26 April 2015

Nur ein griechisches Problem? Die Fehler der EU in der Eurokrise – und warum es besser wäre, sie offen einzuräumen

Die Griechenland-Krise nimmt keinen guten Kurs. Kann die EU ihn korrigieren oder begnügt sie sich damit, Syriza die Schuld zu geben?
Wieder einmal taumelt Griechenland dem Staatsbankrott entgegen, und es ist einfach – allzu einfach –, die Schuld dafür vor allem bei der griechischen Regierung zu suchen. Ende Februar hatten die Mitgliedstaaten vereinbart, das laufende Hilfsprogramm bis Juni fortzusetzen. Im Einzelnen sollte die Regierung unter Alexis Tsipras (Syriza/EL) bis Ende April ein Programm vorlegen, wie sie die von ihrer Vorgängerregierung mit den Kreditgebern vereinbarten Reformen umsetzen möchte. Im Gegenzug sollte sie die verbleibenden 7,2 Milliarden Euro erhalten, die (hauptsächlich in Form von Krediten) noch im Hilfsprogramm vorgesehen sind. Seitdem aber passierte nicht mehr viel: Eine Reformliste, die die griechische Regierung Anfang April vorlegte, werteten die übrigen Mitgliedstaaten als zu unkonkret; und die verlangten Nachbesserungen blieben bislang aus.

Als nächstes Schlüsseldatum gilt jetzt der Finanzministerrat am 11. Mai. Unmittelbar danach muss Griechenland einen großen Kredit an den Internationalen Währungsfonds zurückbezahlen, und obwohl die Regierung gerade die letzten Reserven zusammenkratzt, könnte sie dann zahlungsunfähig sein. Und selbst wenn sie diesen Termin übersteht, ist völlig unklar, wie es weitergehen soll, wenn im Juni das aktuelle Hilfsprogramm endet. 

Frust in der Eurozone 

Im Rest der Eurozone ist der Frust über diese Entwicklung groß. Bei einem Ratstreffen am gestrigen Freitag musste sich Finanzminister Yanis Varoufakis (Syriza/EL) jedenfalls heftige Kritik anhören; sein österreichischer Kollege Hans Jörg Schelling (ÖVP/EVP) erklärte, er sei „schon einigermaßen genervt“. Gerne wird jetzt darauf verwiesen, dass die griechische Wirtschaft 2014 erstmals seit Ausbruch der Krise wieder ein wenig gewachsen war. Sollen nun alle Bemühungen vergeblich gewesen sein?


Fast scheint es, als richtete sich der Rest der EU darauf ein, dass Griechenland nun einmal nicht zu retten ist, und konzentrierte sich nur noch darauf, die Verantwortung für die erwartete Katastrophe ganz in Athen abzuladen. Mit solch unzuverlässigen, ungeschickten und planlosen Partnern wie der Syriza-Regierung lässt sich die Eurozone nun einmal nicht retten, so der Eindruck, der sich zunehmend auch in Qualitätsmedien und bei politisch links stehenden Europabloggern verbreitet. 

Hundert-Tage-Frist für Syriza? 

Aus zwei Gründen fällt es mir schwer, mich dieser Deutung anzuschließen. Zum einen scheint es mir allzu leicht, die griechische Regierung zum Buhmann zu machen. Gewiss, mit einigen vollmundigen und später nicht eingehaltenen Ankündigungen haben Tsipras und Varoufakis in den letzten Wochen kaum den Eindruck von besonderer Verlässlichkeit und Professionalität erweckt. Andererseits entspricht es guter demokratischer Sitte, einer neugewählten Regierung erst einmal hundert Tage Vertrauensvorschuss zu geben, um sich einzuarbeiten und mit der Komplexität des Amtes vertraut zu werden – umso mehr, wenn die Koalitionsparteien selbst noch jung sind und über keinerlei Regierungserfahrung aus der Vergangenheit verfügen.

Und auch wenn die Aufregungen der letzten Monate vielleicht einen anderen Eindruck erwecken: Im Fall von Syriza würde diese Hundert-Tage-Frist erst am kommenden 7. Mai enden. Nun konnte Tsipras angesichts der akuten Finanzprobleme und der desolaten sozialen Lage Griechenlands natürlich nicht damit rechnen, dass sein Amtsantritt allzu gemütlich ausfallen würde; die Erwartungen an seine Regierung waren in Griechenland wie im Rest der Eurozone mit gutem Grund von Anfang an ungewöhnlich hoch. Hinzu kommt, dass auch Tsipras in der Opposition nicht mit harter Kritik an der Vorgängerregierung und an der EU gespart hat. Trotzdem sollte man Syriza eine gewisse Lernphase zugestehen und nicht ihre Unerfahrenheit zum Sündenbock machen, wo die Eurozone insgesamt versagt. 

Nur ein nationales Problem? 

Und dies ist der zweite Grund, aus dem es mir schwerfällt, die Schuld für die jüngsten Entwicklungen allein in Griechenland zu suchen: Zu leicht verleitet dieses Argument den Rest der Mitgliedstaaten zu einer passiv-resignativen Haltung. Dadurch verstellt es ihnen den Blick auf Fehler, die gemacht wurden, Handlungsspielräume, die noch immer existieren, und strukturelle Probleme, die nicht spezifisch diesem Politiker oder jener Partei angelastet werden können, sondern in der Funktionsweise der Eurozone und der EU insgesamt begründet sind.

Viele der Argumente, die in letzter Zeit zu hören sind, scheinen mir jedenfalls darauf hinauszulaufen, dass „wir“ Europäer ja alles getan haben, um „den“ Griechen zu helfen – dass wir aber auch nichts tun können, wenn „die“ Griechen sich nicht helfen lassen wollen. Damit aber werden das soziale Elend, der drohende Staatsbankrott und der mögliche Euro-Austritt Griechenlands als ein rein nationales Problem definiert, was nicht nur ökonomisch ziemlich sicher unzutreffend ist: Die nationalen Wirtschaftsräume sind so eng miteinander verflochten, dass ein griechischer Euro-Austritt für den Rest der Eurozone jedenfalls mit enormen Risiken verbunden wäre. 

Gemeinsame politische Verantwortung der EU

Darüber hinaus stehen die Mitgliedstaaten der EU auch in einer gemeinsamen politischen Verantwortung: Schon seit dem ersten Hilfspaket 2010 wurde der griechische Spar- und Reformkurs weitgehend von den übrigen Euro-Mitgliedstaaten sowie der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds vorgegeben und dann in einem Memorandum of Understanding mit der griechischen Regierung festgehalten. (Ein Überblick aller offiziellen Dokumente findet sich hier).

Dass die EU für die Vergabe der Hilfskredite strenge Bedingungen formulierte, war legitim; schließlich handelt es sich dabei um das Geld der europäischen (bzw., was den IWF betrifft, der globalen) Steuerzahler. Aber es bedeutet eben auch, dass die übrigen Mitgliedstaaten für die Auswirkungen dieses Spar- und Reformkurses mit in der Verantwortung stehen – und damit auch dafür, dass sich Griechenland fünf Jahre später noch immer am Rand des Zusammenbruchs befindet. 

Fehler der Vergangenheit 

Dass EU und IWF dabei einige große Fehler gemacht haben, ist inzwischen offensichtlich. Insbesondere besteht unter Ökonomen international weitgehend Einigkeit, dass der Sparkurs, den die Kreditgeber Griechenland verordneten, letztlich mehr Schaden als Nutzen anrichtete: Die öffentlichen Kürzungen ließen die Wirtschaft schneller schrumpfen, als sie den Haushalt konsolidierten, sodass die griechische Schuldenquote dadurch nicht sank, sondern stieg. Der IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard hat diesen Fehler bereits Anfang 2013 in einer Studie eingeräumt; die Europäische Kommission hingegen wehrte sich lange gegen die neue Erkenntnis. 

Inzwischen freilich ist von Sparen kaum noch die Rede, schon allein, weil die griechische Regierung seit einiger Zeit einen Primärüberschuss erwirtschaftet und neue Kredite nur noch aufnimmt, um alte zurückzubezahlen. Im Zentrum der Debatte stehen jetzt die sogenannten „Strukturreformen“, also Maßnahmen wie die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte durch geringeren Kündigungsschutz oder der Abbau von bürokratischen Hürden, die neuen Unternehmen den Marktzugang erschweren. Viele solche Reformen hat Griechenland in den letzten Jahren bereits umgesetzt, doch angesichts der schlechten Lage des Landes fordert die EU noch mehr davon. 

Auch Strukturreformen sind kein Allheilmittel 

Dass Strukturreformen, die den Wettbewerb fördern, langfristig gut für die Produktivität und das Wirtschaftswachstum sind, ist unter Ökonomen breiter Konsens. Auch sie sind jedoch kein Allheilmittel gegen die Krise: Zum einen zeichnet sich ab, dass bestimmte Strukturreformen deflationär wirken und deshalb (speziell in Zeiten sehr niedriger Inflation, wie sie die Eurozone derzeit durchmacht) kurzfristig das Wachstum bremsen können. Unter den griechischen Kreditgebern ist es wieder einmal der IWF, der diese Einsicht als Erster vertritt.

Zum anderen setzen ökonomische Strukturreformen auch die Gesellschaft eines Landes unter einen enormen Anpassungsdruck: Durch eine Reduzierung des Kündigungsschutzes steigt oft erst einmal die Arbeitslosenzahl; durch eine Öffnung der Märkte können kleine, wenig effiziente Unternehmen unrentabel werden und pleitegehen. Für viele Menschen sind die Reformen also mit Unsicherheit und der Notwendigkeit einer Neuorientierung verbunden. Damit diese Anpassung nicht zu sozialen Verwerfungen führt, wäre es nötig, sie sozialpolitisch abzufedern – etwa durch die Einführung einer Grundsicherung, wie es sie derzeit in Griechenland nicht gibt. 

Auch Syriza hat nicht nur die Schwächsten im Blick 

Dass die Art, in der die vereinbarten Strukturreformen in Griechenland seit 2010 umgesetzt wurden, nicht sozialverträglich war, ist freilich nicht allein die Schuld der EU. Auch die griechischen Regierungen zeigten keinen allzu großen Eifer, die nötigen sozialpolitischen Mechanismen einzuführen, die notwendig gewesen wären, damit die Hauptlast der Strukturreformen von den sozial Schwachen auf die Eliten des Landes umverteilt wird.

Und selbst die Gesetzgebungspläne der linken Syriza haben offenbar nicht immer nur die Schwächsten im Blick: So existiert in Griechenland schon seit einigen Jahren ein Gesetz, das Zwangsversteigerungen von Wohneigentum armer Haushalte (mit einem Jahreseinkommen unter 35.000 Euro und einem Vermögen unter 270.000 Euro) verbietet. Syriza plante diese Regelung auch auf Mittelschichtshaushalte mit einem Einkommen bis 50.000 Euro und einem Vermögen bis 500.000 Euro auszuweiten, was die Europäische Zentralbank jüngst in einer Stellungnahme als „likely to be perceived as unfair from a social perspective“ kritisierte. Statt verschuldete Mittelschichtshaushalte zu entlasten, so die EZB, solle Griechenland zur Bekämpfung der humanitären Krise besser ein echtes soziales Sicherungsnetz aufbauen.

Eine Debatte über die soziale Ausgestaltung von Strukturreformen 

Wie ungewöhnlich diese Stellungnahme der EZB in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, zeigte nicht zuletzt die ZEIT, die auf Twitter kommentierte: Die neoliberale Troika wirft der linksradikalen Regierung vor, eine Politik für die Reichen zu machen.“ Tatsächlich könnte in dieser Auseinandersetzung aber auch eine Chance für die Zukunft liegen: Eine Debatte darüber, wie die notwendigen ökonomischen Strukturreformen in Griechenland und anderswo so ausgestaltet werden können, dass es nicht zu sozialen Verwerfungen kommt, ist längst überfällig.

Indessen hat die EU in dieser Debatte erst einmal einen denkbar schweren Stand. Indem sie soziale Belange in den ersten Jahren der Krise völlig ignorierte (bzw. allein als eine Angelegenheit der nationalen Regierungen betrachtete), hat sie in der öffentlichen Wahrnehmung stark an Glaubwürdigkeit und Legitimität verloren. Für linke wie rechte Nationalpopulisten ist es darum ein Leichtes, sich als Verteidiger des Sozialstaats aufzuspielen – gleichgültig, ob ihre Vorschläge tatsächlich den Schwächsten nützen würden oder nicht.

Kann die EU ihre Fehler offen eingestehen? 

Wenn die EU-Institutionen das Heft des Handelns wieder in die Hand bekommen wollen, wäre es deshalb die beste Strategie, auch öffentlich einen Kursschwenk zu vollziehen. Mit einem ehrlichen Bekenntnis dazu, dass die bisherige Krisenstrategie wenigstens teilweise falsch war, dass Griechenland weniger hart sparen, weiterhin durch Strukturreformen den Wettbewerb fördern, zugleich aber auch ein soziales Sicherungsnetz aufbauen sollte, könnte es der EU womöglich gelingen, auch die griechische öffentliche Meinung auf ihre Seite zu bringen. Zugleich böte sie so der Syriza einen gesichtswahrenden Ausweg und könnte die derzeitige verfahrene Situation überwinden.

Wird es dazu kommen? Hier bin ich nun eher pessimistisch. Denn ein öffentliches Fehlereingeständnis ginge natürlich zu Lasten der amtierenden nationalen Regierungschefs der übrigen Mitgliedstaaten, die – wie die Deutsche Angela Merkel (CDU/EVP) oder der Niederländer Mark Rutte (VVD/ALDE) – die Krisenpolitik der letzten Jahre wesentlich vorgegeben oder ihr – wie der Spanier Mariano Rajoy (PP/EVP) – trotz des Murrens der eigenen Bevölkerung nichts entgegengesetzt haben. Wenigstens öffentlich werden sich die Kreditgeber deshalb wohl auch weiterhin stur stellen und darauf beharren, dass Syriza das vorgegebene Reformprogramm akzeptiert.

Und so taumelt Griechenland wieder einmal dem Staatsbankrott entgegen, und es ist nicht klar zu erkennen, wie er dieses Mal verhindert werden soll. Es ist einfach, allzu einfach, die Schuld dafür allein bei der überforderten oder unwilligen griechischen Regierung zu suchen. Sollte die Eurozone scheitern, dann wäre das aber auch ein Versagen der europäischen Institutionen selbst, die die sozialen Probleme ihrer Strategie zu spät erkannten und nicht in der Lage waren, ihren Kurs rechtzeitig zu korrigieren.

Bild: By Theophilos Papadopoulos [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

18 April 2015

Wer wird UN-Generalsekretär?

Weiblich, mit UN-Erfahrung und aus Osteuropa: Irina Bokova passt ins Profil.
Ende 2016 werden zwei der wichtigsten Ämter in der Weltpolitik neu besetzt: das des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und das des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Die potenziellen Nachfolger von Barack Obama bringen sich gerade in Stellung: Während auf Seiten der Demokraten Hillary Clinton als nahezu unvermeidlich gilt, gibt es bei den Republikanern einen ganzen Strauß an möglichen Interessenten. Und die Nachfolge-Kandidaten von Ban Ki-Moon? Nun, auch hier nimmt die Debatte allmählich an Fahrt auf – auch wenn die Medien ihr bislang weitaus weniger Aufmerksamkeit schenken als dem Wahlkampf in den USA.

Doch während das Wahlverfahren in den USA bereits bis in viele Details feststeht, ist jenes in den Vereinten Nationen derzeit noch Gegenstand politischer Diskussionen, über die ich auf diesem Blog vor einem knappen halben Jahr bereits ausführlicher geschrieben habe. Nach Art. 97 UN-Charta wird der Generalsekretär „auf Empfehlung des Sicherheitsrats von der Generalversammlung ernannt“. In der Praxis schlägt der Sicherheitsrat jedoch stets nur einen einzigen Namen vor, der von der Generalversammlung dann lediglich bestätigt wird. Und da die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats – die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – dabei ein Vetorecht haben, sind es letztlich meist nur diese fünf, die die Entscheidung unter sich ausmachen.

In letzter Zeit regt sich allerdings ein gewisser Widerstand gegen dieses Verfahren. Mit der Kampagne One for Seven Billion setzt sich eine Gruppe von zivilgesellschaftlichen Organisationen (darunter das World Federalist Movement und die United Nations Association UK) eine inklusivere und transparentere Auswahlprozedur ein. Als eine ihrer Schlüsselforderungen soll der Sicherheitsrat der Generalversammlung nicht nur einen, sondern mehrere Kandidaten präsentieren. Um die Unabhängigkeit des Generalsekretärs zu gewährleisten, soll außerdem seine Amtszeit von fünf auf sieben Jahre verlängert und zugleich die Möglichkeit einer Wiederwahl abgeschafft werden.

Nur Russland und die USA blockieren

Im vergangenen Februar übernahmen auch The Elders (eine renommierte Gruppe ehemaliger Spitzenpolitiker, die 2007 von dem früheren südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela gegründet wurde und inzwischen von Ex-UN-Generalsekretär Kofi Annan geleitet wird) diese Forderungen in einem Politikpapier zur UN-Reform. Anfang März erreichten sie schließlich auch eine formelle Ebene: Bei einer Sitzung der Ad Hoc Working Group on the revitalization of the work of the General Assembly, einer Arbeitsgruppe der UN-Generalversammlung, sprachen sich zahlreiche Mitgliedstaaten für Reformen entlang dieser Vorschläge aus.

Auch beim nächsten Treffen der Arbeitsgruppe am 27. April wird das Ernennungsverfahren des Generalsekretärs wieder Thema sein. Schon das ist ohne Zweifel ein Erfolg der Kampagne One for Seven Billion und ein schönes Zeichen dafür, dass auch zivilgesellschaftliche Organisationen durchaus eine Chance haben, sich in den Vereinten Nationen Gehör zu verschaffen. Ob sich die Befürworter der Reform letztlich durchsetzen können, ist aber offen. Zwar lehnten in der Arbeitsgruppensitzung im März nur zwei Mitgliedstaaten die Vorschläge explizit ab. Doch dabei handelte es sich ausgerechnet um Russland und die USA, die beide im Sicherheitsrat ein Vetorecht besitzen. Im weiteren Verlauf dürfte es deshalb vor allem darauf ankommen, wie viel diplomatischen Druck die übrigen Mitgliedstaaten aufbringen können und wollen, um die beiden Blockademächte zum Einlenken zu bringen.

Das Profil des nächsten Generalsekretärs

Neben diesen Vorschlägen von One for Seven Billion und den Elders, die auf eine Reform des Wahlverfahrens insgesamt abzielen, zirkulieren aber auch noch weitere, konkretere Forderungen, wie das Profil des nächsten UN-Generalsekretärs aussehen sollte. Immer wieder ist etwa der Wunsch zu hören, dass nach acht Männern nun endlich auch einmal eine Frau das Amt übernehmen sollte.

Andere Überlegungen wiederum zielen auf die Vorerfahrungen ab, die ein UN-Generalsekretär mitbringen sollte. In der Vergangenheit wurde das Amt meistens von Politikern übernommen, die zuvor eine diplomatische Karriere gemacht hatten, in einigen Fällen waren sie nationaler Außenminister ihres Herkunftslandes gewesen. Nur mit Javier Pérez-Cuéllar 1981 und Kofi Annan 1996 wurden Kandidaten ernannt, die schon zuvor als Vize-Generalsekretär für die Weltorganisation gearbeitet hatten. Angesichts des großen Reformbedarfs in den UN-Strukturen könnte es sich nun lohnen, diesen Ansatz zu wiederholen und einen Kandidaten zu wählen, der die oft barocke und schwer zu durchschauende UN-Verwaltung bereits von innen heraus kennt.

Umgekehrt wäre es aber auch denkbar, stattdessen einen früheren nationalen Regierungschef zu ernennen, um so die Bedeutung des Amtes zu unterstreichen. Das UN-Sekretariat nähme damit eine ähnliche Entwicklung wie die Europäische Kommission, deren Präsidenten lange Zeit in der Regel ebenfalls nur eine Ministerkarriere hinter sich hatten – während seit Mitte der 1990er Jahre stets ein früherer Regierungschef zum Zuge kam.

Der Anspruch der Osteuropäer

Für die UN besteht die Welt aus fünf Regionen. Vier davon haben schon mindestens einmal den Generalsekretär gestellt.
Das Kriterium, dem unter den UN-Mitgliedstaaten wohl die größte Bedeutung zugeschrieben wird, ist jedoch die regionale Herkunft des nächsten Generalsekretärs. Obwohl die UN-Charta in Bezug auf die geografische Ausgewogenheit nur sehr vage Vorgaben macht, hat sich in der Praxis bei der Verteilung von Ämtern im Laufe der Zeit ein sehr weitreichender Regionalproporz herausgebildet. Zu diesem Zweck wird jeder Mitgliedstaat einer von fünf regionalen Gruppen zugerechnet, die beispielsweise jeweils eine feste Anzahl von Sitzen im UN-Sicherheitsrat haben und zwischen denen auch sonst die wichtigsten Positionen der Weltorganisation nach mehr oder weniger formalisierten Regeln rotieren.

Folgt man dieser Zuordnung, so waren unter den bisherigen Generalsekretären drei Westeuropäer, zwei Asiaten, zwei Afrikaner sowie ein Lateinamerikaner. Die einzige Regionalgruppe, die bislang noch nie zum Zuge kam, ist Osteuropa – und so braucht es wohl nicht zu verwundern, dass der Sprecher dieser Gruppe Ende 2014 in unmissverständlichen Worten den Anspruch erhob, nun sei „endlich die Zeit gekommen, dass ein Staatsangehöriger aus unserer Region mit der höchsten Position des UN-Sekretariats betraut wird“.

Die Ukraine-Krise

Diese Forderung macht die Suche nach einem Kandidaten freilich nicht unbedingt einfacher. Mit nur 23 Mitgliedstaaten ist Osteuropa die kleinste unter den Regionalgruppen, zugleich aber eine reichlich heterogene. In ihrer Zusammensetzung folgt sie nämlich noch den Bündnisstrukturen des Kalten Krieges: Es handelt sich genau um jene europäischen Staaten, die bis 1990 dem Ostblock angehörten bzw. kommunistisch regiert wurden – auch wenn deren politische Entwicklung seitdem grundverschiedene Wege genommen hat. Im Einzelnen sind elf dieser Staaten heute Mitglied der EU, fünf weitere sind die EU-Beitrittskandidaten (oder potenziellen Beitrittskandidaten) auf dem Westbalkan. Hinzu kommen die drei Kaukasus-Länder Georgien, Armenien und Aserbaidschan, die Republik Moldau, die Ukraine, Weißrussland und Russland.

Wie angespannt die politische Lage zwischen einigen dieser Länder derzeit ist, weiß jeder Zeitungsleser. In gleich drei von ihnen (Georgien, Moldau und der Ukraine) gibt es starke separatistische Bewegungen, die von Russland mit teils militärischen Mitteln unterstützt werden. 2014 führte die Annexion der Krim-Halbinsel dazu, dass die EU und die USA wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängten, wobei besonders die östlichen EU-Staaten wie Polen oder die baltischen Länder sich für eine harte Linie einsetzten. Und natürlich haben viele osteuropäische Außenpolitiker im Laufe der letzten Jahre in der ein oder anderen Form zu diesen Auseinandersetzungen Stellung bezogen.

Bei der Ernennung des UN-Generalsekretärs aber haben sowohl die USA als auch Russland ein Vetorecht. Nötig ist deshalb ein Kandidat, der für beide Seiten akzeptabel ist – und der unabhängig genug sein müsste, um in einem Konflikt zu vermitteln, der sich in direkter geografischer Nähe seines Herkunftslandes abspielt.

Namen im Gespräch

Wer also käme für das Amt in Frage? Anderthalb Jahre vor der eigentlichen Wahl beinhaltet das Spektrum an möglichen Bewerbern natürlich alles, was die Gerüchteküche hergibt. Einige Namen allerdings sind immer wieder zu hören:

● Die Kandidatin, die die inoffiziellen Auswahlkriterien am besten erfüllt, dürfte derzeit die Bulgarin Irina Bokova sein, ehemalige Außenministerin ihres Landes und seit 2009 Generalsekretärin der UNESCO. Sie kann mit der Unterstützung ihrer nationalen Regierung rechnen, hat sowohl in Russland als auch in den USA studiert und hat es sich auch später mit keinem der beiden Länder verscherzt.

Ebenfalls auf die Unterstützung seiner nationalen Regierung rechnen kann der Slowene Danilo Türk, derzeit Vorsitzender der entwicklungspolitischen Organisation Global Fairness Initiative. Zudem bringt Türk umfassende politische Vorerfahrungen mit: Von 2000 bis 2005 arbeitete er unter Kofi Annan als Beigeordneter UN-Generalsekretär, von 2007 bis 2012 war er Staatspräsident seines Landes.

Bei anderen Kandidaten sind die Aussichten etwas unklarer. Interessiert ist offenbar auch der frühere serbische Außenminister Vuk Jeremić, derzeit Vorsitzender des Außenpolitik-Thinktanks CIRSD, dessen nationale Regierung seine Bewerbung derzeit allerdings nicht unterstützt. Und auch der frühere OSZE-Generalsekretär und derzeitige UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, der Slowake Ján Kubiš, dürfte es nicht ganz einfach haben – mit Außenminister Miroslav Lajčák hat er einen Konkurrenten aus seinem eigenen Herkunftsland.

● Sollten sich die Osteuropäer am Ende doch nicht durchsetzen, gibt es zudem noch eine Reihe weiterer Kandidaten aus verschiedenen anderen Weltregionen. Immer wieder genannt werden etwa die Namen des Portugiesen António Guterres, früherer Premierminister seines Landes und seit 2005 Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, oder der Neuseeländerin Helen Clark, auch sie frühere Premierministerin und derzeit Leiterin des UN-Entwicklungsprogramms UNDP. Und natürlich noch viele, viele weitere, deren Kandidatur mal mehr, mal weniger ernsthaft ins Gespräch gebracht wird. Ein Überblick über sämtliche Spekulationen findet sich hier.

So oder so: Der Wettlauf um das höchste Amt, das die Vereinten Nationen zu vergeben haben, hat begonnen, und er ist kaum weniger spannend als derjenige um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Dass er so intransparent verläuft, dass die Medien sich bislang trotzdem kaum dafür interessieren, ist dabei nicht nur ein bedauerlicher Randaspekt – sondern die Ursache für ein erhebliches Legitimationsdefizit gegenüber uns Bürgern. Es ist der Weltorganisation nur zu wünschen, dass sie es in den nächsten anderthalb Jahren noch überwinden kann.

11 April 2015

Die Unterhauswahl, das Brexit-Referendum und die Forderung der britischen Parteien nach einer „EU-Reform“

Ed Miliband (Labour/SPE) will Mitglied des Europäischen Rates werden. Aber das allein wird die Probleme zwischen London und Brüssel auch nicht lösen.
Am kommenden 7. Mai wählt Großbritannien ein neues Parlament, und spätestens seit Regierungschef David Cameron Anfang 2013 angekündigt hat, im Falle seiner Wiederwahl bis spätestens 2017 ein Referendum über den weiteren Verbleib seines Landes in der EU durchzuführen, gilt dieser Urnengang als ein Schlüsselmoment für den gesamten Kontinent. Immerhin stehen Camerons Conservatives (AECR) in den Umfragen bei etwa 30 bis 35 Prozent; dazu kommen weitere rund 15 Prozent für die rechtspopulistische UKIP (ADDE), die schon seit langem einen EU-Austritt fordert, sowie knapp 5 Prozent für die Green Party of England and Wales (EGP), die sich zwar als pro-europäisch versteht, aber dennoch ein Referendum unterstützt. Wird der 7. Mai also zum Startschuss für den „Brexit“, den britischen Abschied aus der Europäischen Union?

Referendumsbefürworter haben keine Mehrheit im Parlament

Um es kurz zu sagen: Im Moment sieht es nicht danach aus. Denn die Parteien, die ein Referendum befürworten, könnten zwar auf eine absolute Mehrheit der Stimmen kommen; von einer Mehrheit der 650 Sitze im Parlament aber sind sie aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts weit entfernt. Aktuelle Kalkulationen sehen die Conservatives bei etwa 270-290 Mandaten, UKIP bei drei bis fünf und die Greens bei einem einzigen.

Demgegenüber kommt die Labour Party (SPE) unter Ed Miliband nach den aktuellen Umfragen ebenfalls auf 270-280 Sitze. Das Zünglein an der Waage für die Regierungsbildung werden deshalb wohl die Liberal Democrats (ALDE) sowie die Scottish Nationalist Party (EFA) sein. Die LibDem können mit rund 8 Prozent der Stimmen und etwa 25-30 Sitzen rechnen; die SNP kommt nur auf etwa 4 Prozent der Stimmen, die sich aber alle im schottischen Landesteil ballen und deshalb in etwa 45-50 Wahlkreisen für einen Sitzgewinn genügen werden.

Beide Parteien stehen Labour politisch näher als den Conservatives – auch wenn die LibDem seit 2010 eine Regierungskoalition mit Cameron bilden. Das derzeit wahrscheinlichste Szenario für die Zeit nach dem 7. Mai ist deshalb eine Labour- oder Labour/LibDem-Regierung, die von der SNP toleriert wird. Alle drei Parteien aber lehnen ein Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft wenigstens für die nächsten Jahre ab.

Also alles in Butter? Wohl kaum. Denn auch wenn der Brexit nach der Wahl wohl erst einmal von der Tagesordnung abgesetzt wird, bleibt der Europadiskurs auf der Insel vergiftet. Und auf den zweiten Blick zeigen die europapolitischen Positionen der großen britischen Parteien mehr Ähnlichkeiten, als der Wahlkampf vermuten lässt.

Auch Cameron will keinen Austritt

Denn zum einen schließt auch die Labour Party ein Referendum nicht pauschal aus. Anfang 2014 erklärte ein Sprecher der Partei lediglich, dass es „nicht dem britischen nationalen Interesse“ entspräche, „sich jetzt auf ein Austrittsreferendum im Jahr 2017 festzulegen“. Eine innerparteiliche Gruppierung namens Labour for a Referendum setzt sich bereits seit 2013 für eine Volksbefragung über die weitere EU-Mitgliedschaft ein. Und das Wahlprogramm, mit dem sich Labour für den 7. Mai präsentiert, kritisiert zwar scharf Camerons Pläne – verspricht dann aber, dass auch Labour keine weitere Übertragung von Kompetenzen an Brüssel zulassen werde, ohne ein britisches Austrittsreferendum durchzuführen.

Und zum anderen haben auch die Conservatives nicht den EU-Austritt an sich zu ihrem Ziel erklärt. In seiner Rede von Januar 2013 (Wortlaut) zielte Cameron vielmehr vor allem darauf ab, seine eigene „vision for a new European Union, fit for the 21st Century“ zu präsentieren, die sich allein auf den Binnenmarkt konzentrieren und andere Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückgeben sollte und deren Legitimität sich allein auf die nationalen Parlamente stützen würde. Sollten die anderen Mitgliedstaaten zu einer solchen Reform nicht bereit sein, wolle Großbritannien wenigstens für sich allein neue Ausnahmeregelungen erhalten – eine Forderung, die sich so auch im Wahlprogramm der Partei wiederfindet.

Schlüsselbegriff „EU-Reform“

Anders als die UKIP, die sich tatsächlich für einen Austritt aus der EU einsetzt, will Cameron das Referendum also nur als Hebel, um Druck auf die anderen Mitgliedsregierungen auszuüben und die von ihm gewünschte Vertragsänderung durchzusetzen. Der zentrale Begriff für die Conservatives lautet nicht „EU-Austritt“, sondern „EU-Reform“ – eine Reform freilich, die die britischen nationalen Interessen in den Mittelpunkt stellen und die europäische Demokratie schwächen würde. Tatsächlich trägt die von Cameron maßgeblich vorangetriebene Europapartei der Conservatives, die Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten (AECR), dieses Schlüsselwort sogar im Namen.

Aber was sagen Labour und die Liberal Democrats dazu? Sieht man von der Referendumsfrage ab, so könnte es kaum eine größere Übereinstimmung mit den Forderungen der Conservatives geben. Auch die Labour Party spricht in ihrem Wahlprogramm lediglich davon, dass es Großbritannien „at the heart of a reformed EU“ besser gehe als außerhalb. Die Partei verspricht ihren Wählern deshalb, „[to] make the hard-headed, patriotic case […] for reform in Europe“, und zwar mit dem Ziel „to make it work better for Britain“.

Und auch die LibDem, traditionell die europafreundlichste Gruppierung im britischen Parteienspektrum, sprechen von einer „EU reform“ mit dem Ziel eines „better settlement for Britain“. Wie das genau aussehen würde, lässt die Partei zwar weitgehend offen. Auch sie spricht aber nicht von europäischer Demokratie, sondern nur von mehr Macht für die nationalen Parlamente. Am Ende scheint es jedenfalls auch den LibDem nur um das eigene Land zu gehen: „We want a more productive Europe which supports British values, British jobs and the British national interest.“

Einwanderungspolitik und europäische Freizügigkeit

Die Ähnlichkeiten zwischen den Wahlprogrammen setzen sich fort, wenn man die Vorschläge zur künftigen Gestaltung der britischen Einwanderungspolitik betrachtet. Dabei handelt es sich nicht nur um das aus Sicht der britischen Wähler derzeit wichtigste politische Thema überhaupt, sondern auch um eine notorische Streitfrage zwischen der Europäischen Kommission und der britischen Regierung, die Ende 2013 massive Einschränkungen der europäischen Freizügigkeit forderte.

Konkret verlangte Cameron vor einigen Monaten unter anderem, zugewanderten Unionsbürgern für mehrere Jahre den Zugang zu den britischen Sozialleistungen zu versperren sowie kriminelle Unionsbürger leichter abschieben zu können. Sollten diese Forderungen in der EU nicht durchsetzbar sein, so könne er in Bezug auf einen britischen EU-Austritt für nichts garantieren.

Und was steht dazu im Labour-Wahlprogramm? Genau: Die Partei fordert eine Reform des europäischen Freizügigkeitsrechts, „so that people coming to the UK have to wait longer to receive benefits and making it easier to deport those who commit crimes“. Der zentrale Unterschied besteht offenbar nur darin, dass die Conservative Party eine vierjährige, Labour hingegen nur eine zweijährige Frist fordert, bevor Unionsbürger Sozialleistungen erhalten können. Was die Stoßrichtung des Vorschlags und die dahinterliegende Argumentationsweise betrifft, scheint es hingegen, als hätte die Partei von Ed Miliband in diesem Punkt einfach das Programm der Regierung übernommen, die sie am 7. Mai abzulösen plant.

Der britische Europadiskurs verengt sich

Aller Voraussicht nach wird der Brexit nach der Unterhauswahl erst einmal nicht mehr auf der Tagesordnung stehen – aber sehr viel einfacher dürfte das Verhältnis zwischen London und Brüssel wohl auch unter einer Labour-Regierung nicht werden. Wenn die Partei in ihrem Wahlprogramm Cameron vorwirft, er sei „sleepwalking Britain to the exit from the European Union“, dann lässt sich das womöglich auf die gesamte britische Politik übertragen.

Seitdem Margaret Thatcher in den 1980er Jahren das engstirnige Beharren auf der nationalen Souveränität salonfähig machte, hat sich das argumentative Feld im britischen europapolitischen Diskurs immer weiter verengt. Den Befürwortern einer verstärkten Integration ist es niemals gelungen, dagegen ein eigenes, europafreundliches Narrativ zu entwickeln. Stattdessen konzentrierten sie sich darauf, die Vorteile einer Mitgliedschaft in der EU aus Sicht des nationalen Interesses aufzuzählen: etwa die britischen Arbeitsplätze, die durch den europäischen Binnenmarkt entstünden, oder der Verlust an internationalem Einfluss, den Großbritannien bei einem EU-Austritt erleiden würde.

Bezeichnenderweise trägt die wichtigste britische Lobby-Gruppe, die sich für einen Verbleib des Landes in der EU ausspricht, den Namen British Influence. In ihrem Internetauftritt bezeichnet sie sich selbst als „the campaign to keep Britain in a reformed EU“. Das Schlüsselwort der europaskeptischen Konservativen, es hat in Großbritannien sogar den Diskurs der Proeuropäer erobert.

Cameron will den UKIP-Wählern schmeicheln

Und wie groß sind die Hoffnungen, dass sich diese Entwicklung in absehbarer Zeit ändert? Erst einmal dürfte alles wohl eher noch schlimmer werden. Für die europaskeptische UKIP könnte die Unterhauswahl zwar ein Debakel werden: Dass sie trotz des absehbaren großen Stimmenzuwachses höchstens auf eine Handvoll Mandate kommen wird, wird ihren Wählern verdeutlichen, dass diese Partei mit dem geltenden britischen Wahlrecht auf absehbare Zeit keine reale Machtperspektive hat.

Auf der anderen Seite weiß aber natürlich auch die Conservative Party, dass ihre Wahlaussichten nicht zuletzt deshalb so schlecht sind, weil viele ihrer ehemaligen Wähler ihre Stimme derzeit lieber der UKIP geben wollen. Vor einigen Tagen wandte sich Cameron deshalb in einer Wahlkampfrede schmeichelnd an die Sympathisanten der Nationalpopulisten, äußerte Verständnis für deren Positionen in der Einwanderungs- und Europapolitik und versprach, in Zukunft stärker auf ihre Wünsche einzugehen. Gleichgültig, ob Cameron die Wahl letztlich gewinnt oder verliert: Es ist überaus wahrscheinlich, dass der Kurs der Conservatives in den nächsten Jahren schon aus taktischen Gründen noch stärker auf die nationale Souveränität ausgerichtet sein wird.

Der Ball liegt bei Labour

Am Ende wird der Ball dann bei Labour und den LibDem liegen. Sie können einerseits ihre Strategie fortsetzen, mit ihren europapolitischen Positionen jeweils gerade ein Quäntchen gemäßigter als die Conservatives aufzutreten, ansonsten aber die Argumente ihrer Gegner zu übernehmen und einer grundsätzlichen Debatte aus dem Weg zu gehen. In diesem Fall wird Großbritannien wohl weiter dem Austritt entgegentaumeln: ein Hindernis für weitere Einigungsschritte, zugleich aber weitgehend isoliert und unfähig, auf europäischer Ebene seine Forderungen durchzusetzen.

Oder aber die Labour Party ringt sich auch gegenüber der britischen Öffentlichkeit zu der Erkenntnis durch, dass die EU eben nicht dem nationalen Interesse Großbritanniens (oder irgendeines anderen Mitgliedstaates) dienen soll, sondern den europäischen Bürgerinnen und Bürgern, die in ihrer Lebensgestaltung immer häufiger nationale Grenzen überschreiten und die über gemeinsame Angelegenheiten in einem gemeinsamen demokratischen Gemeinwesen entscheiden wollen. Und dass diese EU zwar Reformen braucht, aber sicher nicht die, von denen David Cameron spricht.

Und wenn es doch ein Referendum gäbe?

Übrigens: Seit einigen Jahren gibt es in Großbritannien regelmäßige Umfragen darüber, wie sich die Wähler bei einem möglichen EU-Referendum entscheiden würden. Bis Anfang 2014 zeigte sich dabei fast immer dasselbe Schema: Sollte es der britischen Regierung gelingen, sich in hypothetischen Vertragsverhandlungen mit ihren Forderungen durchzusetzen, so wollte eine Mehrheit der Befragten für den Verbleib in der EU stimmen; andernfalls für den Austritt. Seit etwa einem Jahr hingegen hat sich dieses Bild geändert. Befragt man die Briten heute über ein mögliches Austrittsreferendum, so ist in den meisten Umfragen eine Mehrheit dafür, die EU-Mitgliedschaft fortzusetzen – unabhängig davon, ob es Nachverhandlungen gibt oder nicht.

Mehr nationale Souveränität zu fordern, muss eben auch nicht immer eine Sieger-Strategie sein. Und manchmal wandelt sich die Gesellschaft womöglich schneller, als die Politik vermutet.

Nachtrag, 14.4.2015: Die oben zitierten Passagen stammen aus den verlinkten programmatischen Texten, die die britischen Parteien zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels auf ihren jeweiligen Homepages eingestellt hatten. Inzwischen sind darüber hinaus die offiziellen Wahlmanifeste erschienen; das der Conservatives ist hier, das der Labour Party hier zu finden. Diese Manifeste unterscheiden sich von den hier zitierten Programmtexten in den einzelnen Formulierungen, nicht aber in den wesentlichen Inhalten.

Bild: Plashing Vole [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr.

02 April 2015

„Europäische Integration war gestern; die Ausgestaltung einer europäischen Demokratie, das ist heute die Frage!“ Ein Interview mit Ulrike Guérot

Ulrike Guérot.
D(e)F: Wenn Sie eines an der Funktionsweise der EU ändern könnten, was wäre es?

Ulrike Guérot: Die Frage nach dem „einem Schritt“ ist natürlich eine trügerische, da man die derzeitige EU nicht in einem Schritt zu einem funktionierenden politischen und demokratischen Gemeinwesen machen kann.

Zunächst müsste zwischen dem Reformbedarf der Eurozone und der EU 28 unterschieden werden, da eine gemeinsame Währung einen erhöhten Integrationsbedarf und damit auch eine Vertiefung der politischen Union notwendig macht, wie das auch schon die Glienicker Gruppe und die Groupe Eiffel hervorgehoben haben.

Für die Eurozone geht es im Grunde darum, die Souveränität und mithin die Grundlage der Legitimität aller politischen Akte für das politische Gemeinwesen „Euroland“ ganz neu zu denken. Nur so könnte dem Grundsatz der politischen Gleichheit aller Unionsbürger, der normativ bereits in den einführenden Artikeln 1 bis 12 EU-Vertrag konstitutionalisiert ist, wirklich Rechnung getragen werden.

Doppelte Souveränität von Bürgern und Völkern

Jürgen Habermas entwickelt dazu im Leviathan (42. Jg., 4/2014) das konzeptionelle Gedankenexperiment einer „doppelten Souveränität“, bei dem sich die konstituierende Gewalt aus der Gesamtheit der europäischen Bürger einerseits und der europäischen Völker anderseits zusammensetzt. Dies läuft auf eine „Aufstufung“ der europäischen Bürger als gleichberechtigtem Souverän neben den europäischen Staaten hinaus. Demokratie und Nationalstaat würden insofern entkoppelt, als die europäischen Bürger in ihrer Stellung als Unionsbürger als solche teilsouverän wären und in eine gleichberechtigte,  heterarchische Beziehung zu den souveränen Nationalstaaten bei der Konstituierung des europäischen Gemeinwesens treten würden.

Wenn man aus dieser Perspektive eines „doppelten Souveräns“ dann die Frage stellt, welcher wichtigste Schritt, welche (erste) Reform der geltenden Verträge notwendig ist, um die bestehenden demokratischen Defizite in einer künftigen Euro-Union zu beseitigen, dann lautet die Antwort von Jürgen Habermas, der ich mich voll anschließen würde:
Das Europäische Parlament müsste Gesetzesinitiativen einbringen können [also volles Initiativrecht und damit auch Budgetrecht bekommen, UG], und das sogenannte ordentliche Gesetzgebungsverfahren, das die Zustimmung beider Kammern erfordert, müsste auf alle Politikfelder ausgedehnt werden. Sodann müsste der Europäische Rat, also die Versammlung der Regierungschefs, die bis heute eine halbkonstitutionelle Stellung genießen, einem zur zweiten Kammer ausgebauten Ministerrat eingegliedert werden. Und schließlich müsste die Kommission die Aufgaben einer Rat und Parlament gleichermaßen verantwortlichen Regierung übernehmen.
Dies sind übrigens die entscheidenden Reformvorschläge, wie sie jüngst auch von der sogenannten Spinelli-Gruppe für eine Neuverfassung der EU vorgestellt wurden. Mit ihnen würde sich die Demokratie in Euroland dem Prinzip der Montesquieu’schen Gewaltenteilung annähern, wie das übrigens schon im Westerwelle-Report über die Zukunft der Europäischen Union vom September 2012 und davor schon im Schäuble-Lamers-Paper über „Kerneuropa“ von 1994 angedacht wird.

Ich sehe keinen mutigen Akteur
 
D(e)F: Ein parlamentarisches Zweikammersystem, die Abschaffung nationaler Vetorechte durch eine Ausweitung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, die Kommission als parlamentarisch verantwortliche Regierung: Das klingt nach einer anspruchsvollen Agenda, die jedenfalls die Einberufung eines europäischen Konvents (nach Art. 48 EUV) und sicher auch die Änderung einiger nationaler Verfassungen voraussetzen würde.

Nun scheinen viele politische Entscheidungsträger nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags 2005, den Schwierigkeiten bei der Ratifikation des Vertrags von Lissabon 2008/09 und den Erfolgen nationalpopulistischer Parteien bei der Europawahl 2014 vor großen Integrationsplänen eher zurückzuschrecken. Gleichzeitig hat vor allem die Eurokrise – Stichwort „Rettungsroutine“ – aber auch ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass die derzeitige institutionelle Verfassung der EU offenbar nicht dauerhaft stabil ist. Sehen Sie einen Akteur, der jetzt die Initiative ergreifen und die nötigen politischen Impulse für die Einberufung eines Konvents und eine neue umfassende Vertragsreform geben könnte?

Guérot: Nein, ich sehe (leider!) aktuell keinen mutigen Akteur, jedenfalls keinen prominenten oder politisch mächtigen, und schon gar nicht in Deutschland oder gar Frankreich, den beiden Ländern, auf die es politisch ankäme. Das genau ist ja gerade das Problem. Jean-Claude Juncker hat vor einiger Zeit mal in einem Interview fast lapidar gesagt, wir wissen alle, was zu tun ist, um die Eurozone funktionsfähig zu machen, aber wenn wir das tun, werden wir abgewählt.

Das europäische Catch-22

Ich nenne es das europäische „Catch-22“: Das politisch und ökonomisch Notwendige ist unter gegebenen demokratischen Bedingungen nicht machbar, das derzeitige Euro-System indes mittel- und langfristig nicht stabil. Das sagen die meisten Ökonomen und Politikwissenschaftler, von Thomas Piketty bis Hauke Brunkhorst, und übrigens nicht nur sogenannte „Linke“, wie etwa Paul Krugman, sondern Bernd Lucke von der AfD sagt das ja im Grunde auch, wenn er moniert, dass der Euro so nicht funktionieren kann – nur, dass er die falschen politischen Konsequenzen daraus zieht.

In der Analyse ist man sich also weitgehend einig, nicht aber in Politikforderungen, die man daraus ableitet. Andererseits muss unbedingt anerkannt werden, dass der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sich seit Amtsantritt deutlich bemüht, das ihm Mögliche unterhalb der Schwelle einer Vertragsänderung zu machen: Mit dem vorgelegten Juncker-Plan treibt er aus Brüssel den politischen Umbau Europas voran – allerdings unterhalb des öffentlichen Radars.

Würden wir weitere Integrationsschritte zur Abstimmung stellen oder gar – z.B. in Frankreich – einem Referendum unterziehen, würden diese derzeit unter dem augenblicklichen populistischen Druck sehr wahrscheinlich abgelehnt. Erst am 16. März 2015 hat der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger in einem Vortrag beim Europäischen Abend der Europa-Union in Berlin (#EURAbend) gesagt, er rate dringend von Diskussionen über Vertragsreformen ab.

Hegelianischer Moment

Damit stellt sich tatsächlich die Frage, was wir in diesem gleichsam hegelianischen Moment machen, in dem sich eine politische Synthese erschöpft hat und wir, historisch gesehen, in den Übergang zu einer neuen These kommen müssten – das System dazu aber keine Kraft hat, weil es in der populistischen Schockstarre ist. „Man stirbt auch aus Gewohnheit“, sagte Hegel einmal. Der EU könnte das vielleicht passieren. Ein System, das sich nicht entwickelt, läuft Gefahr, zu brechen – genau ein Auseinanderbrechen verhandeln wir ja aktuell in der „Grexit“-Debatte.

Und ja, Sie haben Recht: Ohne Vertragsreform ist dieser hegelianische Übergang von einer ausgereizten Synthese zu einer neuen historischen These für Europa wahrscheinlich nicht zu haben. Indes ist die gerade spannende Frage, ob wir dazu einen neuen Verfassungskonvent brauchen, oder nicht eigentlich eine constituante, die auf kluge und neue Art die europäischen Bürger in ihrer Gesamtheit zum Souverän der Entscheidung über ihre neu zu gestaltende europäische polity machen könnte. Bei einem Konvent würden wir de facto wieder den Nationalstaaten die Hoheit über den Grad der europäischen Integration geben, wie Ulrich Beck (Deutsches Europa, S. 33) es ausdrückte; die Nationalstaaten aber sind systemisch genau das Problem.

Nicht Staaten integrieren, sondern Bürger einen

Wenn wir den Begriff der Souveränität de-konstruieren und Souveränität als individualisierbares Konzept (etwa bei Jean Bodin und Hans Kelsen, siehe auch hier) wiederentdecken könnten, würden wir uns dem nähern, was Habermas mit seinem bereits zitierten Gedankenexperiment meint: dass wir nämlich in doppelter Hinsicht Bürger – Unionsbürger und Staatenbürger – sind, die Souveränität dieser Staaten aber eben auch nur auf einer von uns selbst vorgängig an diese Staaten delegierten Souveränität beruht.

Über dieses republikanische Element für die Euro-Union mehr nachzudenken, könnte spannend sein, zumal sich bisherige Lösungsansätze erschöpft zu haben scheinen. Es geht nicht mehr darum, Staaten zu integrieren, sondern Bürger zu einen. Anders formuliert: Europäische Integration war gestern, denn die EU ist währungs- und wirtschaftspolitisch fast vollständig integriert; die Ausgestaltung einer europäischen Demokratie, die von Nationalstaatlichkeit entkoppelt ist, das ist heute die Frage!

Nachdenken über die „constituante“

D(e)F: Sie sagen selbst, dass weitere Integrationsvorschläge derzeit bei nationalen Volksabstimmungen wohl unter dem Druck populistischer Argumente scheitern würden. Wie aber könnte angesichts dessen eine demokratische europäische „constituante“ aussehen? Nach welchen Verfahren müsste eine Vertragsreform erfolgen, um das Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen Bürgerschaft auch im öffentlichen Diskurs zu verankern?

Guérot: Ich würde gerne erst einmal darauf verweisen wollen, dass wir uns mit dieser Diskussion in einem hypothetischen Raum bewegen. Das „weiße Blatt“, von dem aus wir die europäische Integration neu denken, gibt es in der politischen Realität nicht. Andererseits ist es eben auch vermessen zu denken, dass Geschichte immer gleichsam „rational“ gestaltet wird. Manchmal geschehen Dinge einfach – so wie etwa die deutsche Wiedervereinigung – mehr oder weniger über Nacht, und der rationale politische Gestaltungsprozess setzt erst danach ein, um das, was passiert ist, in „geordnete Bahnen“ zu lenken. Und dann zumindest ist es gut, wenn man eine schlüssige Idee hat.

Wenn wir also über eine constituante nachdenken und darüber, wie die zukünftige Euro-Union sein könnte bzw. eigentlich sein müsste, dann bewegen wir uns intellektuell außerhalb des gegenwärtig verfassten Rahmens, eben im Raum der politischen Ideen.

Stellen wir uns also vor, wir könnten eine Neu-Konstituierung der heutigen Eurozone in eine Euro-Union herbeiführen (in der Hoffnung, dass andere EU-28-Staaten dann dieser Euro-Union schnell beitreten): Dann müssten wir einen Mechanismus finden, die Bürgervertreter, die an dieser constituante teilhaben, repräsentativ auszuwählen, und zwar gesamteuropäisch. Diese europäischen Bürger wären dann die constituante und hätten ein verfassungsgebendes Mandat für die Euro-Union. Alternativ könnte man vielleicht auch darüber nachdenken, ob die ca. 50 regionalen Einheiten, die im Mittelalter die europäische Landkarte geprägt haben, bevor die Nationalstaaten erfunden wurden, die konstitutionellen Träger einer politischen Neuordnung Europas sein könnten.

Europäische Republik

D(e)F: Sie haben oben von einem „republikanischen Element für die Euro-Union“ gesprochen, und vor zwei Jahren haben Sie mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ein vielbeachtetes Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik geschrieben. Außerdem haben Sie die Homepage europaeische-republik.eu eingerichtet, die den Leser mit dem Versprechen empfängt: „The European Republic is under construction.“

Nun ist „Republik“ im Staatsrechtsvokabular in erster Linie der Gegenbegriff zu „Monarchie“. Aber Europa als Ganzes ist niemals eine Monarchie gewesen, und die nationalen Könige, die es in einigen EU-Mitgliedstaaten noch gibt, gelten im Allgemeinen nicht als ein Hindernis für die Demokratie oder die europäische Integration. Warum also Republik? Worauf zielen Sie ab, wenn Sie dieses Wort verwenden?

Guérot: Im Grunde ziele ich auf das normale Rechtsordnungsprinzip, das den europäischen Kontinent seit zwei Jahrtausenden prägt. Es geht – jenseits der Abgrenzung der Republik von der Monarchie und im Übrigen auch in Abgrenzung von den sogenannten „Volksrepubliken“ – im Wesentlichen um bürgerliche Emanzipation und um Gemeinwohlbindung. Beides stellt den entscheidenden normativen Gehalt des Republikbegriffes dar. Beide Ideen drücken aus, dass es in Europa jetzt nicht mehr darum geht, Staaten zu integrieren, sondern Bürger zu einen, um das „allgemeine Gut“ bzw. das europäische Gemeinwohl zu sichern.

Gemeinwohlbindung der politischen Ordnung

Worum es jetzt geht, ist, den politischen und sozialen Raum in Euroland mit einer wirtschafts- und währungspolitischen Realität der Integration kongruent zu machen, die Bürger – und nicht die Staaten – wieder zum eigentlichen Souverän des Projektes zu machen und das institutionelle System der Euro-Union in Zukunft darauf auszurichten. Das europäische Projekt könnte mithin durch die semantische Verschiebung von „Vereinigte Staaten von Europa“ zu „Europäische Republik“ auf eine neue politische Stufe gehoben werden. (Siehe auch hier.)

Schon 2000 hat der französische Historiker Michel Foucher ein Buch mit dem Titel La République Européenne veröffentlicht. In der rechts- wie politikwissenschaftlichen Forschung gibt es derzeit geradezu eine Art Renaissance des republikanischen Denkens mit Blick auf Europa, nicht zuletzt, weil die normative Idee der Republik essentiell eben die Gemeinwohlbindung der politischen Ordnung ist, etwas, was in den vergangenen zwei Jahrzehnten marktliberaler europäischer Ordnung aus dem Blickfeld geraten ist. Ich finde daher, dass wir den Begriff der Republik beim Nachdenken über das Europa von übermorgen nutzen sollten.

Entscheidender Hebel ist das Prinzip der politischen Gleichheit

Dies würde zuallererst die Verwirklichung des Prinzips der politischen Gleichheit aller Euro-Unionsbürger voraussetzen, auf dem jede moderne (also post-feudale) politische Gemeinschaft beruhen muss. Wohlgemerkt ist dieser Gleichheitsgrundsatz etwas ganz anderes als Zentralismus oder Nivellierung in Europa. Als Bürger von Euroland aber sind wir heute noch nicht gleichgestellt: Wir wählen „unser“ Parlament, also das Europaparlament, unter – national – unterschiedlichen Bedingungen; wir zahlen nicht die gleichen Steuern und wir haben nicht den gleichen Zugang zu sozialen Rechten.

Es ist ja geradezu eine Perversion von Nationalität, wenn man diese wie sein Nachthemd wegen Steuern wechselt, so wie es einige Franzosen gemacht haben, als François Hollande 2012 eine Vermögenssteuer eingeführt hat. Auf so einem „Steuershopping“, das ja im Übrigen auch für die Unternehmen gilt, kann man kein gemeinsames politisches Gemeinwesen gründen. Das Prinzip der politischen Gleichheit müsste darum zumindest für Euroland gleiche bürgerliche Steuern und auch den Zugang zu den gleichen sozialen Rechten umfassen. Darauf ließe sich z.B. auch die Einführung einer Europäischen Arbeitslosenversicherung begründen, die ja auch schon offiziell in der EU-Kommission diskutiert wird und die zumindest ein Schritt in diese Richtung wäre, wenn auch die bisher von der Kommission entwickelten Pläne noch keine vollständige Anspruchsgleichheit bedeuten würden, sondern lediglich einen zwischenstaatlichen Puffer.

Vieles von dem hier Gesagten ist also gleichsam nur „halbe Utopie“, es wird schon heute lebhaft diskutiert, lässt sich aber unter den gegebenen Umständen nicht verwirklichen. Die konsequente Verwirklichung des Prinzips der politischen Gleichheit aller Euro-Unionsbürger wäre also der entscheidende Hebel für die politische Neuordnung der Euro-Union und, basierend auf der Idee einer Res Publica Europaea, für die Überwindung der Nationalstaatlichkeit in Europa.

Ulrike Guérot (@ulrikeguerot) ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance (eusg) in Berlin. Zuvor leitete sie unter anderem von 2007 bis 2013 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR). 2003 wurde sie für ihr europäisches Engagement mit dem französischen Verdienstorden „Pour le Mérite“ ausgezeichnet.

Dieses Interview wurde im März 2015 per E-Mail geführt.

Bild: Ulrike Guérot [alle Rechte vorbehalten].