27 Februar 2014

Warum das Karlsruher Sperrklausel-Urteil der europäischen Demokratie schadet und wie die Politik jetzt reagieren kann

Es ist ja nicht so, als ob die Vielfalt im Europäischen Parlament vor dem jüngsten Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts allzu einfach zu überblicken gewesen wäre.
Wie viele Parteien von dem gestrigen Urteil, mit dem das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Sperrklausel im deutschen Europawahlgesetz für nichtig erklärt hat (Wortlaut, Presseerklärung), tatsächlich profitieren werden, ist derzeit noch kaum vorauszusagen. Deutschland wird im nächsten Europäischen Parlament 96 Abgeordnete stellen, sodass (je nach Rundungszufällen) knapp 1 Prozent der Stimmen für ein Mandat genügen könnte. Nach den Ergebnissen der Europawahl 2009 hätten damit die Freien Wähler, die Republikaner, die Tierschutzpartei, die Familienpartei, die Piratenpartei, die Rentnerpartei sowie die ÖDP jeweils ein bis zwei Sitze gewonnen. Und auch die rechtsextreme NPD dürfte im kommenden Mai dank des Urteils ziemlich sicher ins Europäische Parlament einziehen – womöglich nur wenige Monate, bevor sie dann von demselben Gericht als verfassungsfeindlich verboten wird.

Das Parlament bleibt handlungsfähig

Aber damit es keine Missverständnisse gibt: Die Bedrohung, die von dem Karlsruher Urteil ausgeht, besteht nicht darin, dass im Europäischen Parlament künftig der ein oder andere deutsche Rechtsextreme sitzen wird. Und auch die anderen Kleinparteien werden, jede für sich genommen, keinen großen Unterschied machen. Vielmehr werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach nur die jetzt schon recht gut besetzten Reihen der fraktionslosen Abgeordneten weiter füllen, sie werden die ein oder andere Rede für die Kameras halten, und wenn es an die eigentlichen Entscheidungen geht, wird man sie schlicht ignorieren. Denn wie in jedem anderen funktionierenden Parlament fallen auch in der Straßburger Europakammer die wichtigsten Beschlüsse inzwischen innerhalb und zwischen den Fraktionen. Der politische Einfluss eines einzelnen Abgeordneten aus einer nicht gesamteuropäisch organisierten Kleinpartei ist minimal.

Und auch eine andere Kritik an dem Karlsruher Urteil, die jetzt verschiedentlich zu hören ist, trifft nur bedingt zu: Die Handlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments wird durch den Wegfall der Sperrklausel nur wenig beeinträchtigt werden. Selbst wenn sich, was nach aktuellen Umfragen realistisch erscheint, die Zahl der derzeit knapp dreißig fraktionslosen Abgeordneten nach der Europawahl ungefähr verdoppelt, und selbst wenn man dazu noch einmal etwa dreißig bis vierzig Abgeordnete der rechtspopulistischen EFD-Fraktion (oder einer anderen, noch stärker rechtsgerichteten Nachfolgegruppierung) zählt, würden sie kaum ein Siebtel des Parlaments ausmachen. Die Parteien, die an einer konstruktiven Politik interessiert sind, werden in Straßburg also weiterhin die große Mehrheit stellen. Auch der Vergleich mit der Weimarer Republik, in der ab 1930 fast die Hälfte, ab 1932 sogar die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten systemfeindlich eingestellt war, geht daher fehl.

Demokratie ist mehr als Repräsentation und Handlungsfähigkeit

Dass ich die jüngste Entscheidung dennoch für eine Gefahr für die europäische Demokratie halte, hat einen anderen Grund. Denn wie ich im Zusammenhang mit der Europawahl-Sperrklausel bereits an anderer Stelle ausführlicher geschrieben habe, besteht der Sinn demokratischer Wahlen ja nicht nur darin, ein repräsentatives und irgendwie handlungsfähiges Parlament hervorzubringen. Vielmehr dienen das Wahlverfahren und die Gruppierung der Abgeordneten in Fraktionen auch der Reduktion von Komplexität: Aus einer millionenfachen Vielfalt von einzelnen Überzeugungen soll ein überschaubares Spektrum von politischen Akteuren herausgefiltert werden. Dies ermöglicht zum einen die Entscheidungsfindung innerhalb des Parlaments und ist zum anderen auch für die öffentliche Kontrolle von Bedeutung. Denn während kaum ein Bürger das Abstimmungsverhalten von hunderten Einzelabgeordneten mitverfolgen könnte, kann er sich über eine Handvoll Fraktionen sehr wohl eine Meinung bilden – und wird erst dadurch in die Lage versetzt, bei der Wahl eine aufgeklärte Entscheidung zu treffen.

Einer der zentralen Mechanismen, durch die Demokratien Legitimität hervorbringen, ist deshalb das Wechselspiel zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. Unabhängig davon, wie vernünftig und „gut“ eine Regierung ihre Herrschaft ausübt, wird sie mit manchen ihrer Entscheidungen immer wieder Unzufriedenheit und Frustration in Teilen der Bevölkerung auslösen. Wenn diese Unzufriedenheit kein Ventil findet, dann richtet sie sich rasch gegen das politische System als Ganzes – was unter anderem dazu führt, dass technokratisch-autoritäre Regime ihre Macht zuletzt in der Regel nur durch Repression und Gewalt erhalten können. Die Stärke einer parlamentarischen Demokratie hingegen besteht darin, dass sie Menschen, die mit der Regierung enttäuscht sind, weitere Alternativen zur Verfügung stellt, ohne dabei die Legitimität des politischen Systems insgesamt zu gefährden. Wem nicht gefällt, wie er regiert wird, kann bei der nächsten Wahl für die Opposition stimmen und dadurch einer neuen Mehrheit an die Macht verhelfen.

Damit ein Parlament funktioniert, muss es also nicht nur repräsentativ und politisch handlungsfähig sein, sondern in irgendeiner Form auch die Möglichkeit demokratischer Alternanz bieten. Voraussetzung dafür ist jedoch nicht nur, dass es überhaupt eine Opposition gibt, sondern auch, dass diese Opposition eine plausible Alternative zu der aktuellen Regierung bietet. Radikaloppositionelle Splitterparteien und fraktionslose Einzelabgeordnete mögen sich zum Sprachrohr einzelner unzufriedener Gruppen in der Gesellschaft machen oder bestimmte Sonderanliegen in die politische Debatte einschleusen. Aber da sie kaum eine Chance haben, nach einer zukünftigen Wahl ihrerseits eine Mehrheit zu stellen, tragen sie nur begrenzt zur Legitimation des politischen Systems insgesamt bei.

Die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament

Und genau hier liegt in meinen Augen auch die größte Schwäche des Europäischen Parlaments. Mit derzeit sieben Fraktionen und über zwei Dutzend fraktionslosen Abgeordneten ist es seit jeher eines der buntesten Parlamente des Kontinents. Es gibt darin schon heute links- wie rechtsextreme Parteien, Progressive und Reaktionäre, europäische Föderalisten und radikale Nationalisten. Doch gerade diese Vielfalt führt dazu, dass seit der Gründung des Parlaments fast alle wesentlichen Entscheidungen auf einer Einigung zwischen den beiden stärksten Fraktionen, der christdemokratischen EVP und der sozialdemokratischen S&D, beruhen. Denn natürlich ist es immer einfacher, zu einem Kompromiss zu finden, wenn dabei nicht allzu viele verschiedene Positionen unter einen Hut gebracht werden müssen. Und wegen der starken Zersplitterung sind EVP und S&D nun einmal die einzigen Fraktionen, die zu zweit eine Mehrheit im Parlament erreichen.

Daneben gab es in der Vergangenheit immer wieder auch Abstimmungen, bei denen sich entweder ein Mitte-Rechts-Bündnis (aus der christdemokratischen, der liberalen und der nationalkonservativen Fraktion) oder ein Mitte-Links-Bündnis (aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken) zu einer Mehrheit zusammenfanden. Allerdings sind diese in sich so heterogen und fragil, dass sie bislang nicht als Grundlage für eine dauerhafte Zusammenarbeit taugen – ganz davon abgesehen, dass das Mitte-Rechts-Bündnis nach der kommenden Europawahl aller Voraussicht nach im Parlament keine Mehrheit mehr aufbringen wird.

Eine permanente Große Koalition verhindert demokratische Alternanz

Faktisch führt die große Zahl kleiner und kleinster Parteien im Europäischen Parlament also keineswegs dazu, dass die Bürger bei der Wahl unter einer besonders großen Vielfalt von politischen Positionen auswählen könnten. Im Gegenteil: Gerade weil das Parlament so stark zersplittert ist, dominiert darin eine permanente Große Koalition. Und auch wenn die kommenden Europawahlen voraussichtlich einen gewissen politischen Linksruck mit sich bringen werden, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sich an dieser Grundkonstellation in absehbarer Zeit etwas ändern wird.

Doch eine permanente Große Koalition verhindert eben auch die demokratische Alternanz. Auf nationaler Ebene sind Parlamentswahlen immer eine Richtungsentscheidung, in der über die Fortsetzung der bisherigen Politik oder ihre Ablösung durch eine neue Mehrheit mit einem anderen Programm entschieden wird. Auf europäischer Ebene aber ist es nahezu unmöglich, eine solche neue Mehrheit zu bilden. Etwas überspitzt formuliert, kann der Wähler lediglich über die Nuancen im Kräftegleichgewicht zwischen den beiden größten Fraktionen entscheiden – und darüber, wer zu ihrer Politik von den Bänken der Minderheitenfraktionen und der fraktionslosen Abgeordneten aus das Hintergrundrauschen bilden darf.

Was nun tun?

Natürlich sollte man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht überbewerten. Das Problem der fehlenden Alternanz im Europäischen Parlament ist nichts Neues, und es wiegt viel schwerer, als dass ein paar zusätzliche fraktionslose Abgeordnete aus Deutschland hier von entscheidendem Gewicht wären. Immerhin aber waren im Parlament in den letzten Jahren einige zaghafte Fortschritte zu beobachten – vor allem, was die interne Kohärenz der Fraktionen angeht, die natürlich eine Vorbedingung dafür ist, dass es in Zukunft auch einmal ein stabiles linkes oder rechtes Mehrfraktionenbündnis jenseits der großen Koalition geben könnte. Diese Fortschritte werden durch die weitere Zersplitterung des Parlaments infolge des Urteils konterkariert.

Und was kann man tun, wenn man sich damit nicht einfach abfinden will? Ich sehe vor allem drei Handlungslinien, die der Politik jetzt offenstehen. Die erste deuten die Richter selbst gegen Ende der Entscheidung an, wo es heißt, der Gesetzgeber könne auch in Zukunft „[s]ich etwa konkret abzeichnenden Fehlentwicklungen […] Rechnung tragen“ (Rn. 82). Mit anderen Worten: Der Bundestag könnte einfach in einigen Jahren erneut die Einführung einer Sperrklausel beschließen und hoffen, dass sich das Verfassungsgericht vielleicht dann von ihrem Sinn und ihrer Rechtmäßigkeit überzeugen lässt.

Nur noch europäisch organisierte Parteien zur Wahl zulassen

Eleganter wäre eine zweite Alternative, die ich an anderer Stelle bereits vorgeschlagen habe: Im Bundestagswahlgesetz findet sich seit jeher eine Klausel, nach der sich nur in Deutschland anerkannte Parteien mit Wahllisten bewerben dürfen (§27 Abs. 1 Satz 1 BWG). Wie wäre es, eine ähnliche Klausel auch in die deutsche Europawahlordnung zu übernehmen – in dem Sinn, dass dort nur noch Organisationen zugelassen sind, die einer Partei auf europäischer Ebene angehören?

Eine solche Regelung würde die Zersplitterung des Parlaments noch effektiver bekämpfen als eine nationale Sperrklausel: All die rein nationalen Kleinparteien, die auf europäischer Ebene keinen Anknüpfungspunkt finden und nur die Reihen der Fraktionslosen füllen, würden gar nicht erst auf dem Wahlzettel stehen. Zugleich wäre das Prinzip der Wahlgleichheit, auf dem das Bundesverfassungsgericht so herumreitet, nicht gefährdet, sodass kaum rechtliche Bedenken gegen den Vorschlag bestehen dürften. Und schließlich wäre die Regelung auch kein zwingendes Hindernis für Newcomer-Parteien. Für die AfD beispielsweise dürfte es kein Problem sein, sich auf europäischer Ebene der nationalkonservativen AECR oder dem europaskeptischen MELD anzuschließen. Die neue Bestimmung würde sie lediglich dazu verpflichten, schon vor den Wahlen zu erklären, wie sie sich im Parlament positionieren wollen.

Für ein einheitliches Europawahlrecht

Vor allem aber zeigt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in meinen Augen, wie dringend wir endlich ein europaweit einheitliches Wahlrecht brauchen. Der EU-Direktwahlakt, der zwar einen allgemeinen Rahmen setzt, aber den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des Europawahlrechts weitgehend freie Hand lässt, ist nicht mehr zeitgemäß. Das Europäische Parlament repräsentiert nach Art. 14 EU-Vertrag nicht einzelne Staatsvölker, sondern alle Unionsbürger: Es ist deshalb nur angebracht, wenn auch die Wahl seiner Abgeordneten künftig nach gemeinsam festgelegten, einheitlichen Standards erfolgt – einschließlich einer europaweit einheitlichen Sperrklausel.

Doch leider sind auch verhältnismäßig bescheidene Vorschläge zu einer Vereinheitlichung des Europawahlrechts in der Vergangenheit immer wieder gescheitert. Die letzte derartige Initiative war vor knapp zwei Jahren der Duff-Bericht, über den ich in diesem Blog ausführlich berichtet habe. Allerdings erreichte dieser damals keine Mehrheit im Parlament, was vor allem an der Ablehnung der christdemokratischen EVP-Fraktion lag. In der neuen Wahlperiode sollte es jetzt unbedingt einen neuen Anlauf geben. Und es stünde den europäischen Parteien gut zu Gesicht, wenn sie schon vorher, im Wahlkampf, ihre Vorschläge dazu unterbreiten. Jedenfalls wäre das ein spannenderes Diskussionsthema als die Frage, was eigentlich die deutsche Familienpartei künftig mit ihrem Sitz im Europäischen Parlament anfangen will.

Bild: By Claude TRUONG-NGOC (Own work) [CC BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

22 Februar 2014

Das Zuwanderungsreferendum und die Grenzen der Schweizer Demokratie

Die Schweiz will weniger Freizügigkeit im europäischen Binnenmarkt. Aber wäre es nicht demokratischer, dazu auch die anderen Binnenmarktteilnehmer um ihre Meinung zu fragen?
Inzwischen ist es fast zwei Wochen her, dass die Schweizer Wähler mit hauchdünner Mehrheit in einem Referendum „gegen Masseneinwanderung“ die Einführung eines strikten Quotensystems für jegliche Form von Zuwanderung beschlossen haben. Doch welche Auswirkungen diese Entscheidung haben wird, ist bis heute kaum abzusehen. Geht alles seinen normalen Gang, so steuert die Schweiz auf ein wirtschaftliches Debakel zu: Schließlich würde das Quotensystem gegen das Freizügigkeitsabkommen verstoßen, das das Land mit der Europäischen Union abgeschlossen hat. Dieses Freizügigkeitsabkommen aber ist an eine Reihe von anderen europäisch-schweizerischen Verträgen geknüpft, die die Integration der Schweiz in den Europäischen Binnenmarkt regeln. Nach der sogenannten „Guillotine-Klausel“ in Art. 25 des Freizügigkeitsabkommens ist es unmöglich, einen einzelnen dieser Bilateralen Verträge zu kündigen, ohne dass auch die anderen ihre Gültigkeit verlieren.

Sorge vor der Isolierung

Schon vor der Volksabstimmung warnte die Schweizer Regierung deshalb in einem Memorandum vor den „gravierenden Konsequenzen“, die dieser Schritt für die Schweizer Wirtschaft haben würde: Die Schweiz würde den Zugang zu den europäischen Arbeitsmärkten verlieren, ihre Unternehmen könnten sich nicht mehr so einfach an europäischen Ausschreibungen beteiligen, Schweizer Exportprodukte wären nicht mehr automatisch in der EU zugelassen, Schweizer Transportunternehmer könnten nicht mehr ohne Weiteres in der EU aktiv werden, und den Schweizer Forschern könnte der Zugang zu EU-Fördermitteln versperrt werden. Umgekehrt würde natürlich auch für Unternehmen aus der EU der Zugang zum Schweizer Markt schwieriger. Doch die Gewichte sind dabei recht ungleich verteilt, denn während die Schweiz deutlich mehr als die Hälfte ihrer Exporte an die EU liefert, sind es umgekehrt gerade einmal acht Prozent.

Der Schweizer Regierung liegt deshalb viel daran, die Bilateralen Verträge zu retten, was natürlich am einfachsten dadurch ginge, dass die EU sich auf Nachverhandlungen einlässt – etwa indem sie die Schweizer Einwanderungsquoten hinnimmt und dafür Zugeständnisse im Bereich Steuerdumping und Steuerflucht erhält. In den Tagen nach dem Referendum machte die Europäische Kommission jedoch deutlich, dass sie bei der Freizügigkeit, einem der Grundpfeiler des Binnenmarkts, zu keinen Kompromissen bereit ist. Bereits kurz nach dem Referendum setzte sie Gespräche über ein neues Abkommen zur Einbindung der Schweiz in den europäischen Strommarkt aus; wenig später beschloss sie, die Schweizer Teilnahme an dem Studentenaustauschprogramm Erasmus Plus und an dem Forschungsförderprogramm Horizont 2020 (die beide gerade wegen des neuen mehrjährigen Finanzrahmens der EU neu ausgerichtet wurden) vorerst nicht zu verlängern.

In der Schweiz steigt daher die Sorge, dass es zuletzt tatsächlich zu einer Kündigung der Bilateralen Verträge kommen könnte und das Land damit komplett in die europäische Isolation geriete. Und nachdem sich in einer Umfrage zuletzt rund drei Viertel der Befragten für den Erhalt dieser Verträge aussprachen, fordern die Jugendorganisationen mehrerer Schweizer Parteien sowie der Vorsitzende der Schweizer Sozialdemokraten nun bereits ein neues Referendum, um das Freizügigkeitsabkommen mit der EU zu retten.

Beifall aus der EU

Doch während in der Schweiz die Politiker mit dem Ausgang der Volksabstimmung hadern und nach Auswegen suchen, um das Auslösen der Guillotineklausel doch noch zu verhindern, stößt das Votum der Schweizer Bürger in der EU keineswegs überall auf Ablehnung. Kaum zwei Monate nach der britisch-deutschen Debatte über „Armutsmigration“ und „Sozialtourismus“ traf das Schweizer Freizügigkeitsreferendum natürlich einen medialen Nerv. Wenig überraschend ist, dass die rechtspopulistischen Parteien, die sich gerade für die Europawahl warmlaufen, das Abstimmungsergebnis bejubelten. Doch auch aus der französischen UMP (EVP) waren zustimmende Worte zu hören – wobei der UMP-Vorsitzende Jean-François Copé erkennbar etwas in eine Zwickmühle geriet, da er einerseits die Einführung von Zuwanderungsbeschränkungen rechtfertigen und zugleich andererseits als Fürsprecher der Franzosen auftreten wollte, die regelmäßig zum Arbeiten über die Schweizer Grenze pendeln.

Doch auch unter jenen in Europa, die sich nicht über das Ergebnis des Schweizer Referendums freuten, war in den letzten Tagen immer wieder ein gewisser Respekt für die Abstimmung zu hören. Denn ist nicht auch in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien die europäische Freizügigkeit in der Bevölkerung längst ein umstrittenes Feld? Und spricht es nicht für die Schweiz, dass dort über solche Themen unmittelbar das Volk entscheidet? Ist nicht, kurz gesagt, das ungeliebte Referendum ein Beweis dafür, dass die Schweiz (wie der Chefredakteur der Schweizer Zeitschrift Die Weltwoche in einem Gastartikel für die FAZ schrieb) „die letzte unabhängige, bürgernahe und damit echte Demokratie Europas“ ist?

Ist die Schweizer Demokratie die beste in Europa?

Nach der Abstimmung waren ähnliche Argumente in deutschen Medien jedenfalls durchaus verbreitet: Es sei „faszinierend zu beobachten, wie Schweizer Politiker die Regeln ihrer direkten Demokratie verinnerlicht haben“, der Volksentscheid sei „vielleicht nicht begrüßenswert, aber zumindest in einem demokratischen Sinne legitimer als manches, was in Deutschland an Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen wird“, und während die Schweizer Demokratie „von einem steten Sauerstoffstrom bürgerlicher Partizipation“ lebe, ähnele die der Europäischen Union „Desdemona, die zwar von Othello geliebt, am Ende jedoch mit den Worten ‚Es ist zu spät‘ von ihm erwürgt wird“.

Wie also steht es um die demokratische Qualität des Schweizer Referendums? Mir selbst will die Begeisterung, die sich nun in manchen Kommentaren lesen lässt, jedenfalls nicht so ganz einleuchten – und das gar nicht einmal wegen den altbekannten Einwänden gegen plebiszitäre Verfahren, die nun ebenfalls immer wieder zu lesen sind. Was mich aus einer demokratischen Sicht an dem Schweizer Referendum irritiert, ist etwas anderes: nämlich dass hier eine neue Politik beschlossen wurde, ohne dass diejenigen, die davon am meisten betroffen sind – die Zuwanderer und potenziellen Zuwanderer – irgendeine Möglichkeit hatten, sich an der politischen Willensfindung zu beteiligen.

Demokratieprinzip und Subsidiarität

Ich halte Volksentscheide im Allgemeinen für eine sinnvolle Ergänzung der parlamentarischen Gesetzgebung. Für die einen wie die andere aber gilt, dass sie ihre demokratische Qualität nur daraus beziehen, dass sie eine Form der kollektiven Selbstbestimmung sind, bei der eine (staatlich organisierte) Gruppe von Menschen über ihre eigenen gemeinsamen Angelegenheiten entscheidet. Aus demokratischer Sicht problematisch wird es hingegen, wenn an einer Entscheidung allzu viele Menschen teilnehmen, die davon gar nicht betroffen sind – oder wenn allzu viele Menschen, die von einer Entscheidung betroffen sind, nicht daran teilnehmen dürfen.

Aus diesen Gründen ist das Demokratieprinzip in meinen Augen nicht von dem föderalistischen Grundsatz der Subsidiarität zu trennen. Dieser besagt, dass Entscheidungen immer auf der niedrigsten Ebene getroffen werden sollten, auf der das sinnvoll möglich ist: An einer Entscheidung, die nur die Bürger einer einzelnen Region betrifft, sollte sich nicht das ganze Land beteiligen dürfen, da sonst die legitimen Interessen der Bürger dieser Region in einer Flut von Stimmen ertränkt würden. Wenn sich aber Entscheidungen, die in einer Region getroffen werden, auch auf die Bürger der anderen Regionen auswirken würden (wenn sie also, in der Sprache der Politikwissenschaft, „externe Effekte“ hätten), dann ist es angebracht, die Kompetenz darüber an eine höhere Ebene zu übertragen.

Subsidiarität und Souveränität

Nun ist die Schweiz, was ihren internen Föderalismus betrifft, in vieler Hinsicht ein Musterbeispiel: Ähnlich wie Deutschland verfügt sie über ein ausgeprägtes Mehrebenensystem, wobei jede Ebene in sich demokratisch organisiert ist. Die Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen ist durch die Bundesverfassung geregelt, wobei das Subsidiaritätsprinzip als Richtschnur dient. Ob die derzeitige Aufgabenverteilung noch den Bedürfnissen der Zeit angemessen ist, ist dabei zwar regelmäßig Thema kontroverser Debatten; insbesondere der Steuerwettbewerb zwischen den einzelnen Kantonen sorgt immer mal wieder für Ärger. Im Ganzen aber funktioniert der Schweizer Föderalismus recht gut – nach innen.

Nach außen hingegen berufen sich die Verteidiger des Schweizer politischen Systems oft auf ein ganz anderes Prinzip, nämlich auf die nationale Souveränität. Diese aber steht zum Subsidiaritätsgedanken in einem logischen Widerspruch: Denn während unter dem Blickwinkel der Subsidiarität alles dafür spricht, dass die Angelegenheiten, die die Bürger mehrerer Staaten betreffen, auch durch überstaatliche Organe entschieden werden, verlangt das Souveränitätsprinzip, dass auch in grenzüberschreitenden Fragen das Letztentscheidungsrecht immer beim Nationalstaat verbleibt. Eine Regierung mag zwar mit den Regierungen anderer Länder völkerrechtliche Verträge schließen. Aber dauerhaft Kompetenzen an eine supranationale Organisation abzugeben, wie es die Mitgliedstaaten der EU getan haben, kommt für viele Schweizer nicht in Frage.

Wer am Binnenmarkt teilnimmt, muss EU-Recht respektieren

Die Geschichte der europäisch-schweizerischen Beziehungen war deshalb in den letzten 25 Jahren stets von einer paradoxen Halbbindung geprägt. Einerseits wollte die Schweiz Anfang der 1990er Jahre nicht außen vor bleiben, als die Europäische Union ihren Binnenmarkt vollendete und (durch den Beitritt Finnlands, Schweden und Österreichs sowie die Anbindung Norwegens, Islands und Liechtensteins im Europäischen Wirtschaftsraum) auf ganz Westeuropa erweiterte. Andererseits scheiterte ein Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum selbst 1992 durch ein Referendum. Den Ausweg boten schließlich die Bilateralen Verträge, in denen die Schweiz den gewünschten Zugang zum Binnenmarkt erhielt und sich im Gegenzug verpflichtete, die einschlägige Gesetzgebung der EU zu übernehmen, die von fundamentalen Grundprinzipien wie der Arbeitnehmerfreizügigkeit bis zur Bananenverordnung reicht. Der wesentliche Unterschied besteht lediglich darin, dass EU-Binnenmarktverordnungen in der Schweiz nicht automatisch gelten, sondern erst, sobald der Schweizer Gesetzgeber sie im sogenannten „autonomen Nachvollzug“ übernommen hat – und dass bei einem Verstoß dagegen auch keine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben werden kann.

Die Schweiz hat sich also völkerrechtlich verpflichtet, ihre Binnenmarktgesetze jeweils an die EU anzupassen, behält sich jedoch zugleich die Möglichkeit vor, gegen diese Verpflichtung durch nationale Gesetze zu verstoßen. Dass diese Konstruktion aus demokratischer Sicht kaum befriedigen kann, liegt auf der Hand: Schließlich geht der Binnenmarkt alle Europäer an, und nicht die Schweizer allein. Es ist deshalb kein Zufall, dass die EU seit mehreren Jahren auf eine umfassende Neuregelung drängt. Mit dem Konflikt über die Freizügigkeit eskalierte nur ein bereits seit längerem schwelender Streit, in dem es im Wesentlichen darum geht, ob die Schweiz, die sich am Binnenmarkt der Europäischen Union beteiligen will, auch bereit ist, die gemeinsamen Spielregeln zu akzeptieren, die sich die Europäische Union dafür gegeben hat.

Ich habe in diesem Blog schon öfters über das Rodrik-Trilemma geschrieben, demzufolge es nicht möglich ist, enge überstaatliche Wirtschaftsverflechtungen, Demokratie und nationale Souveränität unter einen Hut zu bekommen: Je zwei davon lassen sich kombinieren, aber nicht alle drei. Eine rein nationale Demokratie funktioniert nur, wenn sich ein Land auch wirtschaftlich abschottet. Will es sich dagegen an einem überstaatlichen Binnenmarkt beteiligen, dann muss es sich entscheiden, ob es lieber nationale Hoheitsrechte oder demokratische Prinzipien opfern will. Eine demokratische Lösung für die Schweiz wäre es, auf ihre Souveränität zu verzichten, der Europäischen Union beizutreten und im Rahmen der gesamteuropäischen Demokratie an der Binnenmarktgesetzgebung mitzuwirken. Eine andere demokratische Lösung ist, zweifellos, die Kündigung der Bilateralen Verträge. Aber am gemeinsamen europäischen Binnenmarkt teilzunehmen und trotzdem alle Entscheidungen auf nationaler Ebene treffen zu wollen: Das kann, Volksabstimmung hin oder her, nicht demokratisch sein.

Bild: By hwro [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

08 Februar 2014

„Kooperationsverhältnis“ oder „Krieg der Richter“? Wie Karlsruhe den Europäischen Gerichtshof fernsteuern will und warum das schiefgehen könnte

Das Bundesverfassungsgericht hat erstmals einen Fall an den EuGH vorgelegt. Aber an den Nagel hängen die deutschen Richter ihre europarechtlichen Ambitionen deshalb noch lange nicht.
Vielleicht war es nur Zufall, dass das Bundesverfassungsgericht seine gestrige Entscheidung, in der es ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des OMT-Beschlusses der Europäischen Zentralbank äußerte und den Fall dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorlegte, ausgerechnet an einem Freitag veröffentlicht hat. Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen dafür, dass sich die höchsten deutschen Richter bewusst sind, mit welch einer heiklen Materie sie es zu tun haben. Immerhin war der OMT-Beschluss – also die Ankündigung der EZB, notfalls in unbegrenztem Umfang Anleihen der Euro-Krisenstaaten aufzukaufen – die entscheidende Ursache dafür, dass die Eurokrise seit Ende 2012 viel von ihrer Wucht verloren hat. Mit ihren Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Beschlusses stellten die Karlsruher Verfassungsrichter also einen entscheidenden Baustein in der Architektur der Euro-Rettung in Frage und riskierten eine neue Panik auf den Finanzmärkten. Dass sie dies an einem Freitag taten, hätte den Regierungen jedoch ermöglicht, sich schlimmstenfalls an diesem Wochenende einen neuen Notfallplan zu überlegen, bevor am Montag die Börsen öffnen – und damit eine größere Katastrophe zu verhindern.

Indessen blieb die Panik gestern aus, was auch mit der öffentlichen Wahrnehmung der Entscheidung zu tun haben dürfte. Mit Ausnahme der FAZ (die ihren Artikel mit „Verfassungsrichter halten EZB-Programm für rechtswidrig“ überschrieb) stellten die meisten Medien in der Berichterstattung nämlich nicht etwa die Karlsruher Bedenken gegenüber dem OMT-Beschluss in den Mittelpunkt. Was sie betonten, war vielmehr die Vorlage an den EuGH: Zum ersten Mal überhaupt in seiner Geschichte entschied sich das Bundesverfassungsgericht, einen Fall nicht einfach selbst zu entscheiden, sondern ihn an das höchste Gericht der Europäischen Union weiterzuleiten. Dabei handelt es sich um einen juristischen Paukenschlag, der nicht nur für das traditionell spannungsreiche Verhältnis zwischen den beiden Gerichtshöfen weitreichende Folgen haben dürfte.

Verfassungspluralismus

Um die Tragweite der Entscheidung zu verstehen, gilt es zunächst einige verfassungsrechtliche Hintergründe zu klären. Bis heute ist in der deutschen Öffentlichkeit die Vorstellung recht verbreitet, dass wir in einem einheitlichen Rechtssystem leben würden: einer klaren Ordnung mit einer eindeutigen Hierarchie der Normen und Gerichte, bei der an oberster Stelle das Grundgesetz als Staatsverfassung steht, über dessen Einhaltung letztinstanzlich das Bundesverfassungsgericht wacht.

Diese einfache Konzeption ist jedoch kaum geeignet, um überstaatliches Recht zu erklären. Denn das Völker- oder Europarecht ist ja nicht einfach aus dem nationalen Recht abgeleitet und kann auch nicht durch einseitige nationale Maßnahmen seine Gültigkeit verlieren. Vielmehr erklärte der Europäische Gerichtshof bereits 1964 in seiner Costa/ENEL-Entscheidung, dass das Europarecht einen Anwendungsvorrang vor jeder nationalen Rechtsnorm haben müsse, „wenn nicht die Rechtsgrundlage der [Europäischen] Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll“. Das Bundesverfassungsgericht hingegen betonte seit dem Solange-Beschluss von 1974 (und zuletzt im Lissabon-Urteil von 2009) immer wieder, dass es sich bei gravierenden Verstößen des Europarechts gegen deutsche Verfassungsnormen ein eigenes Letztentscheidungsrecht vorbehält.

In der Rechtswissenschaft hat sich deshalb seit mehreren Jahren das Konzept des „Verfassungspluralismus“ etabliert: Der Zustand, in dem wir leben, ist kein strikt geordnetes Rechtssystem, sondern eine Vielzahl von nebeneinander existierenden Rechtsordnungen. Das nationale Verfassungsrecht ist eine davon, das Europarecht eine weitere; hinzu kommen außerdem das Recht der Vereinten Nationen und verschiedener anderer überstaatlicher Organisationen. Entscheidend ist dabei, dass diese Rechtsordnungen in keiner Hierarchie zueinander stehen. Jede von ihnen nimmt für sich in Anspruch, aus sich selbst heraus gültig und keiner anderen Ordnung untergeordnet zu sein – und daher verstehen sich auch sowohl das BVerfG (unter Berufung auf Art. 93 GG) als auch der EuGH (unter Berufung auf Art. 267 AEUV) als die Institution, die in letzter Instanz über die Auslegung ihres jeweiligen Rechts zu entscheiden hat.

Das „Kooperationsverhältnis“ zwischen den höchsten Gerichten

Es versteht sich von selbst, dass sich aus diesen konkurrierenden Geltungsansprüchen gewisse Spannungsverhältnisse ergeben. Abgemildert werden sie durch sogenannte Öffnungsklauseln: Das deutsche Grundgesetz zum Beispiel erkennt in Art. 23 GG die Geltung des Europarechts an, während umgekehrt das Europarecht nach Art. 4 EUV die nationale Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten zu respektieren verspricht. Diese Öffnungsklauseln sind letztlich Ausdruck der Hoffnung, dass sich die verschiedenen Rechtsordnungen schon in Einklang werden bringen lassen, wenn die jeweiligen höchsten Gerichte zusammenarbeiten und aufeinander hören.

In der Praxis hat dieses europäisch-nationale „Kooperationsverhältnis“ (wie es das BVerfG im Maastricht-Urteil nannte) bislang auch recht gut funktioniert. Dass Fälle, in denen es um die Auslegung von Europarecht geht, dem EuGH vorgelegt werden müssen, ist für die meisten nationalen Gerichte inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Die Verfassungsgerichte der großen Mitgliedstaaten allerdings zierten sich lange vor diesem Schritt: Der französische Court Constitutionnel etwa konnte sich erst im April 2013 zu seiner ersten Vorlage nach Luxemburg durchringen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht wiederum prüfte sogar bei Fällen mit klaren europarechtlichen Bezügen (etwa zum Europäischen Haftbefehl oder zur Vorratsdatenspeicherung) jeweils nur das deutsche Umsetzungsgesetz – und erhielt dadurch symbolisch seinen Rang als höchstes Gericht aufrecht, das jeden Fall selbst entscheiden kann und keine andere Instanz um ihre Meinung bitten muss.

Der OMT-Fall

Mit dem OMT-Fall jedoch ändert sich dies nun. Die Kläger hatten in dem Verfahren argumentiert, dass die Europäische Zentralbank mit ihrer Ankündigung, notfalls unbegrenzt Anleihen von Krisenstaaten aufzukaufen, den Kompetenzrahmen überschritten habe, der ihr nach den europäischen Verträgen zusteht. Zugleich greife diese Kompetenzüberschreitung auch in die deutsche „Verfassungsidentität“ ein, da sie die wirtschafts- und haushaltspolitische Hoheit des Deutschen Bundestags verletze. Die deutschen Staatsorgane müssten deshalb alles tun, um die Durchführung des OMT-Beschlusses zu verhindern – notfalls, indem die deutsche Bundesbank sich den Anweisungen der EZB widersetze.

In seiner gestrigen Entscheidung stellte das BVerfG nun fest, dass eine solche Kompetenzüberschreitung der EZB vorliegen könnte. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wollte das Gericht jedoch nicht beantworten. Vielmehr könne es sich, wie in der Entscheidung deutlich wird, durchaus auch eine einschränkende Lesart des OMT-Beschlusses vorstellen, der innerhalb des Kompetenzrahmens der Zentralbank bleibt und daher auch nicht in Konflikt mit dem deutschen Grundgesetz kommt. Welche Lesart des OMT-Beschlusses juristisch richtig ist, kann aber nicht ein nationales Gericht allein entscheiden, sondern nur der EuGH – und darum kam es nun zu der symbolisch so bedeutsamen ersten Vorlage der deutschen Verfassungsrichter an ihre europäischen Kollegen.

Kann Karlsruhe den EuGH fernsteuern?

Allerdings wäre Karlsruhe nicht Karlsruhe, wenn das BVerfG nicht auch diesmal deutlich gemacht hätte, dass es sich eigentlich selbst für das wichtigste aller Gerichte hält. Denn statt sich nun einfach zurückzunehmen und dem EuGH das Feld zu überlassen, zeigen die deutschen Verfassungsrichter in der Entscheidung (Wortlaut) zunächst einmal ihr vollständiges Droharsenal – und betonen dabei ausdrücklich, dass sie sich die Letztentscheidung über die Verfassungsmäßigkeit europäischer Rechtsakte selbst vorbehalten (Rn. 17-32) und dass sie gegebenenfalls den deutschen Staatsorganen die Teilnahme am OMT-Programm verbieten würden (Rn. 33-54).

Der bemerkenswerteste Teil der Entscheidung allerdings ist die ausführliche „Interpretation des Unionsrechts durch das Bundesverfassungsgericht“, die im Anschluss daran folgt (Rn. 55-100). Die Verfassungsrichter machen darin sehr deutlich, wo sie selbst die Kompetenzgrenzen der Europäischen Zentralbank sehen – und welche Argumente sie deshalb auch aus Luxemburg auf keinen Fall hören wollen. Am Schluss dieses Abschnitts (Rn. 99-100) errichten sie dann jedoch eine goldene Brücke, über die sie den Europäischen Gerichtshof zu gehen einladen: „Der OMT-Beschluss“, so heißt es da, „wäre aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise dann nicht zu beanstanden, wenn er […] so ausgelegt oder in seiner Gültigkeit beschränkt würde, dass er die Konditionalität der Hilfsprogramme […] nicht unterläuft […] und einen die Wirtschaftspolitik der Union nur unterstützenden Charakter hat […].“ Abschließend folgen noch einige konkrete Kriterien, wie diese einschränkende Auslegung aus Sicht des BVerfG im Einzelnen aussehen müsste.

Es fällt nicht schwer, in dieser Vorlage den Versuch zu erkennen, den EuGH von Karlsruhe aus fernzusteuern. Wenn die europäischen Richter an einer einfachen, einvernehmlichen Lösung interessiert sind, dann gäbe es für sie nichts Leichteres, als die goldene Brücke zu betreten. Aus der symbolischen Unterwerfungsgeste – der Abgabe des Falls nach Luxemburg – könnte dadurch letztlich ein Punktsieg für die deutschen Verfassungsrichter werden, die zwar die Zuständigkeit des EuGH anerkannt, zugleich aber die wesentlichen Züge von dessen Urteil selbst vorbestimmt hätten.

Angriff auf die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank

Sollte sich der EuGH darauf einlassen? Ginge es nur um den lieben Rechtsfrieden, so wäre das wohl eine akzeptable Lösung. Doch leider gibt es auch einen gravierenden Grund, der dagegen spricht: In der Sache nämlich zeigt die Karlsruher „Interpretation des Unionsrechts“ große Schwächen, und würden die europäischen Richter sie einfach übernehmen, so hätte dies einen massiven Verlust an Unabhängigkeit für die Europäische Zentralbank zur Folge.

Der zentrale Knackpunkt ist dabei, ob der OMT-Beschluss der EZB als geldpolitische oder als wirtschaftspolitische Maßnahme zu werten ist. Die Zentralbank selbst hat stets das Erstere betont: Wenn sie Staatsanleihen aufkaufe, dann nicht, um dem Haushalt einzelner Länder auf die Beine zu helfen, sondern um akute Panikreaktionen auf den Finanzmärkten zu verhindern und damit überhaupt erst die Grundlage für andere geldpolitische Maßnahmen zu schaffen. Mit dem OMT-Programm komme sie daher ihrer ureigensten Aufgabe, der Erhaltung der Preisstabilität, nach. Das BVerfG hingegen lässt eine solche Deutung gar nicht erst zu. Aus seiner Sicht kann der OMT-Beschluss allenfalls die Funktion erfüllen, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zu unterstützen. Auch dazu ist die EZB nach Art. 127 AEUV berechtigt – allerdings nur unter deutlich engeren Bedingungen.

Doch indem das Gericht sich selbst die Entscheidung darüber anmaßt, welche Maßnahmen noch in den Bereich der Geldpolitik fallen und welche nicht, unterwandert es letztlich selbst die Kompetenzordnung der EU-Verträge, die der EZB in dieser Frage einen weiten Ermessensspielraum zugesteht. Bezeichnend ist dabei Randnummer 71 der BVerfG-Entscheidung, in der die Krisenanalyse der Europäischen Zentralbank als eine bloße „Auffassung“ abgetan wird – im Gegensatz zu der „überzeugenden Expertise der Bundesbank“, der das Gericht anschließend durchgehend folgt. Dass die Bundesbank den OMT-Beschluss von Anfang an ablehnte und ihr Präsident Jens Weidmann dies auch im EZB-Rat vorbrachte, dort jedoch die übrigen europäischen Zentralbankchefs nicht von seiner Meinung überzeugen konnte, interessiert in Karlsruhe niemanden.

Wenn der EuGH widerspricht

Doch wenn künftig nicht mehr die zuständigen Zentralbankgremien, sondern die Gerichte über die „korrekte“ Deutung der wirtschaftlichen Lage entscheiden, dann ist es mit der Unabhängigkeit der EZB erkennbar nicht mehr weit her. Will der EuGH diesen Angriff abwehren, so wird ihm nichts anderes übrigbleiben, als die Karlsruher Interpretation in Bausch und Bogen zu verwerfen – und den OMT-Beschluss schon deshalb für zulässig zu erklären, weil die Zentralbank damit nur das tut, was sie selbst entsprechend ihrer vertraglichen Zuständigkeit für geldpolitisch notwendig hält.

Sollte der EuGH tatsächlich zu diesem Ergebnis gelangen, so liegt der Ball wieder beim Bundesverfassungsgericht. Ihm blieben dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder es würde klein beigeben und der Luxemburger Linie folgen, womit freilich seine Fernsteuerungsversuche endgültig fehlgeschlagen wären. Oder es müsste die Letztentscheidungskeule, die es im gestrigen Vorlagebeschluss nur kurz vorzeigte, tatsächlich zum Einsatz bringen.

Droht ein „Krieg der Richter“?

Doch was in diesem Fall geschehen würde, will man sich nicht ausmalen. Es käme zu dem seit langem befürchteten „Krieg der Richter“, bei dem das höchste europäische und das höchste nationale Gericht einander offen widersprechen. Was dann zu tun wäre, ist rechtlich nicht zu lösen: Als nationale Exekutive eines EU-Mitgliedstaats sind die deutsche Bundesregierung und die Bundesbank an ein Urteil des EuGH nicht weniger gebunden als an eines des Bundesverfassungsgerichts. Die europäische und die nationale Rechtsordnung würden mit dem gleichen Anspruch jeweils entgegengesetzte Forderungen erheben – und letztlich bliebe es jedem Einzelnen überlassen, an welche davon er sich hält.

Dass es zuletzt wirklich so weit kommt, ist wenig wahrscheinlich. Denn natürlich wissen auch die Richter in Karlsruhe und Luxemburg, welche Risiken ein solch ultimativer politischer Loyalitätstest mit sich brächte. Doch welchen Ausgang der OMT-Fall auch immer nimmt: Das Verhältnis zwischen dem deutschen und dem europäischen Verfassungsgericht wird auch in Zukunft wohl noch lange spannungsreich bleiben, wenn die wirtschaftliche Krise in der Eurozone längst vergessen ist.

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