszone mit den USA stößt bei den meisten Parteien grundsätzlich auf Zustimmung. Allerdings haben CDU/CSU, SPD und Grüne dabei jeweils gewisse Vorbehalte: Während sich die Christdemokraten um die europäischen Unternehmen sorgen, stehen bei SPD und Grünen soziale, ökologische und menschenrechtliche Standards im Vordergrund. Die Linke lehnt das Freihandelsabkommen als einzige Partei vollständig ab.

Die Bundestagswahl und Europa – Überblick:

1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung

Bild: By Erik Cleves Kristensen [CC BY-2.0], via Flickr.