27 April 2013

Unionsbürgerschaft und nationale Parlamentswahlen: Für ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort

Warum darf ein zuagʼroaster Saupreiß eigentlich in Bayern wählen und ein anständiger Österreicher nicht?
Der Sinn der Demokratie ist, auf den einfachsten Nenner gebracht, die kollektive Selbstbestimmung. Zum einen sollen Menschen möglichst frei über alle Bereiche ihres Lebens entscheiden, zum anderen müssen wir aber für unser Zusammenleben gemeinsame Regeln finden. In einem parlamentarischen System erfolgt dies dadurch, dass wir nach bestimmten Verfahren eine Volksvertretung wählen, die diese gemeinsamen Regeln bestimmt. Das Ziel ist dabei, dass möglichst genau diejenigen Menschen, die von einer solchen kollektiven Entscheidung betroffen sind, auch daran teilhaben können: Weder sollen Menschen Gesetzen unterworfen sein, auf die sie selbst keinen Einfluss haben, noch sollen sie durch ihr Wahlrecht auf Gesetze einwirken, die sie selbst gar nicht betreffen.

In der Praxis ist dieses Ideal natürlich nicht perfekt umsetzbar, insbesondere weil Menschen in unterschiedlichem Ausmaß von einer Entscheidung betroffen sein können, sodass sich keine klaren Grenzen ziehen lassen, wer daran beteiligt sein sollte und wer nicht. Dennoch haben wir im Lauf der Zeit einige Grundsätze erfunden, die uns dem Ziel annähern sollen. Insbesondere gehen wir davon aus, dass Menschen, die näher beieinander wohnen, auch mehr gemeinsame Angelegenheiten zu regeln haben. In einem föderalen System haben wir deshalb Volksvertretungen auf mehreren Ebenen, die jeweils genau die Entscheidungen fällen sollen, die alle Bürger ihres Territoriums (kommunal, regional, national, kontinental) betreffen. Die Bürger wiederum haben zu jeder dieser Volksvertretungen ein eigenes Wahlrecht – und zwar logischerweise jeweils an ihrem Wohnort, da sie schließlich auch dort den Gesetzen unterworfen sind. Wer in Weimar lebt, darf also den Weimarer Stadtrat, den thüringischen Landtag, den Deutschen Bundestag und das Europäische Parlament wählen, nicht aber, sagen wir, den Stadtrat von Hannover oder die italienische Abgeordnetenkammer. Oder?

Ein Italiener in Weimar

Leider nicht ganz. Tatsächlich gibt jemand, der aus Hannover stammt und nach Weimar zieht, sein hannoversches und sein niedersächsisches Wahlrecht her und wird stattdessen wie alle anderen Weimarer auch behandelt (jedenfalls nach einer Übergangsfrist von einigen Monaten, die in erster Linie verhindern soll, dass Wähler vor einer knappen Landtagswahl schnell noch ihren Wohnort wechseln – wie realistisch auch immer das ist). Anderes hingegen gilt für jemanden, der in Italien geboren ist und nur die italienische Staatsbürgerschaft besitzt. Auf kommunaler Ebene wählt er zwar ebenfalls den Weimarer Stadtrat mit, bei den thüringischen Landtagswahlen hat er hingegen kein Stimmrecht. Auf nationaler Ebene kann er sich an der Wahl zum italienischen Parlament beteiligen (wo es einen eigenen Wahlkreis für die italiani allʼestero, die Auslandsitaliener, gibt). Und bei der Europawahl kann er sich entscheiden, ob er lieber am Wohnort oder im Herkunftsland wählen will – also ob die Europäische Volkspartei auf seinem Wahlzettel als CDU oder als PdL erscheinen soll.

Das alles ist so offensichtlich unlogisch, dass man es nur durch die historische Entwicklung erklären kann. Tatsächlich konkurrieren bei der Frage, wer wo das Wahlrecht besitzen soll, zwei verschiedene Ansatzpunkte: Einerseits das oben beschriebene Wohnortprinzip, nach dem Menschen jeweils die Parlamente wählen sollen, in deren Territorium sie leben und von deren Entscheidungen sie deshalb am meisten betroffen sind – andererseits das Nationalitätsprinzip, demzufolge die Staatsbürgerschaft über das Wahlrecht entscheidet. Während innerhalb der Nationalstaaten praktisch überall das Wohnortprinzip verwirklicht wurde, ist zwischen ihnen weitgehend das Nationalitätsprinzip in Kraft.

Wohnort- und Nationalitätsprinzip

Erklärbar ist dies nur aus dem völkischen Denken des 19. Jahrhunderts heraus: aus der Überhöhung der souveränen Nation, deren Angehörige eine organische Einheit seien, egal, wo und in welchen Umständen sie lebten. Zuständig für einen Italiener in Weimar ist deshalb der italienische Staat, der sich mit diplomatischen Mitteln um die Interessen seiner Bürger im Ausland kümmern soll. Der deutsche Bundestag hingegen ist nach dieser Vorstellung nicht das demokratisch gewählte Parlament von Deutschland, sondern der Deutschen – auch wenn die von ihm erlassenen Gesetze für alle Menschen in Deutschland verpflichtend sind.

Natürlich nimmt diese Vorstellung eines einheitlichen nationalen Volkskörpers inzwischen außer auf der extremen Rechten niemand mehr ernst. Insbesondere die EU verdeutlichte mit dem 1992 durch den Vertrag von Maastricht eingeführten Konzept der „Unionsbürgerschaft“, dass Bürgerrechte nicht an nationale Staatsangehörigkeiten gebunden sein müssen. Seitdem kann jeder Bürger eines EU-Mitgliedstaats, der in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebt, an seinem Wohnort an Kommunalwahlen teilnehmen – wie eben unser Italiener an der Wahl zum Weimarer Stadtrat.

Eine Reihe von Vorteilen

Für regionale und nationale Wahlen jedoch gibt es bislang keine derartige Regel. Anders als etwa Uruguay oder Neuseeland, die schon seit mehreren Jahrzehnten ein umfassendes Wohnort-Wahlrecht auf nationaler Ebene eingeführt haben, sind die Verfassungen der meisten europäischen Staaten bis heute auf das Nationalitätsprinzip fixiert. Lediglich Portugal und Großbritannien gestehen den dauerhaft ansässigen Staatsangehörigen einiger ihrer ehemaligen Kolonien die Teilnahme an nationalen Wahlen zu; britische Staatsbürger haben zudem ein Wahlrecht bei den irischen Parlamentswahlen. In Deutschland hingegen werden im kommenden Herbst über 2,5 Millionen dauerhaft ansässige Unionsbürger (sowie rund 4,5 Millionen Bürger anderer Staaten) von der Bundestagswahl ausgeschlossen bleiben. Mehr noch: Da zahlreiche Länder, etwa Großbritannien oder Griechenland, ihren dauerhaft im Ausland lebenden Staatsangehörigen das Wahlrecht entziehen, können etliche europäische Bürger überhaupt kein nationales oder regionales Parlament wählen.

Ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort würde nicht nur diese logischen Brüche des heutigen Systems überwinden, sondern auch eine Reihe anderer Vorteile mit sich bringen. Insbesondere würde es dazu beitragen, den politischen Diskurs zu verändern. Während heute noch geschlossene ethnisch-nationale Identitäten das politische Selbstverständnis vieler Menschen dominieren, würde die Koppelung des Wahlrechts an den Wohnort die Rolle des einzelnen Bürgers herausstellen, der mit seiner politischen Aktivität das gesellschaftliche Zusammenleben auf allen Ebenen gleichermaßen mitgestaltet – eben jene Konzeption von Demokratie als kollektiver Selbstbestimmung, die ich eingangs skizziert habe. Zudem würde ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort ein neues Wählerpotenzial schaffen und damit auch ganz konkret das Wahlkalkül der Politiker beeinflussen: Beispielsweise würden die nationalen Parteien ihre Zugehörigkeit zu europaweiten Parteienbündnissen in der öffentlichen Debatte sicher deutlich stärker hervorheben, wenn sie ein Interesse daran hätten, auch die neu hinzugezogenen Bürger aus anderen Mitgliedstaaten anzusprechen.

Die Einwände, die gegen ein Wahlrecht am Wohnort sprechen, sind hingegen recht überschaubar und eher praktischer Natur. So sollte es Regeln geben, um zu verhindern, dass ein Bürger gleich in mehreren Staaten sein Wahlrecht ausübt, nämlich sowohl in seinem Herkunftsland als auch im Land seines Wohnsitzes. Lösbar wäre dies, indem entweder alle EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich ihren in anderen EU-Ländern lebenden Staatsangehörigen das Wahlrecht entziehen (so wie auch der Hannoveraner beim Umzug nach Thüringen sein niedersächsisches Wahlrecht verliert) oder indem man es jeweils der Entscheidung des Bürgers überlässt, in welchem der beiden Länder er sich in das Wählerregister eintragen lässt (was etwa der heutigen Praxis bei der Europawahl entspräche). Und natürlich wären Übergangsfristen von ein oder zwei Jahren nach dem Wohnsitzwechsel denkbar, um tatsächlich nur solchen Menschen das Wahlrecht zu geben, die dauerhaft an einem anderen Ort leben. Letztlich sind dies jedoch nur technische Fragen, die sich einfach werden lösen lassen, wenn erst einmal der politische Wille zu einem allgemeinen Wohnort-Wahlrecht vorhanden ist.

Let me vote

Die interessantere Frage ist deshalb, wie es gelingen kann, diesen politischen Willen zu mobilisieren. Den Versuch dazu macht eine Europäische Bürgerinitiative mit dem Namen Let me vote, die seit einigen Wochen um Unterstützungsunterschriften wirbt. Der offiziellen Homepage zufolge ist es Ziel der Initiative, die
Rechte des Unionsbürgers [zu] ergänzen durch ein Recht zur Teilnahme an jeder politischen Wahl in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, zu denselben Bedingungen wie die Angehörigen dieses Mitgliedstaats.
Der Weg dorthin ist freilich lang und steinig. Da die EU keine direkten Kompetenzen in Fragen der nationalen Staatsangehörigkeit und des nationalen Wahlrechts besitzt, wählten die Initiatoren der Bürgerinitiative Artikel 25 AEU-Vertrag als Ansatzpunkt. Dieser sieht vor, dass die Europäische Kommission alle drei Jahre einen Bericht zu Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft verfasst, in dem sie auch Vorschläge zur Weiterentwicklung dieser Themenbereiche machen kann. Auf Grundlage dieses Berichts kann der Ministerrat dann mit Unterstützung des Europäischen Parlaments einstimmige Beschlüsse fassen, die „nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ (d.h. in der Regel eine Ratifikation durch die nationalen Parlamente) in Kraft treten.

Auf die politische Agenda bringen

Das Verfahren ist mithin kaum weniger kompliziert als eine Änderung der europäischen Verträge selbst – mehr noch: Da die Grundzüge des Wahlrechts in vielen Mitgliedstaaten Verfassungsrang besitzen, wären dort jeweils verfassungsändernde Mehrheiten notwendig. Einen Eindruck über die rechtlichen Schwierigkeiten in Deutschland bietet zum Beispiel ein entsprechender Ausschussbericht der Bremer Bürgerschaft. Immerhin aber zeigt der Bremer Fall auch, dass diese Schwierigkeiten letztlich überwindbar sind: Ende Januar war die Bürgerschaft der erste deutsche Landtag, der eine Ausweitung des Regionalwahlrechts auf alle Unionsbürger beschloss.

Wenn beim Wahlrecht künftig nicht mehr die Nationalität, sondern der Wohnort im Mittelpunkt steht, kann das sowohl für die Idee der überstaatlichen europäischen Bürgerschaft als auch für die demokratische Qualität der nationalen und regionalen Parlamentswahlen nur von Vorteil sein – und die Europäische Bürgerinitiative ist die beste Möglichkeit, dieses Thema europaweit auf die politische Agenda zu bringen. Auch die Europa-Union Deutschland hat die Forderung deshalb mit erfreulich klaren Worten unterstützt. Bis zum 28. Januar 2014 hat Let me vote nun Zeit, um die nötige Million Unterschriften zu sammeln. Wer also Lust hat, ein Zeichen zu setzen: Hier kann man online seine Unterstützung erklären.

Bilder: By photographe inconnu décédé depuis plus de 70 ans [Public domain], via Wikimedia Commons.

21 April 2013

Warum Medien die deutsche Bundesregierung verantwortlich machen, wenn das Europäische Parlament gegen den Klimaschutz stimmt

Trotz Frühlingsanfang hat das Europäische Parlament zurzeit Ärger mit dem Klima. Aber ist daran wirklich schon wieder die Bundesregierung schuld?
Am vergangenen Dienstag fiel in Straßburg eine Entscheidung, die das europäische Emissionshandelssystem – das zentrale Instrument der EU beim Klimaschutz – für Jahre beschädigen dürfte. Nachdem der Preis für Emissionsrechte schon seit längerem stark gesunken war, hatte die Europäische Kommission vorgeschlagen, den Markt vorübergehend künstlich zu verknappen, um den Unternehmen wieder Anreize für Klimaschutzmaßnahmen zu setzen. Doch mit einer knappen Mehrheit lehnte das Europäische Parlament diesen Plan nun ab. Interessant daran sind aber nicht nur die Folgen für das Klima, sondern auch die Reaktionen in der (deutschen) Medien bei der Suche nach einem Verantwortlichen. Denn über die umwelt- und wirtschaftspolitische Dimension hinaus verweist die Entscheidung auch auf strukturelle Probleme der europäischen Öffentlichkeit.

Backloading

Kurz zum Hintergrund: Das 2005 eingerichtete Emissionshandelssystem der EU leidet seit 2008 unter einem stetigen Preisverfall der Emissionsrechte – von fast 30 auf unter 5 Euro pro Tonne. Dieser niedrige Preis bewirkt, dass Unternehmen derzeit kaum Anreize haben, Investitionen in den Klimaschutz durchzuführen. Wesentliche Ursache dafür ist die Eurokrise, die zu einer schrumpfenden Wirtschaft und damit auch zu weniger CO2-Emissionen führte. Diese Entwicklung ist aber nur konjunkturell: Wenn die Wirtschaft wieder anzieht, werden auch die Emissionen wieder steigen. Mittelfristig droht die EU deshalb ihr Klimaschutzziel zu verpassen.

Um also wieder einen Anreiz für Klimainvestitionen zu schaffen, schlug die Europäische Kommission vor, die Emissionsrechte während der Krise vorübergehend zu reduzieren: Zertifikate, die eigentlich für den Zeitraum 2013-2015 vorgesehen sind, sollten erst 2018-2020 vergeben werden. Dieser Plan, im Brüsseler Jargon als „Backloading“ („Nach-hinten-Verlagern“) bekannt, benötigte jedoch die Zustimmung von Ministerrat und Europaparlament. Nachdem der Umweltausschuss des Parlaments das Vorhaben bereits im Februar befürwortet hatte, stand nun eine Entscheidung im Plenum an. Unterstützt wurde das Backloading von den Umweltorganisationen, aber auch von klimafreundlichen Unternehmen, bekämpft wurde es von Wirtschaftsverbänden, die darin in der Krise ein Wachstumshemmnis sehen. Am Ende stimmte, wie gesagt, eine Mehrheit der Abgeordneten dagegen, woraufhin der Preis der Zertifikate auf ein Rekordtief von 2,63 Euro absackte – ebenso wie übrigens die Aktien der deutschen Stromversorger, die im europäischen Vergleich überdurchschnittlich stark in klimafreundliche Energien investiert haben.

Abweichler in allen Fraktionen
Keine klare Linie: Das Abstimmungsverhalten der Fraktionen zum Backloading.

Besonders spannend war daran, dass die Abstimmung mit 334 zu 315 Stimmen äußerst knapp ausfiel. Grundsätzlich verlief die Teilung dabei entlang eines Links-Rechts-Gegensatzes: Unterstützt wurde der Backloading-Plan von den Fraktionen der Linken (GUE-NGL), Grünen (G-EFA) und Sozialdemokraten (S&D), abgelehnt wurde er von Christdemokraten (EVP), Nationalkonservativen (ECR) und Rechtspopulisten (EFD). Die Liberalen (ALDE), die sonst häufig den Ausschlag zwischen linkem und rechtem Lager geben, waren selbst gespalten: 44 Abgeordnete stimmten für, 31 gegen den Plan, zwei enthielten sich.

Doch auch in den anderen Fraktionen gab es zahlreiche Abweichler. In der EVP etwa stimmte fast ein Drittel nicht mit der Mehrheit; und die S&D zählte bei 122 Befürwortern immerhin 24 Gegner und 28 Enthaltungen – vor allem von ost- und südeuropäischen Abgeordneten, denen in der Krise Wachstum vor Klimaschutz geht. Nicht einmal die grüne Fraktion trat vollkommen geschlossen auf. Zwar stimmten alle grünen Abgeordneten für den Plan, doch in der Europäischen Freien Allianz, einem Bündnis von Regionalparteien, das mit den Grünen eine gemeinsame Fraktion bildet, stimmte ein Mitglied dagegen, ein weiteres enthielt sich.

Zuletzt war die Abstimmung derartig eng, dass die 28 Stimmen der fraktionslosen Abgeordneten den Ausschlag gaben – darunter etliche Rechtsextreme aus verschiedenen Ländern, die nahezu geschlossen gegen den Plan votierten. Insgesamt folgten nur 73 Prozent aller Europaabgeordneten ihrer jeweiligen Fraktionslinie, während sonst die Kohäsion der Fraktionen in Umweltfragen bei über 85 Prozent liegt.

Wer ist für das Scheitern verantwortlich?

Sucht man nach Verantwortlichen für das Scheitern des Plans, so könnte man sich also an ganz unterschiedliche Politiker wenden: etwa an die Klimakommissarin Connie Hedegaard (K/EVP), die den Vorschlag entworfen hatte und dann ihre eigene Fraktion nicht davon überzeugen konnte. Oder an die Liberalen, bei denen sich der Backloading-freundliche linke Flügel (vor allem die britischen LibDem) nicht mit den Backloading-Gegnern auf dem rechten (vor allem der deutschen FDP) einig wurde. Man könnte fragen, wie es um die Autorität des S&D-Vorsitzenden Hannes Swoboda steht; immerhin hätte der Plan ohne die Abweichler aus seiner Fraktion eine Mehrheit gefunden. Oder man könnte beklagen, dass die gemäßigt konservativen Kräfte im Parlament offenbar kein Problem damit haben, sich von Rechtspopulisten und Rechtsextremen zu einer Mehrheit verhelfen zu lassen.

Doch nichts von alledem war in den letzten Tagen in den großen deutschsprachigen Medien zu lesen. Wie knapp das Votum in Straßburg ausgefallen war, interessierte beispielsweise den Focus überhaupt erst, als einige Europaabgeordnete erklärten, dass sie versehentlich falsch abgestimmt hatten. Der Akteur, auf den sich die öffentliche Debatte konzentrierte, war vielmehr – Angela Merkel. Ob Süddeutsche, Spiegel, Zeit, Mittelbayerische Zeitung oder der Europablogger Eric Bonse, sie alle betonten die Rolle, die die deutsche Bundeskanzlerin in Sachen Backloading spielte. Und das anlässlich einer Abstimmung, an der sie überhaupt nicht beteiligt war!

Die Rolle der Bundesregierung

Was war die Ursache dieser auf den ersten Blick reichlich verwirrenden Schwerpunktsetzung? Der Anknüpfungspunkt ist, dass außer dem Parlament ja auch der Ministerrat über das Backloading abstimmen muss. Tatsächlich hat sich das Parlament noch eine Hintertür offen gelassen: Statt den Plan komplett abzulehnen, hat es ihn nur in den Umweltausschuss zurückverwiesen. Sofern Kommission und Rat einen neuen Kompromissvorschlag vorlegen, könnte es deshalb in einigen Monaten erneut darüber abstimmen. Dafür müsste nun jedoch der Rat die Initiative ergreifen – und dort ist tatsächlich die deutsche Bundesregierung ein zentraler Akteur.

Für die Medien besonders interessant ist zudem, dass sich das Kabinett Merkel bislang nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnte: Während Umweltminister Altmaier (CDU/EVP) das Backloading unterstützt, lehnt Wirtschaftsminister Rösler (FDP/ELDR) es ab. Angela Merkel (CDU/EVP), die vor einigen Jahren noch als „Klimakanzlerin“ gefeiert wurde, vermeidet eine Stellungnahme. Und natürlich ist in einem halben Jahr Bundestagswahl, sodass es sich auch die deutschen Europaabgeordneten von SPD (SPE) und Grünen (EGP) nicht nehmen ließen, ein wenig gegen die zerstrittene Koalition zu polemisieren.

Andererseits: Unabhängig davon, wie sich der Rat positioniert, benötigt der Backloading-Plan am Ende eben doch eine Mehrheit im Europäischen Parlament. Und auch auf europäischer Ebene stehen in wenig mehr als einem Jahr Wahlen an, bei denen wir Bürger die Zusammensetzung des Parlaments neu bestimmen können. Im Sinne einer informierten Wahlentscheidung wäre es deshalb durchaus sinnvoll, uns in diesen Monaten etwas mehr mit dem Verhalten der Europaabgeordneten zu beschäftigen. Welche Positionen die einzelnen Fraktionen vertreten und wie geschlossen sie dabei sind, dürfte in diesem Zusammenhang von einiger Bedeutung sein. Was also ist der Grund dafür, dass sich die öffentliche Debatte stattdessen doch immer wieder auf die nationalen Regierungen kapriziert? Oder, etwas konkreter gefragt: Warum in aller Welt halten deutsche Medien die Fraktionsdisziplin der CDU für ein außerordentlich wichtiges Thema, wenn der Deutsche Bundestag über die Frauenquote abstimmt – während ihnen die vielen sozialdemokratischen Abweichler bei der Backloading-Entscheidung nahezu gleichgültig sind?

Gründe für das fehlende Medieninteresse

Mir scheint, dass es dafür im Wesentlichen drei Gründe gibt. Erstens hatte das Europäische Parlament jahrzehntelang kaum politische Macht, was dazu führte, dass die Abgeordneten bei Abstimmungen oft allein ihren eigenen Überzeugungen folgten: Schließlich hatten die Entscheidungen ohnehin nur einen symbolischen Wert. In den letzten zehn, zwanzig Jahren hat sich dies jedoch geändert: Je mehr Einfluss das Parlament durch die EU-Vertragsreformen erhielt, desto geschlossener wurden auch die einzelnen Fraktionen. Eine so schlechte Fraktionsdisziplin wie bei der Backloading-Abstimmung ist heute die Ausnahme, nicht die Regel. Viele Redakteure haben dies aber anscheinend noch nicht verinnerlicht, sodass sie den Abweichlern im Europäischen Parlament einen geringeren Nachrichtenwert zuschreiben als denen im Bundestag.

Zweitens kommt hinzu, dass es im Europäischen Parlament bis heute keine festen Mehrheiten gibt. Auch wenn die einzelnen Fraktionen meist geschlossen abstimmen, bilden sich die Allianzen zwischen ihnen vor jeder Abstimmung neu. Dadurch fehlt die auf nationaler Ebene übliche dauerhafte Spaltung in Regierungsmehrheit und Opposition. Auch dies macht die Frage nach der Fraktionsdisziplin für die Medien weniger interessant: Das Spannende an der jüngsten Frauenquoten-Abstimmung im Deutschen Bundestag war ja nicht zuletzt, dass dabei auch der Bruch der Regierungskoalition insgesamt möglich schien. Eine vergleichbare Dramatik hat das Europäische Parlament nicht zu bieten.

Und drittens spielt auch das Wahlverfahren eine Rolle. Wenn Abgeordnete in wichtigen Entscheidungen gegen die Fraktionslinie stimmen, gehen sie meist auch ein erhebliches persönliches Risiko ein, da die Parteien notorische Abweichler bei der nächsten Wahl oft nicht mehr als Kandidaten aufstellen. Bei der Europawahl gibt es jedoch keine einheitlichen europäischen, sondern jeweils nationale Wahllisten. Die gesamteuropäischen Parteien haben deshalb kaum Möglichkeiten, Abweichler zu sanktionieren, solange diese die Unterstützung ihrer nationalen Parteien besitzen – wie bei der Backloading-Abstimmung etwa die deutschen FDP-Abgeordneten. Auch dies erklärt, weshalb die mediale Aufmerksamkeit sich stärker auf die Bundesregierung als auf die Fraktionen im Europaparlament richtet.

Wir brauchen ein neues Europawahlrecht

Und das ist nun die demokratiepolitische Lektion aus der Backloading-Entscheidung: Die Fraktionen im Europäischen Parlament und die gesamteuropäischen Parteien, auf die sie sich stützen, sind schon heute zentrale Akteure in der europäischen Politik. Von den Medien aber werden sie bislang nicht als solche wahrgenommen, was der europäischen öffentlichen Debatte schadet und sich gerade im Vorfeld der Europawahl als Problem erweist. Der Hauptgrund dafür ist der mangelnde Einfluss der europäischen Parteien auf wichtige Personalentscheidungen, speziell auf die Kandidaten bei der Europawahl und auf die Ernennung der Kommission. Die Lösung wären, natürlich, transnationale Wahllisten und eine stärker parteipolitische Ausrichtung der Kommission, die dann auch zu stabileren Parlamentsmehrheiten führen würde. Beides würde den Nachrichtenwert der europäischen Parteien gegenüber den nationalen Regierungen steigern und ihnen größere öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen. Und am Ende würden wir alle uns daran gewöhnen, dass die Verantwortung für Beschlüsse des Europäischen Parlaments in Straßburg zu suchen ist und nicht in Berlin.

Bilder: © European Union 2013 - European Parliament (Attribution-NonCommercial-NoDerivs Creative Commons license), via Flickr; eigene Grafik (Quelle: VoteWatch.eu).

14 April 2013

Darf man „Europa“ sagen, wenn man die EU meint?

Sie sehen das westliche Fünftel der eurasischen Landmasse (laut Wikipedia).
Am heutigen Sonntag wird in Deutschland eine Partei gegründet, die sich für die Auflösung der europäischen Währungsunion einsetzt. Zypern benötigt weitere 6 Milliarden Euro, nachdem klar geworden ist, zu welch einem wirtschaftlichen Absturz der radikale Sparkurs führen wird. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) sperrt sich gegen einen europäischen Bankenabwicklungsfonds, obwohl der dabei helfen könnte, den Teufelskreis aus nationalen Banken- und Staatsschuldenkrisen zu durchbrechen. Die Inflation in der Eurozone ist auf 1,7% gefallen, was Investitionen weniger attraktiv und deshalb eine Vertiefung der Rezession wahrscheinlicher macht. Und Slowenien steht kurz davor, sich nicht mehr selbst finanzieren zu können. Weil wir also sonst keine Sorgen haben: Darf man eigentlich „Europa“ sagen, wenn man in Wirklichkeit die EU meint?

Klar, einerseits ist das nicht ganz dasselbe. „Europa“, das ist ein geografischer Begriff und bezieht sich auf einen Erdteil, der im Süden bis ans Mittelmeer, im Westen bis an den Atlantik, im Norden bis ans Polarmeer und im Osten bis an, na ja, den Westrand von Asien reicht. Die Europäische Union dagegen ist eine politische Institution – so etwas Ähnliches wie ein Staat, aber nicht ganz, sondern eher, obwohl, Sie wissen schon. Andererseits bezeichnen wir die politische Institution der Bundesrepublik ja auch einfach als „Deutschland“, ohne uns viele Gedanken darüber zu machen. Also: Darf man Europa sagen, wenn man die EU meint?

Zwei Gegenstimmen

Nein, fand vor einigen Tagen Michael Wohlgemuth, Leiter des gemäßigt europaskeptischen Thinktanks Open Europe Berlin, in einem Blogeintrag über die Frage, was ein Euroskeptiker ist. Nein, fand schon vor über einem Jahr der Journalist Gareth Harding in seinen „10 tips for EU cheerleaders“. Das Argument ist in beiden Fällen dasselbe, wenn auch in unterschiedliche Richtungen gewendet. Bei Wohlgemuth lautet es:
Europa“ kann viel Verschiedenes bedeuten; seine geographischen Grenzen sind umstritten und willkürlich; seine historischen Wurzeln sind viele und verschiedene, seine politische Geschichte war meist brutal kriegerisch, Kultur und Recht wuchsen im andauernden Wettbewerb zu einiger Blüte. […] Wo immer man eine „europäische Identität“ finden möchte […] – sicher ist, dass dieses Europa nicht identisch ist mit der Europäischen Union.
Harding dagegen schreibt:
The problem with many Euro-cheerleaders is that they constantly confuse the EU (a political construct with 27 states) with Europe (a continent with almost 50 countries). It is quite possible to dislike – or feel no affinity – with the former whilst feeling deeply attached to the latter. Instead of obsessing about passing new laws, adopting new treaties and creating new institutions, fans of the EU would be better off trying to foster a European spirit among people.
Beide gehen also davon aus, dass es möglich (und vielleicht sogar wünschenswert) ist, sich zu einer „europäischen Identität“ oder einem „europäischen Geist“ zu bekennen, während man gleichzeitig die EU ablehnt. Wohlgemuth warnt bei dieser europäischen Identität zwar auch vor der „Gefahr einer kulturdeterministischen kollektivistischen Vereinnahmung individueller Vielfalt“. Für sich selbst aber nimmt er immerhin in Anspruch, „überaus Europa-freundlich“, dabei aber „EU-kritisch“ und „€-skeptisch“ zu sein.

„Mehr Europa“ mit „mehr EU-Kompetenzen“ gleichzusetzen, sei deshalb, so Wohlgemuth weiter, „anmaßend“ und wirke „tabuisierend“. Schlimmer noch: Wenn Politiker wie Angela Merkel (CDU/EVP), Guido Westerwelle (FDP/ALDE) oder die EU-Arbeitsgruppe der Bundestagsfraktion der SPD (SPE) die europäische Währungsunion als „Schicksalsgemeinschaft“ bezeichneten, dann verwendeten sie ein nationalsozialistisch vorbelastetes Synonym für „Volk“. Und ein Volk der Eurozone, „in dem sich der Einzelne als Teil eines größeren sozialen Ganzen fühlt“, gebe es bekanntlich nicht. Darf man also nicht Europa sagen, wenn man die EU meint?

Die Essenzialisierungsfalle

Was mich an diesem Argument irritiert, ist die Frage, wie das eigentlich genau geht: „für Europa“ zu sein und sich damit nicht auf die EU, sondern auf den Erdteil zu beziehen. Ist damit gemeint, dass man europäisches Essen lieber mag als asiatisches oder europäische Musik schöner findet als amerikanische oder sich mit den europäischen Sitten vertrauter fühlt als mit denen in Afrika? Aber macht es überhaupt Sinn, derartige Phänomene in Zeiten der weltweiten kulturellen Verflechtung nach Kontinenten zu kategorisieren? Und wenn ja: Lassen sich daraus wirklich Schlussfolgerungen im Sinne eines kollektiven „europäischen Geistes“ oder einer „europäischen Identität“ ableiten? Und wenn auch das möglich wäre: Sollte es in einem politischen Kontext ernsthaft irgendeine Rolle spielen?

Mir scheint, wer einen kulturell oder historisch begründeten „europäischen Geist“ beschwört, der die Europäer unabhängig von den realen EU-Institutionen politisch zusammenhalten soll, der tappt in genau jene Essenzialisierungsfalle, durch die der Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert so viel Schaden angerichtet hat. Tatsächlich war es noch in der Zeit der Weimarer Republik ein Topos der revisionistischen Rechten, dass man „Deutschland“ und das „Deutsche Reich“ (damals der offizielle Staatsname) nicht miteinander verwechseln dürfe – weil das „Reich“ nur das politische Konstrukt sei, eben die unter den Nationalkonservativen verhasste Republik, während „Deutschland“ das gesamte von Deutschen besiedelte Gebiet umfasse, mitsamt dem dazugehörigen germanischen Volksgeist.

Nun darf man Wohlgemuth und Harding sicher bedenkenlos unterstellen, dass sie nicht Norwegen und die Schweiz für eine Art europäische Irredenta halten, die es bei Gelegenheit zu erobern gälte. Dennoch scheint mir, dass man die Vorstellung eines vorpolitischen Europäertums, das den Institutionen der EU vorangeht oder gar ihr normativ höherwertiges Gegenbild darstellt, kaum anders als kulturessenzialistisch verstehen kann. Und nachdem wir solche kulturessenzialistischen Deutungen politischer Identität auf nationaler Ebene mit vielen Mühen überwunden haben, sollten wir uns hüten, nun auf europäischer Ebene wieder damit anzufangen.

Europäischer Verfassungspatriotismus

Ein Gegenmodell dazu bietet Jürgen Habermas mit seinem Konzept des „Verfassungspatriotismus“: Dieses leitet politische Identität nicht aus der Zugehörigkeit zu einer ethnisch oder kulturell definierten Gruppe, sondern aus dem Status als Bürger in einem politischen Gemeinwesen ab. Das Primäre sind hier also die gemeinsamen politischen Institutionen: Das Staatsvolk gründet sich nicht auf irgendwelche dubiosen historischen Wurzeln, sondern darauf, dass Menschen einander im republikanischen Sinne als Mitbürger anerkennen und bereit sind, in einem gemeinsamen Rechtsrahmen ihr Zusammenleben demokratisch (und solidarisch) zu gestalten.

Populär wurde dieses Konzept vor allem im Kontext des deutschen Historikerstreits Ende der 1980er Jahre. Es war dort zunächst auf eine deutsche Identität bezogen, die sich nicht auf einen ethnischen Nationalismus, sondern auf die Werte des Grundgesetzes stützte. Ganz im Sinne der „postnationalen Konstellation“ (ebenfalls Habermas) lässt es sich jedoch auch auf überstaatliche Verfassungsordnungen wie die Europäische Union übertragen. Auch diese bietet ihren Bürgern einen gemeinsamen Rechtsrahmen und kann damit den Bezugspunkt für einen europäischen Verfassungspatriotismus bilden. Ein solcher Verfassungspatriotismus bedeutet natürlich nicht, dass man jede einzelne Regelung der EU-Verträge bejahen müsste, aber doch, dass man deren grundsätzliche Werteordnung und insbesondere die Zugehörigkeit der Unionsbürger zu einem gemeinsamen politischen Gemeinwesen anerkennt. Oder, wenn man so will: ihre Zugehörigkeit zu „einem größeren sozialen Ganzen“ – das sich aber nicht ethnisch-kulturalistisch, sondern politisch-republikanisch definiert.

Die Währungsunion als „Schicksalsgemeinschaft“?

In diesem Zusammenhang gewinnt dann auch das Wort von der Währungsunion als „Schicksalsgemeinschaft“ einen anderen Sinn. Denn all die Politiker, die diesen Begriff verwendet haben, meinen ihn natürlich nicht völkisch-nationalistisch. Vielmehr geht es ihnen ganz pragmatisch darum, dass das, was mit dem Euro geschieht, die Bürger in der gesamten Eurozone betrifft, sodass eine rein nationale Wirtschaftspolitik unmöglich geworden ist. Man mag die Formulierung allzu pathetisch finden (und ich persönlich würde sie deshalb nicht gebrauchen), aber letztlich beschreibt sie lediglich die Tatsache, dass die Euro-Mitglieder sich in der Währungspolitik institutionell aneinander gebunden haben und die Bindung nur mit extremen ökonomischen und politischen Verwerfungen wieder gelöst werden kann. (Was übrigens auch der Sinn der Sache war.)

Wenn Angela Merkel „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ sagt, so meint sie damit nicht, dass bei einem Zerfall der Währungsunion der europäische Kontinent im Meer versinken wird. Was sie zum Ausdruck bringt, ist vielmehr, dass dann die Verfassungsordnung der EU als supranationales politisches Gemeinwesen in Gefahr wäre. Nun kann man mit Fug und Recht bezweifeln, ob die Politik der Bundesregierung das beste Mittel ist, um diese Gefahr abzuwenden. Aber Merkels Analyse scheint mir nicht von der Hand zu weisen: Wenn die Krise so weit eskaliert, dass Staaten zum Austritt aus dem Euro gezwungen werden, dann dürfte das zu einem heftigen Wiederaufleben nationaler Ressentiments führen und die weitere Entwicklung einer überstaatlichen Demokratie auf Grundlage der Unionsbürgerschaft für lange Zeit schwer belasten oder gar unmöglich machen.

Mitbürger in einem supranationalen Gemeinwesen

Nun kann man natürlich auch der Meinung sein, dass Unionsbürgerschaft und überstaatliche Demokratie sowieso nichts Gutes sind. Man kann sich für eine Wiederherstellung nationaler Vetorechte einsetzen, für eine Entmachtung der Kommission und des Europäischen Parlaments, für eine Entflechtung der europäischen Gesellschaften, für einen Rückzug in den Kokon der einzelstaatlichen Souveränität. Man kann sogar denken, dass das für sämtliche Staaten auf dem Kontinent das Beste wäre und man deshalb auch allen anderen einen Gefallen damit täte.

Aber es erscheint mir durchaus angemessen, jemanden, der diese Position vertritt, einen „Europaskeptiker“ oder „Europagegner“ zu nennen. Denn wenn es überhaupt eine politische Haltung gibt, die man sinnvollerweise mit einer europäischen Identität in Verbindung bringen kann, dann diese: dass es besser ist, wenn die Menschen in Europa sich als Mitbürger in einem gemeinsamen politischen Gemeinwesen begegnen, statt nur als Angehörige unterschiedlicher souveräner Staaten. Über die genaue Ausgestaltung dieses Gemeinwesens können, ja müssen wir als europäische Bürger einen offenen Diskurs führen. Gerade jemand, dem die europäische Demokratie am Herzen liegt, muss bereit sein, die heutigen Verfahren zu kritisieren. Offensichtlich ist aber, dass die Grundlage eines solchen supranationalen Gemeinwesens nur die Europäische Union sein kann, da nur diese den institutionellen und verfassungsrechtlichen Rahmen bietet, der dafür nötig ist.

Und darum darf man auch „Europa“ sagen, wenn man in Wirklichkeit die EU meint.

PS

Nichts für ungut, liebe Freunde des Europarats: Natürlich gibt es noch weitere überstaatliche politische Institutionen auf diesem Kontinent. Wenn es um Menschenrechte geht, kann man deshalb auch „Europa“ sagen und den Europarat meinen. Aber nur die EU hat auch ein direkt gewähltes Parlament und eigenständige Gesetzgebungskompetenzen – und so etwas sollte zu einem demokratischen Gemeinwesen schon dazugehören.

Bilder: By Koyos (Own work by uploader, made with NASA World Wind.) [Public domain], via Wikimedia Commons.

09 April 2013

Die Strategie der europäischen Föderalisten

Die Europa-Union Deutschland gibt sich gerne staatstragend. Manchmal täte ihr aber auch ein wenig mehr Biss ganz gut.
Vor einigen Wochen hatte ich die Gelegenheit, an einer Veranstaltung teilzunehmen, bei der hochrangige Vertreter des italienischen Movimento Federalista Europeo (MFE) und der Europa-Union Deutschland (EUD) darüber diskutierten, wie sie ihr gemeinsames Ziel, eine föderale Europäische Union, besser vorantreiben könnten. MFE und EUD sind die beiden größten nationalen Sektionen der Union Europäischer Föderalisten (UEF), sodass eine gemeinsame Strategie ohne Zweifel von größer Nützlichkeit wäre. Indessen hätten die Ansätze kaum unterschiedlicher sein können: Die Italiener sprachen sich dafür aus, möglichst rasch einen gemeinsamen Entwurf für eine föderale EU-Verfassung auszuarbeiten und dann mit ein paar großen Demonstrationen an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Deutschen hingegen setzten eher darauf, vor der nächsten Europawahl lokale Podiumsdiskussionen zu organisieren, bei denen sich die Kandidaten verschiedener Parteien vorstellen können. Und außerdem sollte es nach Regionalwahlen künftig EUD-Workshops geben, bei denen sich die neu gewählten Landtagsabgeordneten über die Funktionsweise der Europäischen Union und ihre praktische Relevanz im politischen Alltag informieren können.

Deutsch-italienische Gegensätze

Mehr aus Höflichkeit gaben sich am Ende alle Teilnehmer gegenseitig Recht. Man beschloss, einfach ein bisschen etwas von allem zu machen, sich über die Schwerpunktsetzung nicht zu streiten und die Diskussion bei Gelegenheit einmal fortzusetzen. Insgesamt aber schien mir auf beiden Seiten eher Unverständnis gegenüber den Ideen der jeweils anderen vorzuherrschen: Die italienischen Pläne kamen den Deutschen allzu großspurig vor, die deutschen den Italienern zu zögerlich. Und beide Seiten schienen mir mehr oder weniger fest davon überzeugt zu sein, dass man mit der Strategie des jeweils anderen jedenfalls nicht viel würde ausrichten können.

Woher diese Unterschiede? Teilweise lassen sie sich wohl aus den unterschiedlichen nationalen Kulturen erklären: Konfrontation und Medienspektakel sind in dem polarisierten politischen System Italiens üblicher als in der deutschen Konsensdemokratie, sodass unterschiedliche länderspezifische Strategien bis zu einem gewissen Grad durchaus ihren Sinn haben können. Vor allem aber scheinen mir die deutsch-italienischen Meinungsverschiedenheiten auf ein tiefer liegendes Problem zurückzugehen, über das ich in diesem Blog bereits vor einigen Monaten einmal geschrieben habe: nämlich die Frage, welche Absichten die europäischen Föderalisten überhaupt verfolgen und welche Rolle sie in Zukunft spielen wollen. Die beiden strategischen Ansätze verweisen dabei auf zwei unterschiedliche Vorhaben, die beide ihre Rechtfertigung haben, aber nicht notwendigerweise zusammenfallen.

Akzeptanz des Status quo steigern?

Die Europa-Union scheint mir mit ihrer Strategie vor allem das Ziel zu verfolgen, die soziale Akzeptanz des institutionellen Status quo der EU zu steigern: Nach ihrem Verständnis gibt es schon heute eine ganze Reihe von Mechanismen, durch die sich die Bürger in die europäische Politik einbringen könnten – sei es durch die Europawahlen, über die nationalen und regionalen Parlamente, durch Bürgerinitiativen, Konsultationen oder informelle Gespräche mit Interessenverbänden. Das Problem ist jedoch, dass diese Mechanismen zu wenig genutzt werden. Das Verständnis der Bevölkerung für die Vorgänge auf europäischer Ebene ist gering, die Politikverdrossenheit hoch. Die Antwort auf diese Schwierigkeiten wäre deshalb, die europapolitische Bildung voranzutreiben: Debatten anzustoßen, Zusammenhänge zu erklären, Vorurteile abzubauen – kurz gesagt, die EU stärker im alltäglichen Bewusstsein zu verankern, in der Hoffnung, dass dadurch die Beteiligung bei der nächsten Europawahl um ein, zwei Prozentpunkte gesteigert werden kann.

Ein Vorteil dieser Strategie ist, dass sie niemandem wirklich weh tut. „Für Europa“ zu sein, ist unter deutschen Politikern nahezu eine Selbstverständlichkeit. Solange sich die Europa-Union also darauf beschränkt, die bisherigen Errungenschaften der europäischen Integration zu loben, wird sie auf wenig Widerstand stoßen und bei ihren Veranstaltungen immer mit hochrangigen Festrednern rechnen können.

Den Europaskeptikern bei der Kritik nicht das Feld überlassen

Der entscheidende Nachteil dieses zurückhaltenden Ansatzes jedoch ist, dass er keine Antwort auf die wichtigste Grundsatzkritik der Europaskeptiker bietet: nämlich dass die Europäische Union in ihrer derzeitigen Form trotz aller Partizipations- und Konsultationsmechanismen eben doch reichlich undemokratisch ist. Die gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der EU ist real, und sie hat ihre Gründe. Denn so unsinnig Schlagwörter wie „EU-Diktatur“ oder „EUdSSR“ sind (die es beide bei Google immerhin auf einige hunderttausend Treffer bringen), so richtig bleibt die Feststellung, dass viele der heutigen EU-Verfahren kaum geeignet sind, eine demokratische öffentliche Meinungsbildung in Gang zu bringen, die sich dann auch in den politischen Entscheidungen widerspiegelt.

Es scheint mir deshalb einer der größten Fehler der deutschen Europaföderalisten zu sein, dass sie die EU, so wie sie heute funktioniert, nicht viel schärfer kritisieren. Wenn es darum geht, das Wahlverfahren für die Europäische Kommission, das Fehlen einer echten Opposition auf europäischer Ebene, die Konstruktion des Euro-Rettungsschirms oder die behauptete Alternativlosigkeit bestimmter wirtschaftspolitischer Strategien zu kritisieren, überlassen sie in der Öffentlichkeit viel zu häufig den Nationalpopulisten und D-Mark-Nostalgikern das Feld. Damit aber nehmen sie sich in der politischen Auseinandersetzung letztlich selbst aus dem Rennen: In der medialen Wahrnehmung gestaltet sich etwa die Diskussion über die Eurokrise vor allem als ein Konflikt zwischen „Europabefürwortern“ und „Europagegnern“ – wobei es sich bei Ersteren scheinbar um die große Mehrheit der deutschen politischen Klasse handelt, bei Letzteren hingegen um ein paar unentwegte Verteidiger der (nationalen) Demokratie.

Um in dieser Auseinandersetzung wieder eine eigene Stimme zu bekommen, müssten die Föderalisten deutlich machen, dass sie eben nicht nur apologetisch den Status quo verteidigen wollen oder „mehr Europa“ um jeden Preis anstreben. Sie müssten zeigen, dass Integration und Demokratie keine Gegensätze sind und dass es möglich ist, die fundamentalen Legitimationsdefizite der EU zu lösen, ohne sich in den engen Panzer der nationalen Souveränität zurückzuziehen. Sie müssten, kurz gesagt, die berechtigte Kritik an der europäischen Integration aufnehmen, um ihr ihre eigenen, föderalistischen Antworten entgegenzusetzen, die kohärenter sind als jenes diffuse Proeuropäertum, das man aus den üblichen politischen Sonntagsreden kennt.

Visionäre Entwürfe bringen Konflikte mit sich

Hierfür jedoch ist es notwendig, eigene visionäre Entwürfe zu entwickeln, die dann auch die Öffentlichkeit erreichen müssen. Und genau dies scheint mir das Ziel der „italienischen“ Strategie zu sein, einen föderalistischen Verfassungsentwurf auszuarbeiten und der Bevölkerung in einer möglichst medienwirksamen Weise vorzustellen. Man mag bezweifeln, ob Großdemonstrationen dafür das am besten geeignete Mittel sind – konstitutionelle Fragen waren in halbwegs funktionierenden Demokratien noch nie ein Thema, das hunderttausende Menschen auf die Straße brächte. Immerhin aber könnte ein solcher Verfassungsentwurf ein wichtiger Bezugspunkt sein, um in Fernsehtalkshows, auf Podiumsdiskussionen oder, warum nicht, in den kommenden Bundestags- und Europawahlkämpfen auf den öffentlichen Diskurs einzuwirken und eine demokratische Alternative sowohl zum bürgerfernen Krisenmanagement durch den Europäischen Rat als auch zu den Renationalisierungsplänen der Europaskeptiker zu präsentieren.

In Kauf nehmen müsste man dafür natürlich, dass eine solche föderalistische Vision nicht jedem gefallen wird. Wenn man Ernst damit macht, die Wirtschaftspolitik zu europäisieren, dem Europäischen Parlament die alleinige Hoheit über das gemeinsame Budget zu geben, das Mitspracherecht der Regierungen bei der Ernennung der Europäischen Kommission abzuschaffen oder die Vielzahl von Vetorechten und checks and balances im politischen System der EU durch einfache demokratische Mehrheitsverfahren zu ersetzen, so wird man sich damit nicht nur Freunde machen. Und wenn man nun gar noch dazu überginge, die oft hochtrabende Rhetorik all der „überzeugten Europäer“ in Bundestag und Bundesregierung mit den aus föderalistischer Sicht immer wieder unzulänglichen Ergebnissen ihrer realen Politik zu konfrontieren, so würden die Beziehungen zwischen der Europa-Union und den deutschen Spitzenpolitikern wohl bald recht viel von ihrer heutigen Harmonie verlieren.

Und doch scheint mir ein solch offensiverer Kurs notwendig, wenn die europäischen Föderalisten nicht zum bloßen Steigbügelhalter der politischen Parteien werden, sondern mit einer eigenen Agenda erkennbar sein wollen. Mehr noch: In dem Maß, in dem das Krisenmanagement des Europäischen Rates die tatsächlichen Legitimationsdefizite der Europäischen Union offenlegt, werden sich die Föderalisten davon absetzen müssen, um zu verhindern, dass sie in der Öffentlichkeit zuletzt selbst als Verteidiger eines undemokratischen Systems wahrgenommen werden.

Das Rodrik-Trilemma und die Rolle der Föderalisten

Einer der besten Ansätze, um die Implikationen der europäischen Integration zu verstehen, ist das „Globalisierungs-Trilemma“, das der amerikanische Ökonom Dani Rodrik vor Jahren formuliert hat (siehe etwa hier, hier und hier). Sein Kerngedanke ist, dass man nicht gleichzeitig Nationalstaatlichkeit, intensive transnationale Wirtschafts- und Sozialbeziehungen und ein demokratisches System haben kann. Je zwei dieser Elemente lassen sich miteinander vereinen, aber nicht alle drei. Eine nationale Demokratie kann funktionieren, solange sie nicht allzu viele äußere Einflüsse erlaubt. Je weiter sie jedoch ihren Markt und ihre Gesellschaft öffnet, desto kleiner werden die nationalen Entscheidungsspielräume. Die nationale Politik hat dann nur noch die Möglichkeit, sich an die äußeren Zwänge anzupassen, bis von Demokratie keine Rede mehr sein kann – Rodrik nennt das in Anlehnung an Thomas L. Friedman die „goldene Zwangsjacke“. Oder aber man verbindet gesellschaftliche Öffnung mit politischer Demokratie, indem man das Konzept der nationalen Souveränität aufgibt und durch einen neuen, überstaatlichen Föderalismus ersetzt.

Geht man von diesem Trilemma aus, dann genügt es nicht, nur gegen die wenigen lautstarken Europaskeptiker zu argumentieren, die teils mehr, teils weniger unverblümt die gesellschaftliche und wirtschaftliche Öffnung der letzten Jahrzehnte wieder rückgängig machen wollen. Genauso notwendig ist die Kritik an all jenen, die zwar gern einen europäischen Binnenmarkt, eine Währungsunion oder eine grenzüberschreitende Freizügigkeit haben wollen, aber meinen, dass diese sich dauerhaft allein auf die Legitimität der nationalen Parlamente und Regierungen oder einer „technokratischen“ Kommission stützen könnten – und gar nicht zu merken scheinen, wie dies die Demokratie erodieren lässt. Im Gegensatz zu den echten Europaskeptikern verkörpern diese diffusen Europabefürworter derzeit den Mainstream in den deutschen Parteien. Strategisches Ziel der europäischen Föderalisten sollte es sein, sich in der Öffentlichkeit neben ihnen als dritte Option bemerkbar zu machen: als jene Gruppierung, die weder die offenen Grenzen noch die Demokratie aufzugeben bereit ist, sondern stattdessen lieber auf die nationale Souveränität verzichtet.

PS

Die Initiative zu einem neuen föderalistischen Verfassungsentwurf ist natürlich nicht nur eine italienische Idee. Der Präsident der UEF, Andrew Duff (LibDem/ELDR), hat diesen Plan bereits im Januar formuliert, und die Spinelli-Gruppe im Europäischen Parlament arbeitet inzwischen an einem Textvorschlag für ein „europäisches Grundgesetz“. Man darf gespannt sein, wie UEF und Europa-Union die Chancen nutzen, die sich daraus für ihre öffentliche Wahrnehmung bieten werden.

Bilder: Bundesarchiv, B 145 Bild-F047053-0019 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.

02 April 2013

Finanzpolitische Abschreckung: Ordoliberale Prinzipien, der Vertrag von Maastricht und die Eurokrise

Theo Waigel (CSU/EVP) ging davon aus, dass die europäische Währungsunion stabiler sein würde, wenn ihre Mitglieder untereinander nicht allzu solidarisch sind.
Es ist eines der auffälligsten Merkmale der Eurokrise, dass sie unnötig lange dauert und unnötig viel Leid verursacht. Von den ersten Griechenland-Krediten 2010 bis zum Zypern-Desaster vor zwei Wochen wurden wieder und wieder Hilfspakete geschnürt, die zu spät kamen und zu klein waren, um die Probleme wirklich zu lösen. Zugleich wurden den Krisenstaaten Sparmaßnahmen auferlegt, die zu jahrelanger Rezession, Arbeitslosigkeit und Verarmung großer Bevölkerungsschichten führen, ohne irgendwie zur Haushaltssanierung beizutragen, da sie das Bruttoinlandsprodukt schneller schrumpfen lassen als die Staatsverschuldung. Viel von diesem Elend war vorauszusehen – und wäre vollkommen vermeidbar, wenn die wirtschaftsstärkeren Länder, allen voran Deutschland, sich zu einer einmaligen Solidarleistung in Form eines großen europäischen Konjunkturpakets durchringen würden, dessen Kosten sehr viel geringer wären als diejenigen, die der Eurozone durch das Laufenlassen der Krise entstehen. Aber der „Marshallplan für Südeuropa“, von dem schon vor Jahren erstmals die Rede war, wurde nie verwirklicht. Warum?

Es gibt dafür verschiedene Erklärungsansätze. Manche Kommentatoren etwa verweisen darauf, dass speziell Deutschland bislang wirtschaftlich und finanziell von der Krise profitiert hat und deshalb womöglich aus Eigennutz nicht an einer schnellen Lösung interessiert ist. Andere sehen eine Art calvinistische Gesinnungsethik am Werk, die die wirtschaftlichen Schulden mit einer moralischen Schuld der „faulen Südländer“ gleichsetzt und ihre Verelendung deshalb als gerechte Strafe sieht. Beide Erklärungen dürften auf einzelne Akteure durchaus zutreffen, doch dem größeren Teil der deutschen Politiker wird man dadurch nicht ganz gerecht. Was sie antreibt, scheint mir eher ein ordoliberaler Geist zu sein: die Vorstellung, dass ein freier und unverzerrter Markt letztlich zu der besten Ressourcenverteilung führt und deshalb der Bankrott eines Pleitiers einer staatlichen Rettungsaktion grundsätzlich vorzuziehen ist. Und zusätzlich legitimiert fühlen sie sich dadurch, dass genau dieser Geist auch der Ausgestaltung der Währungsunion im Vertrag von Maastricht 1991 zugrunde lag.

Ordoliberalismus und Staatspleiten

Die ordoliberalen Prinzipien, nach denen der Staat zwar den Rahmen des wirtschaftlichen Handelns setzen, aber nicht steuernd in einzelne wirtschaftliche Vorgänge eingreifen soll, waren seit den 1950er Jahren das dominierende Paradigma in der (west-)deutschen Wirtschaftspolitik. Bis zu einem gewissen Grad haben sie auch durchaus ihren ökonomischen Sinn, jedenfalls solange es um den Umgang mit gewöhnlichen Privatunternehmen geht. Der Staat selbst hingegen wird im klassischen ordoliberalen Denken nicht als normaler Marktteilnehmer verstanden, und auch die Möglichkeit eines Staatsbankrotts spielte für die Theorie keine wichtige Rolle. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Staatspleiten in einem System nationaler Währungen und (weitgehend) flexibler Wechselkurse ohnehin reichlich unwahrscheinlich waren: Selbst Länder wie Italien, das bis Anfang der neunziger Jahre enorme Budgetdefizite anhäufte, konnten schließlich jederzeit abwerten und durch eine höhere Inflation ihre Haushalte wieder unter Kontrolle bringen.

Dies änderte sich in Europa, als im Vertrag von Maastricht die Einführung des Euro beschlossen wurde. Mit der nationalen Geldpolitik entfiel ein wichtiger Puffer im Wirtschaftssystem, der in irgendeiner Weise ersetzt werden musste. Eine naheliegende „föderale“ Lösung hätte darin bestanden, auf europäischer Ebene dieselben interregionalen Stabilisatoren zu schaffen, die es auch innerhalb der Nationalstaaten gibt: vor allem eine einheitliche Wirtschaftspolitik mit einem gemeinsamen Steuersystem und einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung. Zu einem solchen Schritt allerdings konnten sich die Mitgliedstaaten in Maastricht nicht aufraffen. Stattdessen setzte sich insbesondere der deutsche Finanzminister Theo Waigel (CSU/EVP) erfolgreich dafür ein, die Prinzipien des Ordoliberalismus auch auf den Umgang der EU-Mitgliedstaaten untereinander zu übertragen – und dadurch, so die Idee, den Markt selbst für eine nachhaltige Wirtschafts- und Finanzpolitik sorgen zu lassen.

Das System von Maastricht

Der Grundgedanke der Maastrichter Konstruktion bestand darin, die Mitgliedstaaten der EU selbst als gewöhnliche Finanzmarktteilnehmer zu verstehen, die sich für ihre Tätigkeiten Geld leihen müssen und deshalb um die Gunst der Anleger konkurrieren. Die Anleger würden umso bereitwilliger sein, einem Staat Geld zu leihen, je sicherer sie sich wären, dieses Geld auch wieder zurückzuerhalten. Diese Sicherheit wiederum wäre umso größer, je eher ein Staat die „richtige“, auf nachhaltiges Wachstum und stabile Finanzen ausgerichtete Politik betrieb. Am Ende würden also Staaten umso niedrigere Zinsen auf ihre Staatsanleihen bezahlen müssen, je besser sie wirtschafteten womit für alle EU-Mitglieder ein Anreiz zu einer möglichst „guten“ Wirtschaftspolitik gegeben wäre.

Voraussetzung für diesen Disziplinierungsmechanismus war allerdings, dass der Wettbewerb der Staaten um das Geld der Anleger nicht verfälscht werden durfte. Es musste daher sichergestellt werden, dass kein Land auf andere Wege als durch sein nationales Steuersystem und reguläre Staatsanleihen an Finanzmittel gelangen würde. Im Vertrag von Maastricht wurde dies durch zwei zentrale Regelungen sichergestellt: das Verbot von Zentralbankkrediten (heute Art. 123 AEUV) und die Nichtbeistandsklausel, durch die jeder Mitgliedstaat finanziell auf sich allein gestellt sein sollte (Art. 125 AEUV). Dies schloss eine implizite Drohung ein: Wenn die privaten Anleger einem Staat so sehr misstrauen würden, dass sie ihm kein Geld mehr leihen wollten, würde dieser seine Steuern erhöhen und seine Ausgaben kürzen müssen – oder pleitegehen, mit all den negativen Folgen, die dies für seine Bürger haben würde.

Allerdings gingen die Verfasser des Vertrags von Maastricht nicht davon aus, dass es dazu jemals kommen würde. Die Nichtbeistandsklausel folgte vielmehr einer Logik der Abschreckung: So wie während des Ost-West-Konflikts die Supermächte den Frieden durch die Drohung mit wechselseitiger atomarer Vernichtung zu wahren suchten, so sollte auch in der Währungsunion die Furcht vor einem katastrophalen Staatsbankrott dafür sorgen, dass die nationalen Regierungen von vornherein eine solide Politik betrieben und die Anleger ein mögliches Abweichen davon sofort mit höheren Zinsen sanktionierten.

Die Schwächen der Abschreckungslogik

Doch diese Hoffnung wurde durch die Eurokrise widerlegt, als die hypothetische Möglichkeit eines Staatsbankrotts auf einmal zu einer unmittelbaren Gefahr wurde. Während die Supermächte im Kalten Krieg das Glück hatten, dass es niemals wirklich zu einem Angriff des Gegners kam, sah sich das finanzpolitische Abschreckungsregime von Maastricht plötzlich mit einem Ernstfall konfrontiert, der eine Reaktion erforderlich machte. Zugleich aber deckte die Krise auch eine Reihe von grundsätzlichen Schwachstellen in der Konstruktion auf, die bei der Ausarbeitung des Vertrags noch niemand hatte wahrnehmen wollen:

● Erstens lag der Vorstellung, dass die Anleger ein Abweichen vom wirtschaftspolitischen Pfad der Tugend sofort mit höheren Zinsen bestrafen würden, die implizite Annahme zugrunde, dass die Finanzmärkte frühzeitig erkennen würden, ob bestimmte politische Maßnahmen „richtig“ oder „falsch“ sind. In Wirklichkeit ist das Marktgeschehen jedoch immer von einem hohen Grad an Ungewissheit geprägt, sodass Wirtschaftskrisen oft als unerwartete Schocks auftreten und sich erst im Nachhinein eindeutig sagen lässt, mit welchen Maßnahmen man sie hätte verhindern können.

● Zweitens kommt hinzu, dass Länder in einer verflochtenen Welt nicht einmal die volle Kontrolle über ihr Wirtschaftssystem haben: Ein Staat kann auch von einem externen Schock getroffen werden, zu dem er selbst überhaupt nichts beigetragen hat. Unabhängig davon, ob man als Ursache der konkreten Eurokrise solche äußeren Einwirkungen oder eher hausgemachte Probleme sieht – außer Zweifel steht, dass kein Staat allen denkbaren Externalitäten vorbeugen kann, sodass auch eine „gute“ nationale Wirtschaftspolitik allein noch keine Gewähr gegen plötzliche Krisen bietet.

● Und drittens hätte eine Staatspleite innerhalb der Währungsunion natürlich auch selbst externe Effekte: Der Konkurs eines Landes kann andere mit in den Abgrund ziehen, deren Wirtschaftslage bis dahin noch stabil war. Tatsächlich ist die Frage, was zu tun ist, wenn ein Unternehmen too big to fail wird, bereits in der gewöhnlichen Privatwirtschaft ein Problem. Die klassisch ordoliberale Antwort lautet, dass man durch einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen vorbeugend verhindern muss, dass ein Unternehmen überhaupt diese Größe erreicht. Auf Staaten lässt sich dies jedoch kaum übertragen. Ein Euro-Land tatsächlich pleitegehen zu lassen, käme deshalb alle anderen Mitglieder der Währungsunion in der Regel weitaus teurer zu stehen, als es zu retten.

Die ordoliberale und die föderalistische Antwort auf die Krise

Wie also sollte man auf die Eurokrise reagieren? Für einen ordoliberalen Falken ist die Sache klar: Egal, welches Leid der Bankrott der südeuropäischen Staaten mit sich bringt – sie zu retten würde die Glaubwürdigkeit des ganzen Systems gefährden. Wenn man im Ernstfall nicht bereit ist, die darin enthaltenen Drohungen wahr zu machen, ist der ganze Disziplinierungsmechanismus des Vertrags von Maastricht nichts wert. Letztlich geht es dabei also auch darum, künftigen Krisen vorzubeugen: Denn setzt man erst einmal den Präzedenzfall, dass Staaten in der Not von ihren Nachbarn Hilfe erhalten, wird es in Zukunft für niemanden mehr einen Anreiz zu einer „guten“, soliden, vorausschauenden Wirtschaftspolitik geben.

Aus föderalistischer Perspektive hingegen sehen die Dinge anders aus: Denn wenn man die genannten Schwächen erst nimmt, dann wird deutlich, dass das System von Maastricht ohnehin nicht für dauerhafte Stabilität in der Eurozone sorgen kann. Die logische Konsequenz ist dann, jetzt die 1991 versäumten institutionellen Reformen nachzuholen und doch noch die Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik in der Währungsunion zu europäisieren. An die Stelle der Nichtbeistandsklausel träte eine direkte Kontrolle der zentralen wirtschaftspolitischen Entscheidungen durch die EU. Und da das künftige System ohnehin völlig anders funktionieren würde als das bisherige, müssten sich die Euroländer auch keine Gedanken über eine mögliche Präzedenzwirkung des heutigen Krisenmanagements machen, sondern könnten einfach in einem einmaligen solidarischen Akt den bisher entstandenen Schaden aufräumen.

Unentschlossenheit des Europäischen Rates

Die europäischen Staats- und Regierungschefs aber haben sich bis heute nicht so recht zwischen diesen beiden möglichen Antworten entschieden, und dies scheint mir der Grund dafür zu sein, dass die Eurokrise so lange andauert und so viel unnötiges Leid hervorbringt. Getrieben von den Gefahren des Augenblicks begannen sie zwar etwas halbherzig die Währungsunion im föderalistischen Sinne umzubauen, indem sie mit dem Rettungsfonds ESM das Nichtbeistandsprinzip teilweise aushebelten und mit Maßnahmen wie dem Europäischen Semester die Kontrolle der Kommission über die nationalen Haushalte verbesserten. Dem Schritt zu einer vollständigen Europäisierung der Wirtschaftspolitik aber verweigern sie sich bis heute ebenso wie einer Ausweitung des EU-Budgets, das als automatischer Stabilisator fungieren könnte. Und zugleich versuchen die nordeuropäischen Staaten um Deutschland vor allem auf Druck ihrer nationalen Öffentlichkeiten auch weiterhin das ordoliberale Prinzip aufrechtzuerhalten, dass die „schlechte“ Wirtschaftspolitik vor der Krise nicht ungestraft bleiben darf was die unnötige Härte der Sparmaßnahmen erklärt, zu denen die Staaten verpflichtet werden, die den ESM in Anspruch nehmen.

Krisenstaaten gleichzeitig zu unterstützen und leiden zu lassen: Es ist kaum verwunderlich, dass diese eigenwillige Verbindung von Solidarität und Disziplinierung bei einem Großteil der europäischen Bürger auf Unverständnis stößt. Sie ist eine Folge davon, dass sich die Erben von Maastricht bis heute nicht zu der Erkenntnis haben aufraffen können, dass man die Stabilität einer Währungsunion nicht dauerhaft durch finanzpolitische Abschreckung sichern kann.

Bilder: Bundesarchiv, B 145 Bild-F082410-0030 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.