20 Dezember 2014

Was ist eine „politische Kommission“?

Jean-Claude Juncker will, dass seine Kommission künftig noch politischer wird. Aber was heißt das eigentlich?
Die Kommission ist politisch. Und ich will, dass sie noch politischer wird. Tatsächlich wird sie sehr politisch sein.Mit diesen Worten wandte sich Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) am vergangenen 15. Juli in seiner Bewerbungsrede an das Europäische Parlament, das ihn wenig später zum Kommissionspräsidenten wählte. Seitdem gehört die „politische Kommission“ zu den beliebtesten Brüsseler Schlagwörtern, gleichermaßen populär bei Unterstützern wie Gegnern Junckers.

Und wie das mit Schlagwörtern so ist – schon nach kurzer Zeit versteht darunter jeder das, was er selbst will. Manchmal scheint es lediglich ein Synonym für eine bessere Medienstrategie zu sein: In einer „politischen Kommission“, so war in den letzten Monaten zum Beispiel zu lesen, begründen die Kommissare ihre Vorschläge in Pressekonferenzen selbst, statt das ihren Sprechern zu überlassen. Eine „politische Kommission“ muss Vorwürfe, die sie für unbegründet hält, nicht einfach hinnehmen. Eine „politische Kommission“ darf sich aber auch nicht wegducken, wenn an einem Vorwurf vielleicht mal etwas dran ist. Andere Male hingegen erweckt der Begriff spezifische inhaltliche Erwartungen – und bisweilen komplett gegensätzlicher Natur: Für die einen etwa soll eine „politische Kommission“ bei der Durchsetzung der Euro-Defizitregeln gefälligst eine harte Gangart einschlagen. Für die anderen wäre die Kommission hingegen gerade dann „politisch“, wenn sie den Mitgliedstaaten in der Haushaltspolitik einen größeren Gestaltungsspielraum einräumt.

Einigkeit scheint nur darin zu bestehen, dass man mit einer „politischen Kommission“ hohe Ansprüche an Juncker und sein Team verbindet. Aber hat der Ausdruck darüber hinaus auch noch eine konkrete Bedeutung? Wie lässt sich Junckers Ankündigung vom 15. Juli wirklich verstehen? Und was hat er bis jetzt getan, um sie in die Tat umzusetzen?

Binnenhierarchisierung durch die Vizepräsidenten

Blickt man zurück, wie die Popularisierung des Begriffs nach der Europawahl ihren Anfang nahm, so stößt man auf eine Rede von Pierre Moscovici (PS/SPE) von Mitte Juni. Moscovici, der damals kurz davor war, von der französischen Regierung als Kommissionsmitglied nominiert zu werden, sprach sich darin für die Bildung von „Clustern“ in der Kommission aus – also für jene Binnenhierarchisierung, die Juncker später mit dem Modell der starken Vizepräsidenten umsetzte.

Nachdem zuvor jedes Kommissionsmitglied weitgehend selbstständig seine eigenen Pläne verfolgt hat, nehmen nun die Vizepräsidenten eine Art Türwächter-Funktion ein: Neue Vorhaben kommen nun nur noch dann auf die Kommissionsagenda, wenn sie auch von mindestens einem der sieben Vizepräsidenten unterstützt werden. Das soll zum einen das Auftreten der Kommission kohärenter machen. Zum anderen erlaubte es Juncker aber auch, schon bei der Aufstellung der Kommission klare Prioritäten zu setzen: Indem er die Bereiche „Wachstum und Beschäftigung“, „Energieunion“ und „Digitaler Binnenmarkt“ jeweils mit einem eigenen Vizepräsidenten ausstattete, machte er deutlich, wo die inhaltlichen Schwerpunkte der nächsten Jahre liegen sollen.

Eine straffere Gesetzgebungsagenda

In die gleiche Richtung weist auch eine andere Entscheidung, die Juncker und sein Erster Vizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE) vor wenigen Tagen ankündigten: die Streichung von rund 80 Gesetzgebungsvorhaben, die noch die alte Kommission unter José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) auf den Weg gebracht hatte und die Juncker nun zurückzieht. Man kann hinter dieser Aktion einen bloßen Publicity-Stunt vermuten, ganz im Sinne der Subsidiaritätsoffensive, die Timmermans 2013 – noch als niederländischer Außenminister – gestartet hatte. Die Kommission leidet am Image einer allzu großen Regulierungsfreude: Warum also nicht ein paar öffentliche Pluspunkte sammeln, indem man zum Einstieg der Wahlperiode mal den entgegengesetzten Weg einschlägt?

Darüber hinaus könnte diese Agendakürzung aber auch zu einer Stärkung der Kommission gegenüber den anderen EU-Institutionen führen. Durch die Vielzahl an Gesetzgebungsvorhaben haben der Rat und das Europäische Parlament bislang leichtes Spiel, wenn sie unliebsame Pläne der Kommission auf die lange Bank schieben wollen: Sie beschäftigen sich dann einfach zuerst mit anderen Vorschlägen, auch wenn diese aus Sicht der Kommission vielleicht weniger wichtig sind. Indem Juncker und Timmermans nun selbst entscheiden, eine Reihe von Vorhaben nicht weiterzuverfolgen, verleihen sie den übriggebliebenen Vorschlägen mehr Nachdruck und verbessern damit ihre Chancen, diese erfolgreich durch das Gesetzgebungsverfahren zu bringen.

Eine „politische Kommission“ setzt Prioritäten – und wird angreifbar

Eine „politische Kommission“, so ließe sich also festhalten, ist eine Kommission, die sich nicht in einer Vielzahl von Projekten verzettelt, sondern eigene inhaltliche Prioritäten setzt und diese dann auch konsequent durchzusetzen versucht. Die gewählten Kommissare emanzipieren sich dadurch zum einen von ihrem Verwaltungsunterbau, zum anderen stärken sie aber auch ihre Position gegenüber dem Europäischen Parlament und den nationalen Regierungen im Rat. Dazu passen auch zwei andere Formulierungen, die Juncker in den letzten Monaten immer wieder gebraucht hat: nämlich zum einen die Feststellung, die Kommission sei „nicht das Generalsekretariat des Rates“, zum anderen die Forderung, die EU solle „in großen Dingen groß und in kleinen Dingen klein sein“.

Mit dieser Prioritätensetzung macht sich die Kommission allerdings auch angreifbar – denn natürlich wird die Frage, was eigentlich die „großen“ und was die „kleinen Dinge“ sind, nicht von jedem gleich beantwortet. Dass die Streichungen, die Juncker und Timmermans zuletzt ankündigten, auch umwelt- und sozialpolitische Vorhaben betreffen, stieß etwa bei den europäischen Grünen auf heftige Kritik. Diese Angreifbarkeit aber ist das eigentlich „Politische“ an der Kommission: Anders als in der Vergangenheit wird sie sich künftig nicht mehr hinter den Gestus des Technokraten zurückziehen können, sondern muss in der Öffentlichkeit dazu stehen, dass man die Schwerpunkte ihrer Politik auch ganz anders setzen könnte.

Nicht nur politisch, sondern parteipolitisch

Diese Bereitschaft Junckers, die Kommission aus der Region des pseudo-objektiven Expertentums in das Feld der politischen Auseinandersetzung zu führen, zeigte sich jüngst auch noch in einem ganz anderen Zusammenhang: nämlich der Wahl des neuen griechischen Staatspräsidenten. Nachdem die griechische Koalitionsregierung aus ND (EVP) und PASOK (SPE) in letzter Zeit ihren Rückhalt in der Bevölkerung schwinden sah, entschied sie sich, diese Wahl auf Ende Dezember vorzuziehen. Sie benötigt dafür eine Drei-Fünftel-Mehrheit im griechischen Parlament, die sie ohne Unterstützung wenigstens einzelner Oppositionsparteien nicht hat. Sollte die nötige Mehrheit nicht zustande kommen, so wird es Anfang 2015 eine Neuwahl des Parlaments geben. Favorit wäre dabei die Linkspartei Syriza (EL), die die Politik der Europäischen Kommission in der Eurokrise massiv ablehnt.

In dieser Situation erklärte Juncker jüngst öffentlich seine Unterstützung für den von der griechischen Regierung vorgeschlagenen Präsidentschaftskandidaten Stavros Dimas (ND/EVP). Nur leicht verkleidet wurde dies dadurch, dass Junckers Sprecherin zunächst vor allem auf die reichhaltige europäische Erfahrung Dimasʼ verwies, der von 2004 bis 2010 EU-Umweltkommissar war. Denn nur einen Tag später legte Juncker in einem Interview nach und warnte vor den verheerenden Folgen, die ein „falsches Wahlergebnis“ in Griechenland haben könnte. Es braucht nicht viel, um darin um eine klare Parteinahme zugunsten der griechischen Regierung und gegen die Syriza-Opposition zu erkennen: ein völlig neuer Schritt für den Präsidenten einer Kommission, die bisher stets davon abgesehen hatte, zu nationalen Wahlkämpfen offen Stellung zu beziehen.

Juncker setzt damit freilich nur eine Tendenz fort, die schon 2012 deutlich wurde, als sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) zugunsten von Nicolas Sarkozy (UMP/EVP) in den französischen Präsidentschaftswahlkampf einmischte. Europaweit bekannte Spitzenpolitiker – ob nationale Regierungschefs oder eben der Kommissionspräsident – treten immer offener auch in nationalen Wahlkämpfen anderer Länder auf, um ihre dortigen Parteifreunde zu unterstützen. Es ist nur folgerichtig, wenn auch Juncker sich nun an dieser Entwicklung beteiligt. Zugleich aber macht es deutlich, dass er seine Rolle als Kommissionspräsident nicht nur „politisch“, sondern auch parteipolitisch versteht.

Juncker ist durch die Europawahl legitimiert

Eine Europäische Kommission, die ihre eigenen Prioritäten setzt, die klare Richtungsentscheidungen trifft, die sich angreifbar macht und die ihrerseits in Wahlkämpfen Position bezieht: Das dürfte wohl der Maßstab sein, an dem man eine „politische Kommission“ erkennt. Dass ausgerechnet Jean-Claude Juncker diese Entwicklungen vorantreibt, ist kaum verwunderlich – schließlich ist er der erste Kommissionspräsident, der zuvor bei der Europawahl als europäischer Spitzenkandidat seiner Partei angetreten war. Durch seinen Wahlsieg besitzt er die demokratische Legitimität, um seine politische Agenda auch gegen Widerstände aus den Mitgliedstaaten voranzutreiben.

Und dennoch bleibt ein Wermutstropfen: Denn natürlich ist es kein Zufall, dass Juncker seinen konservativen Parteifreunden ausgerechnet im griechischen Wahlkampf den Rücken stärkte. Anders als in den meisten anderen Mitgliedstaaten sind in Griechenland eben nicht die Sozialdemokraten der wichtigste Konkurrent der christdemokratischen EVP, sondern die Syriza als Vertreterin der Europäischen Linkspartei. Und anders als die Sozialdemokraten ist die EL kein Teil der „übergroßen Koalition“ (aus EVP, SPE, ALDE und AECR), aus der sich die Kommission Juncker zusammensetzt.

Eine politische Kommission braucht eine wirksame Opposition

Das führt dazu, dass die Griechen bei ihrer nationalen Wahl eine reale Möglichkeit haben, eine Partei an die Regierung zu wählen, die offen gegen die Politik der Kommission ist. Auf gesamteuropäischer Ebene gibt es diese Möglichkeit jedoch faktisch nicht: Juncker selbst ist als Kommissionspräsident zwar demokratisch gewählt und könnte bei der nächsten Europawahl auch wieder abgewählt werden. Die übrigen Kommissionsmitglieder aber verdanken ihre Ernennung in erster Linie den nationalen Regierungen, die sie nominiert haben; ein Versuch der Parlamentsmehrheit, auch hier das Vorschlagsrecht an sich zu reißen, scheiterte im Oktober. Und auch sonst zwingt eine Vielzahl von institutionellen Mechanismen die großen europäischen Parteien in den EU-Institutionen zur Kooperation und verhindert dadurch, dass es in absehbarer Zeit einmal eine Kommission geben könnte, an der EVP, SPE oder ALDE nicht beteiligt sind.

Die Europäische Union greift längst viel zu tief in unser Leben ein, um sie technokratisch zu legitimieren – insofern führt an einer politischen Schwerpunktsetzung, wie Jean-Claude Juncker sie sich vorgenommen hat, kein Weg vorbei. Ohne eine wirksame Opposition aber kann eine „politische Kommission“ nicht funktionieren. Die Kommission muss Entscheidungen treffen, sie muss sich angreifbar machen, und sie muss die Möglichkeit haben, diese Entscheidungen in der öffentlichen Debatte zu rechtfertigen. Aber erst wenn die europäischen Verfahren es den Bürgern erlauben, bei der Europawahl eine andere Parteienkonstellation als die übergroße Koalition in die Kommission zu wählen, wird aus der „politischen Kommission“ auch eine wirklich demokratische.

Und damit geht dieses Blog wie jedes Jahr für eine Weile in die Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein glückliches 2015!

Bild: By European People's Party (EPP Dublin Congress, 2014) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons.

09 Dezember 2014

25 Jahre Gipfel von Straßburg: Wie eine EU-Vertragsreform gelingt

Dass vor 25 Jahren (und einem Monat) die Berliner Mauer fiel, blieb auch für die EU nicht folgenlos.
Abgesehen von der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den fünfziger Jahren, war der Maastrichter „Vertrag über die Europäische Union“, der 1992 unterzeichnet wurde, ohne Zweifel der größte Integrationsschub, den das europäische politische System jemals erfahren hat. Er führte nicht nur zur Gründung der europäischen Währungsunion, sondern auch zu einem noch nie zuvor dagewesenen Ausmaß an überstaatlicher Demokratie: So erhielt das Europäische Parlament erstmals ein Mitspracherecht bei der Wahl der Europäischen Kommission und konnte mit dem neu eingeführten „Mitentscheidungsverfahren“ (heute das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ der EU) in einigen Politikfeldern als gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Ministerrat tätig werden, während zugleich nationale Vetorechte abgebaut wurden. Und schließlich führte der Vertrag von Maastricht die Unionsbürgerschaft ein, dank derer alle Bürger der EU unabhängig von ihrer nationalen Staatsangehörigkeit an lokalen Wahlen an ihrem Wohnort teilnehmen können.

Doch ein Vertrag wie jener von Maastricht fällt natürlich nicht vom Himmel. Vielmehr gingen ihr mehrere Jahre voraus, während deren die Befürworter einer vertieften Integration in mühsamen Verhandlungen auf die Reform hinarbeiteten. Ein wichtiger Zwischenerfolg war dabei der Gipfel von Straßburg, der am heutigen Dienstag vor genau 25 Jahren stattfand. Der Jahrestag kann deshalb auch als Anlass dienen, um sich im geschichtlichen Rückblick die Frage zu stellen, wer die Fürsprecher einer gestärkten europäischen Demokratie eigentlich waren – und wie es dazu kam, dass sie mit ihren Forderungen, die den meisten Beobachtern damals lange Zeit reichlich unrealistisch erschienen, zuletzt einen solchen Erfolg erzielten.

Der gescheiterte Spinelli-Entwurf von 1984

Die Europawahl 1979 brachte dem Europäischen Parlament zwar keine neuen Kompetenzen, aber setzte den Ball in Bewegung.
Sucht man nach einem Anfangspunkt für die Dynamik, die schließlich zum Vertrag von Maastricht führte, so wird man wohl am ehesten bei der Europawahl im Juni 1979 fündig, bei der die Mitglieder des Europäischen Parlaments erstmals direkt von den Bürgern gewählt (statt von den Abgeordneten der nationalen Parlamente delegiert) wurden. Zwar hatte das Parlament auch nach der Wahl kaum Kompetenzen, doch die gesteigerte demokratische Legitimität führte zu einem stärkeren Selbstbewusstsein der Europaabgeordneten. Und so machten sie sich auf Initiative des bekannten Föderalisten Altiero Spinelli, der als Unabhängiger auf der Liste der italienischen Kommunisten ins Parlament gewählt worden war, eigenständig daran, einen Entwurf für einen „Vertrag über die Europäische Union“ auszuarbeiten.

Dieser Spinelli-Entwurf, den das Parlament am 14. Februar 1984 verabschiedete (hier der Wortlaut, hier mehr zur Entstehungsgeschichte), enthielt bereits zahlreiche Kernbestandteile des späteren Vertrags von Maastricht, unter anderem das Mitentscheidungsverfahren und das Mitspracherecht des Europäischen Parlaments bei der Ernennung der Europäischen Kommission. Kurzfristig aber war er ein prächtiger Reinfall: Die nationalen Regierungen und Parlamente dachten überhaupt nicht daran, ihn durch eine Ratifikation in Kraft zu setzen.

Der Adonnino-Ausschuss für das „Europa der Bürger“

Stattdessen ernannte der Europäische Rat Mitte 1984 zwei sogenannte Ad-hoc-Ausschüsse, die sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission zusammensetzten. Der erste dieser Ausschüsse, nach seinem Vorsitzenden als Dooge-Ausschuss bekannt, sollte Vorschläge für eine institutionelle Reform erarbeiten; der zweite, bekannt als Adonnino-Ausschuss, sollte Maßnahmen vorschlagen, um ein „Europa der Bürger“ zu gestalten.

Beide Ausschüsse präsentierten ihre Ergebnisse ein Jahr später. Der Dooge-Ausschuss beschränkte sich dabei auf eine begrenzte Anzahl konkreter Änderungen im Vertragssystem, von denen die meisten Ende 1985 in der Einheitlichen Europäischen Akte umgesetzt wurden. Der Adonnino-Ausschuss hingegen erarbeitete ein munteres Sammelsurium an Vorschlägen, von denen einige (etwa die jährliche Ernennung einer „europäischen Kulturstadt“ oder die offizielle Einführung der bereits zuvor verwendeten Europaflagge) eher harmlos waren und ohne viel Aufhebens verwirklicht wurden. Andere hingegen griffen tief in die Verfassungsordnung der Mitgliedstaaten ein – insbesondere der Vorschlag eines allgemeinen Kommunalwahlrechts für alle Bürger von EG-Mitgliedstaaten an ihrem jeweiligen Wohnort.

Kein Interesse im Europäischen Rat

Dieser Vorstoß – der im Adonnino-Ausschuss vor allem von dem Vertreter der Europäischen Kommission, dem italienischen Sozialisten Carlo Ripa di Meana, vorangetrieben wurde – wurde von den nationalen Regierungen allerdings ebenso wenig aufgegriffen wie der Spinelli-Entwurf. Stattdessen konzentrierte sich die Einheitliche Europäische Akte, die Anfang 1987 in Kraft trat, auf die Vollendung des europäischen Binnenmarkts: ein gewaltiges wirtschaftspolitisches Projekt, das bis 1993 umgesetzt werden sollte und sämtliche Energie zu beanspruchen schien, die die Mitgliedstaaten für die EG aufzubringen bereit waren.

Von einem demokratischen Europa der Bürger war hingegen bis auf Weiteres keine Rede mehr, was nicht zuletzt an der britischen Premierministerin Margaret Thatcher (Cons.) lag. Nachdem diese weiteren europäischen Integrationsschritten schon zuvor nur eher unwillig zugestimmt hatte, erteilte sie ihnen in einer vielbeachteten Ansprache in Brügge 1988 eine definitive Absage: Nur „Kooperation zwischen souveränen Staaten“ sollte die Zukunft der EG sein und die „obskuren institutionellen Debatten“ müssten endlich ein Ende finden.

Auf der anderen Seite verblieb nur das Europäische Parlament, das in den Jahren 1988 und 1989 nicht weniger als sieben Resolutionen verabschiedete, in denen es das Demokratiedefizit der EG anprangerte und mehr Mitspracherechte bei der europäischen Gesetzgebung einforderte. Unterstützung fand es dabei durch ein konsultatives Referendum in Italien, bei dem fast 90 Prozent der Wähler den Kurs des Europäischen Parlaments unterstützten, und durch die großen europäischen Parteifamilien: die Europäische Volkspartei (EVP), den Bund der Sozialdemokratischen Parteien der EG (BSPEG, Vorgänger der heutigen SPE) und den Bund der Europäischen Liberalen, Demokratischen und Reformparteien (ELDR, heute ALDE). Der Europäische Rat aber blieb beharrlich dabei, diese Vorstöße zu ignorieren, und so verschwand eine Parlamentsresolution nach der nächsten ergebnislos in der Schublade.

Der Vorstoß zur Währungsunion

Nur wenig mehr Erfolg versprach ein anderes Projekt, das vor allem der 1985 neu ernannte Kommissionspräsident Jacques Delors (PS/BSPEG) vorantrieb: die europäische Währungsunion. Das seit 1979 bestehende Europäische Währungssystem (bei dem sich alle Mitgliedstaaten darauf verpflichteten, den Kurs ihrer nationalen Währungen innerhalb einer bestimmten Bandbreite aufeinander abzustimmen) hatte während der 1980er Jahre deutliche Schwächen gezeigt. Insbesondere führte das wirtschaftliche Übergewicht Deutschlands dazu, dass die deutsche Bundesbank faktisch die Geldpolitik für alle Mitgliedstaaten vorgab – dabei aber natürlich nur die Interessen der deutschen Wirtschaft, nicht die der EG insgesamt im Blick hatte.

Vor allem die französische Regierung drängte deshalb auf eine Überarbeitung des EWS. Tatsächlich hatte Delors selbst, der von 1981 bis 1984 unter François Mitterrand (PS/BSPEG) französischer Finanzminister gewesen war, bereits einige Reformvorschläge für ein faireres EWS gemacht, die jedoch von der deutschen Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU/EVP) abgewiesen worden waren. Als Kommissionspräsident steckte er sein Ziel schließlich noch höher und schlug (unter Rückgriff auf den bereits 1970 beschlossenen, dann aber wieder aufgegebenen Werner-Plan) eine vollständige Währungsunion mit einer gemeinsamen Europäischen Zentralbank vor.

Der Delorsplan und sein vorläufiges Scheitern

Obwohl diese Idee in Deutschland und Großbritannien auf wenig Gegenliebe stieß, gelang es Delors und Mitterrand im Juni 1988, den Europäischen Rat zur Einsetzung eines Ausschusses zu bewegen, der die Möglichkeit einer Währungsunion wenigstens prüfen sollte. Mitglieder des Ausschusses waren (neben drei unabhängigen Experten) die zwölf nationalen Zentralbankchefs, Vorsitzender war Delors selbst. Und tatsächlich legte der Ausschuss im April 1989 einen detaillierten Plan vor, der in drei Stufen zu einer Währungsunion führen sollte. Die erste Stufe beschränkte sich dabei allerdings auf eine bessere Koordinierung innerhalb des alten EWS, erst für die zweite und dritte Stufe war eine Vertragsreform notwendig.

Und es kam, wie es kommen musste: Während Frankreich den Plan nachdrücklich begrüßte, erklärte die britische Regierung, dass sie eine einheitliche europäische Währung niemals akzeptieren würde. Die deutsche Bundesregierung wiederum äußerte zwar grundsätzliches Wohlwollen, spielte dabei aber auf Zeit. Nachdem bei der Europawahl im Juni 1989 die rechtspopulistischen Republikaner in Deutschland 7,1 Prozent der Stimmen erreicht hatten (übrigens genau den gleichen Anteil wie 2014 die AfD), wollte Helmut Kohl auf jeden Fall vermeiden, dass das Ende der D-Mark vor dem Bundestagswahlkampf 1990 zum Thema würde. Wenige Wochen nach der Wahl beschloss der Europäische Rat deshalb, erst einmal nur die erste Stufe des Delors-Plans umzusetzen.

Die Vertragsreform hingegen wurde auf einen unbenannten Zeitpunkt verschoben – und angesichts der britischen Position zweifelte kaum ein Beobachter daran, dass dieser Zeitpunkt der Sankt-Nimmerleinstag sein würde. Die französische Regierung, die in der zweiten Jahreshälfte den Vorsitz im Europäischen Rat übernahm, setzte zwar noch eine Arbeitsgruppe mit hochrangigen Beamten aller Mitgliedstaaten ein, um eine Annäherung der Positionen zu erreichen. Doch alles, was diese bis Anfang November 1989 erreichte, war ein Katalog der Meinungsunterschiede, die einen weiteren Fortschritt verhinderten.

Der Fall der Berliner Mauer

Und dann geschah das, womit fast niemand gerechnet hatte: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, und innerhalb kürzester Zeit verschoben sich die europapolitischen Koordinaten. Zum alles dominierenden Thema wurde plötzlich die deutsche Wiedervereinigung, die sich Helmut Kohl entschlossen zum Ziel setzte. Dafür freilich benötigte er die Zustimmung der vier alliierten Besatzungsmächte: außer den USA und der Sowjetunion auch die EG-Partner Frankreich und Großbritannien.

Am 18. November kam es in Paris zu einem kurzfristig anberaumten Treffen des Europäischen Rates, bei dem vor allem Margaret Thatcher die deutsche Einheit vehement ablehnte. François Mitterrand hingegen drohte zu keinem Zeitpunkt mit einem Veto gegen die deutsche Einheit. Dennoch erkannte er die Gunst der Stunde für einen neuen Vorstoß in Sachen Währungsunion und drängte Kohl, nun endlich einem Zeitplan für die dafür notwendige Vertragsreform zuzustimmen. Zugleich erkannte auch der Bundeskanzler, dass die Wiedervereinigung zu einer weiteren Zunahme des wirtschaftlichen und politischen Übergewicht Deutschlands in Europa führen konnte – und dass es deshalb nötig war, das Land durch einen möglichst unumkehrbaren Integrationsschritt in die EG einzubinden, um Vertrauen zu schaffen und die Rückkehr zu einer aggressiven nationalen Machtpolitik von vornherein auszuschließen.

Kohls Junktim auf dem Gipfel von Straßburg

Und natürlich führte der Weg auch über einen deutsch-französischen Deal.
Kurz vor dem Gipfel von Straßburg änderte Kohl deshalb seine Strategie und akzeptierte Mitterrands Wunsch, sich schon jetzt auf eine Eröffnung der Regierungskonferenz im Dezember 1990 (also unmittelbar nach der geplanten Bundestagswahl) festzulegen. Gleichzeitig aber bestand er darauf, dass die einheitliche Währung nicht das einzige Thema dieser Verhandlungen sein dürfe: Wenn es schon notwendig wurde, der deutschen Öffentlichkeit den Verzicht auf die geliebte D-Mark schmackhaft zu machen, dann sollte diese bittere Pille wenigstens von einem Zuckermantel mit anderen Themen umhüllt werden. Wenn man sich also an eine Vertragsreform machte, dann sollte sie so umfassend wie möglich ausfallen.

Dafür aber benötigte der Bundeskanzler dringend Ideen für weitere Integrationsschritte, die sich mit der Währungsunion verbinden ließen. Er griff also in die Schublade für unbeachtete Reformvorschläge – und fand dort einen Stapel von Resolutionen des Europäischen Parlaments. Am 5. Dezember 1989 erklärte Kohl in einem Brief an Mitterrand, neben der einheitlichen Währung müsse es auch Fortschritte in anderen Bereichen geben. Insbesondere halte er es
für unbedingt notwendig, in die anstehenden Reformen die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments – das ja hierzu […] [bereits] erste Vorstellungen angemeldet hat – einzubeziehen. Die Durchsetzung der Übertragung neuer Befugnisse auf die europäischen Institutionen […] erscheint mir nur möglich, wenn wir gegenüber unseren Parlamenten klar festhalten können, daß in gleichem Maße das Europäische Parlament mehr Kontrollrechte erhält.
Der Vertrag von Maastricht

Danach ging alles ziemlich schnell. Obwohl Mitterrand hinter Kohls Schreiben zunächst nur einen neuen Versuch witterte, die Währungsunion zu verschleppen, ließ er sich letztlich auf den Vorstoß des Bundeskanzlers ein. Jacques Delors wiederum warnte zwar, man solle die Regierungskonferenz nicht mit zu vielen Themen überlasten – schlug aber vor, man könnte vielleicht zwei parallel laufende Konferenzen einrichten, von denen die eine die Währungsunion, die andere die „Politische Union“ zum Thema haben würde. Im März 1990 legte das Europäische Parlament eine neue Resolution vor, in der es noch einmal seine Reformwünsche ausformulierte. Das italienische Parlament erklärte seine Unterstützung dazu; die belgische Regierung preschte mit einem eigenen Memorandum vor, das unter anderem den Vorschlag des Adonnino-Ausschusses zum allgemeinen Kommunalwahlrecht aufgriff. Andere Regierungen folgten mit ähnlichen Ideen. Im Juni 1990 wurde die Einberufung der zweiten Regierungskonferenz beschlossen.

Die generelle Ablehnung Margaret Thatchers spielte indessen plötzlich kaum noch eine Rolle. Als Großbritannien Mitte 1990 in eine Rezession eintrat und die Tories in Umfragen deutlich zurückfielen, schwand der parteiinterne Rückhalt für den europaskeptischen Kurs der Premierministerin. Nach einem Gipfel in Rom im Oktober 1990, bei dem ihre völlige Isolierung in der EG deutlich wurde, kam es schließlich zu einer Revolte des proeuropäischen Flügels. Am 22. November musste Thatcher zurücktreten und wurde durch den kompromissbereiteren John Major ersetzt.

Als im Dezember 1990 schließlich die Regierungskonferenzen für die Vertragsreform eröffnet wurden (inzwischen war Deutschland wiedervereinigt und Kohl hatte die Bundestagswahl gewonnen), waren also alle wesentlichen Vorentscheidungen bereits gefallen. Es folgten dann noch mehrere Monate mühsamer Verhandlungen über Einzelfragen, bei denen einige der ambitioniertesten Vorschläge auch wieder zurückgenommen wurden. Am Ende aber stand mit dem Vertrag von Maastricht der größte Einzelschritt in Richtung einer europäischen Demokratie, den die EU bis heute erlebt hat.

Und heute?

Was lässt sich daraus für die heutigen Bemühungen um eine weitere Demokratisierung und eine neue Vertragsreform lernen? Zunächst einmal sicher, dass die nationalen Regierungen eine Art Türwächter-Funktion einnehmen: Solange sie sich verweigern, ist es so gut wie unmöglich, eine Reform zu verwirklichen. Zu einer Vertragsänderung kommt es erst, wenn genügend Regierungschefs darin auch einen Nutzen für ihre eigenen nationalen Interessen sehen.

Zum anderen zeigt Kohls Beispiel in Straßburg aber auch, dass es sich für eine Regierung manchmal lohnen kann, die Flucht nach vorne anzutreten. Gewiss: Der Verzicht auf die D-Mark war in der deutschen Öffentlichkeit unbeliebt. Aber im entscheidenden Moment entschied sich Kohl eben nicht dafür, die Währungsunion weiter zu blockieren, sondern versuchte stattdessen einen großen Wurf – und wurde dafür nicht nur mit einer europäischen Ehrenbürgerschaft, sondern auch mit einem Bundestagswahlsieg belohnt.

Vor allem aber kann die Geschichte all jene ermutigen, die heute scheinbar vergeblich neue europäische Vertragsänderungen vorschlagen: von der Spinelli-Gruppe im Europäischen Parlament bis zu den Bloggern, die hier vor einigen Monaten ihre Reformpräferenzen beschrieben haben. Auch die Vorschläge für den Vertrag von Maastricht gingen nicht von den Regierungen aus, sondern vor allem von der Kommission und von den föderalistischen Aktivisten im Europäischen Parlament. Im Europäischen Rat stießen sie damit erst einmal auf taube Ohren, und womöglich wäre das ohne den welthistorischen Zufall des Zusammenbruchs der DDR auch noch lange so geblieben. Aber nur weil das Parlament trotz der scheinbaren Aussichtslosigkeit beharrlich blieb, konnte Kohl vor dem Gipfel von Straßburg auf konkrete Vorschläge zurückgreifen. Und so wurde aus den eben noch so unrealistischen Forderungen plötzlich eine ganz reale Reform.

Bilder: by Andreas Krüger [CC BY-NC 2.0], via Flickr; by Deutsche Bundespost (scanned by NobbiP) [Public domain], via Wikimedia Commons; by Bundesarchiv, B 145 Bild-F076604-0021 / Schaack, Lothar / CC BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons

02 Dezember 2014

Jenseits der Gleichgültigkeit: Das politische System der EU und die Europaskepsis

Der Konsens ist vorbei, die Politik muss beginnen.
Man nannte es den permissive consensus: Nach einer kurzen Phase der Europabegeisterung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg war die Haltung, mit der die Öffentlichkeit der europäischen Einigung gegenüberstand, über Jahrzehnte hinweg von einer wohlwollenden Gleichgültigkeit geprägt. Der Integrationsprozess war ein Projekt, das die Verflechtungen zwischen den europäischen Ländern fördern, den allgemeinen Wohlstand mehren und den Frieden sichern sollte – lauter Ziele, die man kaum ernsthaft ablehnen konnte. Worum es bei der Europäischen Gemeinschaft konkret ging, waren jedoch hochspezialisierte wirtschaftliche Fragen: Zolltarife und Importkontingente, Stahlpreise und Agrarmarktordnungen, Kartellverbote und die Sozialversicherungspflichten von Wanderarbeitern.

Wer nicht gerade aus beruflichen Gründen grenzüberschreitend tätig war, spürte die Folgen der europäischen Annäherung deshalb meist nur sehr indirekt und hatte keinen Anlass, sich allzu viele Gedanken darüber zu machen. Für den größten Teil der Bevölkerung war das geeinte Europa ein hehres Ideal, aber zugleich auch etwas, was man gerne den Eliten in Wirtschaft, Politik und Verwaltung überließ.

Das Ende des „permissive consensus“

Ab Ende der 1980er Jahre begann sich dies jedoch zu ändern. Das lag in erster Linie daran, dass der Einigungsprozess einen neuen Charakter annahm: Nachdem die EG sich bis dahin vor allem auf die sogenannte negative Integration (den Abbau von Handelshindernissen) konzentriert hatte, rückte nun die positive Integration (der Aufbau eines gemeinsamen Regelwerks) in den Mittelpunkt – etwa in Form von harmonisierten technischen Normen oder von Mindeststandards im Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz. Der europäische Binnenmarkt drang damit mehr als bisher in das Alltagsleben ein, und vor allem die 1992 im Vertrag von Maastricht vereinbarte Währungsunion zeigte große symbolische Wirkung.

Hinzu kam, dass mit den wachsenden Aufgaben auch das Budget der EG anstieg. Neben die Agrarfonds zur Subventionierung der europäischen Landwirtschaft traten die Struktur- und Kohäsionsfonds, die der Entwicklung wirtschaftlich weniger entwickelter Regionen dienen. Auch wenn ihr Volumen weit hinter dem der nationalen Haushalte zurückblieb, kamen diese Fördermittel jährlich einer Vielzahl einzelner Projekte zugute und trugen so zur Sichtbarkeit der EG bei. Schließlich wurden auch die europäischen Freiheiten für den Einzelnen besser erfahrbar – sei es durch das Schengener Abkommen von 1985, das die innereuropäischen Grenzkontrollen abschaffte, oder durch das Erasmus-Programm, das seit 1987 mehr als zwei Millionen Studenten einen Aufenthalt an einer Universität im europäischen Ausland ermöglicht hat und bis heute zu den beliebtesten EU-Errungenschaften zählt.

Wachsendes Unbehagen

Doch die Hoffnungen, die die Europäische Kommission in den 1980er Jahren auf ein „Europa der Bürger“ setzte, erfüllten sich nur teilweise. Zwar stieg das öffentliche Interesse an der EU tatsächlich an, und die Medien begannen, wenn auch zögerlich, öfter über Brüsseler Themen zu berichten. Mit der Gleichgültigkeit verschwand aber auch das allgemeine Wohlwollen. Stattdessen führte die Entwicklung gemeinsamer Standards rasch zum Vorwurf einer überbordenden Bürokratie, und das wachsende europäische Budget löste nach dem Regierungsantritt der britischen Premierministerin Margaret Thatcher 1979 die erste öffentliche Nettozahlerdebatte aus. Generell machte sich in großen Teilen der Bevölkerung ein diffuses Unbehagen am Integrationsprozess breit: Der Ausdruck „Europaskepsis“, Anfang der 1980er Jahre noch völlig unbekannt, entwickelte sich in den 1990ern zu einem gängigen politischen Schlagwort.

Erste handfeste Folgen zeigte diese Entwicklung, als 1992 die Dänen den Vertrag von Maastricht in einem Volksentscheid ablehnten. Ein Jahr später setzten sich bei einem neuen Referendum zwar doch noch die Befürworter des Vertrags durch, sodass dieser schließlich in Kraft treten konnte. Bei vielen der Skeptiker jedoch verfestigte sich der Eindruck, dass das Mehrheitsvotum bei dieser wichtigen politischen Entscheidung schlicht übergangen worden war – umso mehr, als sich ähnliche Szenarien bei späteren Vertragsreformen auch in anderen Ländern wiederholten. In Großbritannien, aber auch anderswo, entstanden explizit integrationsfeindliche Parteien, die sich für einen Austritt aus der EU, mindestens aber für eine Rückübertragung von Kompetenzen an die Nationalstaaten einsetzten.

Einen neuen Höhepunkt erreichte die Unzufriedenheit ab 2008 mit der Eurokrise, die nicht nur die Funktionsweise der Währungsunion in Frage stellte, sondern auch zu einem Testfall für die Solidaritätsbereitschaft der Europäer wurde. Die Kombination aus neuen Hilfsinstrumenten einerseits und einer strikten Sparpolitik andererseits, mit der der Europäische Rat die Krise zu lösen versuchte, stieß dabei auf allen Seiten auf Widerstand. Während viele Südeuropäer sich vom Rest der EU gegängelt und im Stich gelassen fühlten, wuchs im Norden die Furcht vor einer „Transferunion“, bei der man dauerhaft für die Schulden anderer Länder würde bezahlen müssen. Bei der Europawahl 2014 zeigte sich dieser Unmut schließlich auch an den Urnen. Während die großen Parteien in der Mitte des politischen Spektrums teils deutliche Verluste erlitten, wurden die Ränder so stark wie noch nie: in Südeuropa vor allem linke, in Nord- und Mitteleuropa hingegen eher rechts- und nationalpopulistische Parteien.

Um Transparenz bemüht

Rund fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende des permissive consensus ist die Haltung der europäischen Gesellschaft zum Integrationsprozess damit widersprüchlicher denn je. Vor allem unter den besser gebildeten, jüngeren und mobileren Menschen ist es nicht unüblich, mehrere Fremdsprachen zu sprechen, einen internationalen Freundeskreis zu haben und sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als „Europäer“ zu verstehen. Unter jenen, die die Vorteile der Integration nicht unmittelbar erfahren, macht sich hingegen eine Ablehnung gegenüber dem gesamten europäischen politischen System breit, die weit über eine bloße Kritik an einzelnen Gesetzgebungsakten hinausgeht. Bestimmte Motive leuchten dabei zwar immer wieder auf: etwa die Angst um den eigenen Wohlstand, vor kultureller „Überfremdung“ oder vor einem Verlust an nationaler Souveränität. Wie realistisch diese Befürchtungen sind, spielt dabei jedoch oft nur eine untergeordnete Rolle, und auch die Gegenvorschläge der Europaskeptiker bleiben meist eher vage. Was ihre Haltung hauptsächlich ausmacht, ist vielmehr das Gefühl, übergangen zu werden und kein Gehör zu finden – und deshalb keine andere Möglichkeit zu haben, als sich gegen den europäischen Integrationsprozess an sich zu wehren.

Wo kommt dieses Gefühl her? Spricht man darüber mit Vertretern der supranationalen EU-Institutionen, so stößt man oft auf ein gewisses Befremden. Aus ihrer eigenen Sicht sind diese schließlich schon heute transparenter und bieten mehr Partizipationsmöglichkeiten, als in den meisten Nationalstaaten üblich sind: Die „legislative Beobachtungsstelle“ des Europäischen Parlaments etwa ermöglicht es, Gesetzgebungsverfahren detailliert mitzuverfolgen. Auf der Homepage des Parlaments werden sämtliche Sitzungen per Livestream übertragen. Der Europäische Bürgerbeauftragte nimmt Beschwerden entgegen und sucht nach pragmatischen Lösungen. Und seit 2003 führt die Europäische Kommission vor wichtigen Initiativen regelmäßig Online-Konsultationen durch, um möglichst früh eine möglichst große Zahl von Meinungen zu erfahren und dadurch einen möglichst abgewogenen Kompromiss zwischen möglichst vielen Interessen präsentieren zu können.

Die Schattenseiten der Konsensmaschine

Gewiss, daneben gibt es auch die sprichwörtlichen Hinterzimmer-Vereinbarungen – etwa den sogenannten „informellen Trilog“, bei dem sich Vertreter aller drei großen EU-Institutionen (Kommission, Parlament und Rat) treffen, um vor wichtigen Gesetzgebungsbeschlüssen abseits des offiziellen Verfahrens Kompromissmöglichkeiten auszuloten. Gerade diese beständige Suche nach Kompromissen ist in den Augen vieler Europafreunde ein schlagender Beweis dafür, dass die EU nichts mit dem quasi-diktatorischen Regime zu tun hat, als das die Skeptiker sie gerne darstellen. Im Gegenteil: Ihrer ganzen Struktur nach ist die EU eher eine Konsensmaschine, die durch eine ganze Reihe von Verfahrensmechanismen verhindert, dass eine einzelne Institution, ein einzelnes Land oder eine einzelne Partei im Alleingang ihre Interessen durchsetzen kann.

Infolgedessen sind im Europäischen Parlament breite fraktionsübergreifende Mehrheiten eher die Regel als die Ausnahme, und im Ministerrat kann oft schon eine verhältnismäßig kleine Sperrminorität jeden Beschluss zu Fall bringen, sofern nicht (wie in vielen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen) ohnehin jede Mitgliedsregierung ein Vetorecht hat. In einer positiven Interpretation kann man dies durchaus als Beitrag zu einer rationaleren und friedlicheren Politik verstehen. Wenn man im heutigen Europa erfolgreich sein will, muss man vor allem die leisen Töne beherrschen und Argumente finden, die auch Andersdenkende überzeugen. Dass dafür auch vertrauliche Gespräche notwendig sind, ist naheliegend: Hauptsache sei, so die Befürworter des Konsenssystems, dass zuletzt die Interessen aller Beteiligten in angemessener Weise befriedigt sind.

Und dennoch dürfte paradoxerweise gerade der ständige Kompromisszwang eine der wichtigsten strukturellen Ursachen dafür sein, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung immer weniger von der europäischen Politik vertreten fühlt. Tatsächlich sind es nämlich wiederum vor allem die ohnehin integrationsfreundlicheren Wirtschafts- und Bildungseliten, die die Interaktionskanäle der EU nutzen und auf dem Weg der mühevollen Lobby- und Überzeugungsarbeit ihre Interessen in das politische System einspeisen können. Dem größten Teil der übrigen Bevölkerung hingegen fehlen dazu schlicht die Zeit und die Ressourcen. Um eine breite demokratische Legitimation zu erzeugen, sind deshalb Verfahren notwendig, die es den Bürgern auch mit wenig Aufwand ermöglichen, das politische Geschehen zu verstehen und sich daran zu beteiligen.

Nationale Vetorechte bringen nicht mehr Bürgernähe

In den meisten Nationalstaaten spielt dafür die Dynamik zwischen Regierung und Opposition eine entscheidende Rolle: Wer mit den herrschenden Verhältnissen unzufrieden ist, der braucht nur einen Stimmzettel, um bei der nächsten Wahl der Opposition zur Macht zu verhelfen und so einen Politikwechsel herbeizuführen. Auf europäischer Ebene entfällt diese Dynamik jedoch. Da Beschlüsse in der Regel ohnehin nur zustande kommen, wenn mindestens die beiden größten Parteien im Europäischen Parlament ihnen zustimmen, können diese ihre politischen Gegensätze kaum noch öffentlich ausleben. Die europäischen Entscheidungsverfahren erzwingen eine Art permanente Große Koalition, die faktisch nicht abwählbar ist. Genau dies aber erzeugt den Eindruck der „Alternativlosigkeit“, der die EU oft so bedrohlich wirken lässt. In einem allzu komplexen politischen System ist die Wahl populistischer und extremistischer Parteien deshalb für viele Menschen vor allem ein verzweifelter Versuch, überhaupt noch eine Wirkung zu erzielen: Da es innerhalb der Brüsseler Konsensmaschine kein Ventil für ihre Unzufriedenheit gibt, geben sie ihre Stimme eben einer Partei, die die europäische Integration insgesamt ablehnt.

Will man verhindern, dass sich europafeindliche Parteien dauerhaft festsetzen, muss man deshalb Mechanismen schaffen, die es den Bürgern erlauben, mit einfachen Mitteln einen spürbaren Einfluss auf die Europapolitik zu nehmen. Der alte permissive consensus, die wohlwollende Gleichgültigkeit der Bevölkerungsmehrheit gegenüber der europäischen Integration, wird nicht zurückkehren – dafür ist die europäische Gesellschaft längst zu verflochten und die EU zu wichtig für unser Alltagsleben geworden. Um die Nationalpopulisten zu bremsen, hilft es aber auch nicht, sich auf ihre Forderung nach einer Entmachtung der supranationalen Institutionen einzulassen. Im Gegenteil: Der Versuch, „Bürgernähe“ durch mehr nationale Vetorechte zu erreichen, würde die politische Verantwortlichkeit für gemeinsame europäische Entscheidungen nur noch weiter verschwimmen lassen.

Mehr europäische Demokratie gegen die Europaskepsis

Was die EU braucht, um Legitimität zurückzugewinnen, ist vielmehr ein funktionierendes demokratisches Wechselspiel zwischen einer gewählten (und abwählbaren) Mehrheit und einer loyalen Opposition. Das aber geht nur über eine Stärkung des Europäischen Parlaments, etwa indem man die notwendigen Mehrheiten für die Gesetzgebung absenkt, den Einfluss des Ministerrats reduziert und die Mitglieder der Europäischen Kommission künftig allein durch das Parlament wählen lässt.

„Mehr Europa“, um die Europaskepsis zu überwinden? Auf den ersten Blick mag dies nach einem paradoxen und reichlich elitären Vorschlag aussehen. Das dahinterstehende Ziel aber ist durchaus nicht elitär – geht es doch um die Idee einer Europäischen Union, in der nicht „Sachzwang“-Argumente vorherrschen, sondern jeder Bürger die Möglichkeit bekommt, durch Wahlen inhaltliche und personelle Richtungsentscheidungen zu treffen. Die alte Konsensmaschine war lange Zeit gut geeignet, um einen Interessenausgleich zwischen den europäischen Eliten herbeizuführen. Um jedoch auch die breite Bevölkerung mit einzubinden, muss sie von einer neuen Kultur des demokratischen Wettstreits abgelöst werden. Missmut und Kritik wird es immer geben, sie gehören zur Politik ganz selbstverständlich dazu. Nur wenn das politische System der EU sie richtig kanalisiert, kann es populistischen und extremistischen Parteien das Wasser abgraben, bevor es zu einem Dammbruch kommt.

Dieser Artikel erschien zuerst im Schwerpunkt Europa des Dossiers Rechtsextremismus der Bundeszentrale für politische Bildung. Er steht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE. Das Original ist hier zu finden.

Bild: Eigenes Foto.

25 November 2014

Einer für sieben Milliarden: Das Ernennungsverfahren des UN-Generalsekretärs

Erinnern Sie sich noch, wie Ban Ki-Moon ins Amt kam?
Zu den größten politischen Errungenschaften dieses Jahres zählte ohne Zweifel die Demokratisierung der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten. Lange Zeit war der Chef der europäischen Exekutive von den nationalen Staats- und Regierungschefs in undurchsichtigen Hinterzimmer-Vereinbarungen ausgesucht und vom Europäischen Parlament lediglich bestätigt worden. Diesmal hingegen stellten die europäischen Parteien schon vor der Europawahl Spitzenkandidaten auf und ermöglichten so den Bürgern selbst ein indirektes Mitspracherecht über dieses wichtigste Amt der EU. Allerdings fiel dieses neue Verfahren natürlich nicht vom Himmel: Es war nicht zuletzt das Ergebnis langjährigen Drucks aus der Zivilgesellschaft, besonders der Union Europäischer Föderalisten, die bereits vor der vorherigen Europawahl 2009 eine Kampagne gestartet hatte, die unter dem Slogan Who is your candidate? die europäischen Parteien zu einem transparenteren Wahlverfahren aufforderte.

Von der europäischen zur globalen Ebene: Auch bei den Vereinten Nationen wird in Kürze der Chef der Exekutive neu gewählt. Die Amtszeit des derzeitigen UN-Generalsekretärs Ban Ki-Moon dauert zwar noch bis Ende 2016, doch die diplomatischen Mühlen in New York mahlen bekanntlich eher langsam, und so zirkulieren bereits die ersten Listen mit Namen möglicher Kandidaten. Inoffiziell, natürlich. Denn die Wahl des UN-Generalsekretärs zählt wohl zu den intransparentesten Ernennungsverfahren, die es überhaupt in einer überstaatlichen Organisation gibt. Aber immerhin gibt es auch hier inzwischen erste Bemühungen, um das zu ändern.

Der unmöglichste Job der Welt

Generalsekretär der Vereinten Nationen zu sein ist nach einem bekannten Bonmot des ersten Amtsinhabers Trygve Lie der „unmöglichste Job der Welt“. Gemäß der UN-Charta ist der Generalsekretär „der höchste Verwaltungsbeamte der Organisation“; die Homepage der Vereinten Nationen beschreibt ihn als „Fürsprecher für die Interessen der Völker der Welt“. Wie der Präsident der Europäischen Kommission übt er seine Tätigkeit in voller politischer Unabhängigkeit aus. Seine genauen Zuständigkeiten bleiben in der Charta allerdings eher vage: Er kann „die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden“ und nimmt zudem „alle sonstigen […] Aufgaben wahr“, die ihm von einem der anderen UN-Hauptorgane zugewiesen werden.

Der Generalsekretär hat also nur wenig konkrete Macht, um eigene Entscheidungen gegen den Willen anderer Akteure durchzusetzen: Für große inhaltliche Beschlüsse ist er stets auf die Unterstützung des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung angewiesen. Durch seine zentrale Koordinierungsfunktion übt er aber sehr viel Einfluss auf die politische Agenda aus. So bildet er nicht nur die kommunikative Schaltstelle zwischen den 193 Mitgliedstaaten, sondern auch zwischen den zahlreichen Einzelprogrammen, Fonds und Agenturen, die das UN-System heute umfasst. Insbesondere leitet er das UN System Chief Executives Board for Coordination (UNSCEB), in dem die Chefs der einzelnen UN-Sonderorganisationen ihre Tätigkeiten aufeinander abstimmen.

Versteht man diese Sonderorganisationen, die jeweils für einen konkreten inhaltlichen Bereich wie Arbeit, Landwirtschaft, Gesundheit, Kultur oder Handel zuständig sind, als die „Ministerien“ der Vereinten Nationen, so bildet das UNSCEB gewissermaßen das Regierungskabinett. Dieser Vergleich hinkt zwar insofern, als nicht jede Sonderorganisation sämtliche UN-Mitgliedstaaten umfasst. Die Präsidenten der Sonderorganisationen werden deshalb jeweils einzeln von den nationalen Regierungen ihrer jeweiligen Mitgliedstaaten ernannt und sind dem Generalsekretär gegenüber nicht politisch verantwortlich. Außerdem leidet das Völkerrecht auch an seiner starken Fragmentierung, was ohnehin jede Parallele zwischen den UN und einem klassischen Verfassungsstaat schwierig macht. Klar ist aber: Wenn es jemals so etwas wie einen Welt-Regierungschef geben wird, dann wird sich sein Amt aus dem des UN-Generalsekretärs entwickeln.

Persönlichkeit der Amtsinhaber

Diese herausgehobene Position des UN-Generalsekretärs bei gleichzeitig weitgehender Offenheit seiner formalen Zuständigkeiten führt natürlich auch dazu, dass hier noch stärker als bei anderen politischen Ämtern die Persönlichkeit des Amtsinhabers eine wesentliche Rolle spielt. Entsprechend unterschiedlich wurde es auch im Lauf seiner Geschichte ausgeübt: von Aktivisten wie Dag Hammarskjöld (1953-1961), der die Aufstellung der ersten bewaffneten Blauhelmtruppen vorantrieb und posthum den Friedensnobelpreis erhielt, und von eher passiven Vermittlern wie Kurt Waldheim (1972-1981), der „weltferne Visionen“ explizit ablehnte und in erster Linie auf die Interessen der Supermächte Rücksicht nahm.

Auch die letzten zweieinhalb Jahrzehnte zeigten ganz unterschiedliche Charaktere an der Spitze der UN-Exekutive. Zunächst versuchte Boutros Boutros-Ghali (1991-1996), den UN die globale Führungsrolle für die Zeit nach dem Kalten Krieg zu sichern, scheiterte aber an den Machtansprüchen der USA. Erfolgreicher war Kofi Annan (1997-2006), der nicht nur die UN-Verwaltung effizienter machte, sondern mit dem Konzept der „Schutzverantwortung“ auch eine Debatte über die Grenzen nationaler Souveränität anstieß. Durch sein Charisma und seine geschickte Rhetorik gewann Annan zudem auch in der globalen Medienöffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit als die meisten seiner Vorgänger und wurde letztlich ebenfalls mit dem Friedensnobelpreis belohnt. Sein Nachfolger Ban Ki-Moon (2007-2016) hingegen blieb ein weitgehend blasser Diplomat, der kaum mit eigenen Initiativen auffiel.

Maximale Intransparenz

Doch gerade angesichts dieser großen Bedeutung der Persönlichkeit des Generalsekretärs spielt natürlich auch das Verfahren, nach dem er (oder sie) gewählt wird, eine zentrale Rolle: Da der Generalsekretär bei der Umsetzung seiner Ziele auf die Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsrat und der Generalversammlung angewiesen ist, soll es zum einen sicherstellen, dass er das Vertrauen der Mitgliedstaaten genießt. Zum anderen könnte das Wahlverfahren aber auch dazu beitragen, ihm gerade jene moralische Autorität zu verschaffen, die er als „Fürsprecher der Weltbevölkerung“ benötigt, um sich auch einmal gegen den Widerstand einzelner mächtiger Regierungen durchzusetzen.

Doch wenn die UN-Charta schon bei den Aufgaben des Generalsekretärs vage bleibt, so erst recht bei seinem Ernennungsverfahren. Art. 97 widmet diesem lediglich einen einzigen Satz, nämlich: „Der Generalsekretär wird auf Empfehlung des Sicherheitsrats von der Generalversammlung ernannt.“ Die Einzelheiten dazu (die im Wesentlichen bis heute gelten) legte die Generalversammlung erst 1946 in einer ihrer ersten Resolutionen fest – wobei die Mitgliedstaaten bedauerlicherweise nicht nur einen Großteil ihrer Macht an den Sicherheitsrat abgaben, sondern sich zudem auch noch für maximale Intransparenz aussprachen:
Es wäre wünschenswert, dass der Sicherheitsrat der Generalversammlung nur einen einzigen Kandidaten zur Berücksichtigung vorschlägt und eine Debatte über die Nominierung in der Generalversammlung vermieden wird. Sowohl die Nominierung als auch die Ernennung sollten bei nicht-öffentlichen Sitzungen besprochen werden, und falls im Sicherheitsrat oder in der Generalversammlung eine Abstimmung erfolgt, sollte diese geheim sein.

Nur ein Kompromiss zwischen Russland und den USA?

Die Absicht hinter dieser Regelung ist natürlich, öffentliche Auseinandersetzungen über die Ernennung des Generalsekretärs nach Möglichkeit zu vermeiden was aus einer rein diplomatischen Perspektive durchaus Sinn ergibt. Wenn man sich den Generalsekretär in erster Linie als eine Art Chefvermittler zwischen den globalen Großmächten vorstellt, dann kann es seiner Aufgabe durchaus zuträglich sein, wenn er und seine eigene politische Agenda möglichst wenig öffentliche Aufmerksamkeit finden. Und tatsächlich hatten fast alle bisherigen Generalsekretäre bei ihrer Nominierung noch kaum politisches Profil, sondern entwickelten dieses allenfalls im Verlauf ihrer Amtszeit.

In jüngster Zeit jedoch gerät das Verfahren zunehmend in die Kritik. Das liegt zum einen daran, dass es sehr viel Macht bei den wenigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats ballt – insbesondere bei jenen fünf Staaten, die dort einen ständigen Sitz einnehmen: die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich. Da sie mit ihrem Vetorecht jeden Kandidaten blockieren können, sind es vor allem diese permanent five, auf die es bei der Nominierung des Generalsekretärs ankommt. Und da die Konflikte in Syrien und der Ukraine in den letzten Jahren vor allem Russland und die USA immer wieder in geopolitische Konkurrenz zueinander brachten, zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Wahl des nächsten UN-Generalsekretärs im Wesentlichen als Kompromiss zwischen den Regierungen dieser beiden Staaten zustande kommen wird – was für den Rest der Welt natürlich eine etwas frustrierende Perspektive ist.

Intransparenz schwächt die nötige Führungsrolle

Zum anderen führt das intransparente Ernennungsverfahren letztlich auch zu einer strukturellen Schwäche, die sich die Vereinten Nationen angesichts der zunehmenden Transnationalisierung politischer Herausforderungen immer weniger leisten können. Die Rolle des Generalsekretärs als Vermittler zwischen den Großmächten mag angemessen gewesen sein, solange sich Weltpolitik noch im Wesentlichen auf die Beziehungen zwischen weitgehend geschlossenen Nationalstaaten beschränkte.

Durch das grenzüberschreitende Zusammenwachsen der Weltgesellschaft gehen jedoch viele der Themen, mit denen die Vereinten Nationen sich heute beschäftigen müssen, darüber weit hinaus: Fragen wie der Klimawandel, Migration oder der Kampf gegen Epidemien lassen sich nicht mehr auf ein einfaches Muster nationaler Interessen herunterbrechen, sondern brauchen genuin globale Antworten. Um diese zu finden, sollte der UN-Generalsekretär stärker als früher in der Lage sein, eine gewisse politische Richtung vorzugeben. Die moralische Autorität und Legitimität dazu wird er jedoch nur haben, wenn seine Agenda schon vor seiner Wahl öffentlich bekannt und diskutiert worden ist.

Einige Reformvorschläge

Wie also ließe sich das Ernennungsverfahren des UN-Generalsekretärs reformieren? Von einem wirklich demokratischen Verfahren, wie es die EU für den Kommissionspräsidenten gefunden hat, sind die Vereinten Nationen natürlich noch weit entfernt. Aber auch ohne sich in Utopien zu verlieren, gibt es eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen, die zu einer höheren Transparenz des Verfahrens und einer größeren politischen Unabhängigkeit des Generalsekretärs führen könnten. Hierzu zählen unter anderem:

eine öffentliche Ausschreibung des Amtes, mit klaren Auswahlkriterien und einem vorab bekannt gegebenen Zeitplan für das Ernennungsverfahren,
eine öffentliche Bekanntgabe der Namen der Kandidaten durch den UN-Sicherheitsrat,
öffentliche Debatten zwischen den Kandidaten, bei denen sie ihre politischen Ziele für die Amtszeit darstellen,
die Nominierung von zwei oder mehr Kandidaten durch den UN-Sicherheitsrat, sodass die endgültige Entscheidung über die Wahl erst in der Generalversammlung fällt,
die Verlängerung der Amtszeit von fünf auf sieben Jahre bei gleichzeitigem Verbot der Wiederwahl.

Die Verwirklichung dieser Ziele wäre ohne großen institutionellen Aufwand möglich, wenn es gelingt, im Sicherheitsrat und der Generalversammlung die nötigen Mehrheiten zu finden. Dafür haben das World Federalist Movement, die United Nations Association UK und das Netzwerk Avaaz eine Kampagne namens One for Seven Billion gestartet. Ob sie damit bis 2016 tatsächlich erfolgreich sein werden, ist natürlich offen. Immerhin aber haben sie schon einmal erreicht, dass sich die New York Times und der Guardian für das Thema zu interessieren beginnen.

Und die EU wurde ja bekanntlich auch nicht an einem Tag errichtet.

Das Manifest der Kampagne One for Seven Billion, in dem die Forderungen im Einzelnen formuliert und erklärt werden, ist hier nachzulesen. Wer die Kampagne mit seiner Unterschrift unterstützen will, hat hier die Möglichkeit dazu.

Bilder: by World Economic Forum [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons; by 1 for 7 Billion Campaign.