24 Februar 2015

Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich?

Entspricht das Verfahren zur Wahl des Europäischen Parlaments noch unseren Erwartungen an eine europäische Demokratie? In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft hier auf die Frage, wie sie sich ein besseres Europawahlrecht vorstellen würden. Heute: Tim Weber, stellvertretender Geschäftsführer von Mehr Demokratie e.V. (Zum Anfang der Serie.)

„Kann man rechtfertigen, dass in Zypern ca. 100.000, in Italien aber ca. 642.000 Wahlberechtigte auf einen Abgeordneten kommen?“
Soll es für das Europäische Parlament ein einheitliches Wahlrecht geben? Die Frage wird auch bei Mehr Demokratie e.V. kontrovers diskutiert. Die Kritiker argumentieren, dass Europa von der Vielfalt lebe und es keine Notwendigkeit gebe, das Wahlrecht zu vereinheitlichen. Die Befürworter hingegen führen ins Feld, dass es schließlich ein Parlament sei und die Unübersichtlichkeit und Unverständlichkeit der Europäischen Union sich unnötig im Wahlrecht ausdrücke. 

Eigentlich fanden am 25. Mai 2014 28 Wahlen statt. In Deutschland werden 96 Abgeordnete gewählt, es gibt keine Sperrklausel; in Österreich sind es 19 Abgeordnete, die Sperrklausel beträgt vier Prozent. In Großbritannien werden 73 Abgeordnete in 12 Bezirken gewählt.

Immerhin gibt es, seitdem es Wahlen zum Europäischen Parlament gibt, Grundsätze, geregelt im Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen. Es gilt das Verhältniswahlsystem, aber auch das Modell der übertragbaren Einzelstimme (Irland, Nordirland, Malta) ist zugelassen. Es darf eine Sperrklausel geben, die aber nicht höher als fünf Prozent sein darf. Und es gibt vier Wahlrechtsgrundsätze: „Die Wahl erfolgt allgemein, unmittelbar, frei und geheim.“

Wie bitte? Gleich sind die Wahlen nicht? Der Gleichheitsgrundsatz gilt tatsächlich nicht. Denn ein Abgeordneter aus Italien benötigt wesentlich mehr Stimmen als ein Abgeordneter aus Zypern oder Malta.

Wahlgleichheit nur innerhalb eines Landes

Es wird gerne eingewandt, dass auf diese Weise nun einmal das föderale Prinzip berücksichtigt werde, die kleinen Länder müssten mit genügend Abgeordneten vertreten sein. Nun gut, aber kann man damit wirklich rechtfertigen, dass in Zypern ca. 100.000 Wahlberechtigte, in Schweden ca. 354.000 Wahlberechtigte und in Italien ca. 642.000 Wahlberechtigte auf einen Abgeordneten kommen? Neben dem Gesichtspunkt, dass kleinere Länder mit genügend Abgeordneten vertreten sein sollen, spielen wohl auch Aushandlungsprozesse eine Rolle, welches Land mit wie vielen Abgeordneten vertreten ist.

Da es sich nicht um eine EU-Wahl, sondern um 28 EU-Wahlen handelt, die vorgeben, eine EU-Wahl zu sein, ist diese Ungleichheit zwischen den Ländern auch zu begründen. Innerhalb der Länder gilt der Gleichheitsgrundsatz. Es ist eigentlich erstaunlich, dass das Verhältniswahlsystem akzeptiert wurde. Denn mit der Begründung, dass nur innerhalb eines Landes der Gleichheitsgrundsatz gilt, hätten Großbritannien und Frankreich auch ihr Mehrheitswahlrecht behalten können. Da in jedem Wahlkreis die Stimmen für die nicht gewählten Kandidaten verfallen, beschränkt sich die Gleichheit in einem Mehrheitswahlsystem zwar auf den Zählwert, nicht den Erfolgswert einer Stimme. Auch das fällt aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht unter den Gleichheitsgrundsatz – anders als die heutige Verteilung der Sitzkontingente auf Ebene der EU.

Föderalismus muss in der zweiten Kammer berücksichtigt werden

Wer ein einheitliches Wahlrecht fordert und den Gleichheitsgrundsatz verwirklicht sehen will, muss wohl einem Zwei-Kammer-System zustimmen, in dem beide Kammern (Parlament und Senat) einem Gesetzentwurf zustimmen müssen, damit er in Kraft tritt. Für das EU-Parlament würde dann der Gleichheitsgrundsatz gelten, kleine Staaten wären nur mit einem Abgeordneten, Deutschland aber mit 100 Abgeordneten vertreten. Im Senat allerdings hätte jeder Staat z. B. zwei Vertreter, hier würde das föderale Prinzip zum Zuge kommen.

Aber auch zu dieser Frage gibt es bei Mehr Demokratie unterschiedliche und kontrovers diskutierte Ansichten. Nachfolgend skizziere ich, wie ein einheitliches EU-Wahlrecht aussehen könnte und was ich für sinnvoll halte.

Ein Vorschlag für ein einheitliches EU-Wahlrecht

Das EU-Parlament bestünde aus 629 Abgeordneten, die proportional nach Wahlberechtigten besetzt werden. Die Wahlzahl (der Teiler, durch den die Zahl der Wahlberechtigten geteilt wird, um die Anzahl der Abgeordneten zu ermitteln) beträgt also 614.000. Jeder Mitgliedstaat stellt mindestens einen Abgeordneten. Ab 0,5 wird die Zahl der Abgeordneten aufgerundet. Deutschland als größter Mitgliedstaat käme bei dieser Regelung auf 100 Abgeordnete. Eine Senkung der Wahlzahl auf z. B. 511.250 (und damit eine Erweiterung des Gesamtparlaments auf 782 Sitze) würde für Deutschland 120 Abgeordnete bedeuten und bei proportionaler Besetzung in den kleinsten Mitgliedstaaten keine Erhöhung der Mandate mit sich bringen.

In ihrem Buch Europa: nicht ohne uns! (S. 146ff.) schlagen Michael Efler und andere eine Mindestzahl von vier Abgeordneten pro Mitgliedstaat vor. Da das föderale Prinzip in der Zweiten Kammer verwirklicht werden würde, kann beim EU-Parlament jedoch meines Erachtens die Mindestzahl bei eins bleiben.

Die Wahlkreise

Die Wahlkreise sollen aus 20 bis 30 zu wählenden Abgeordneten bestehen. Bei Mitgliedstaaten, die insgesamt nur auf weniger als 20 Abgeordnete kommen, dürfen die Wahlkreise auch kleiner sein. Alternativ könnten auch mehrere Staaten einen gemeinsamen Wahlkreis bilden oder länderübergreifende Listenverbindungen erlauben. Dies würde die Wahlchancen vor allem der kleineren Parteien und Wählergemeinschaften verbessern. Denn in Staaten mit nur einem Abgeordneten würde nur eine Partei vertreten sein, d. h. mehrere andere Parteien würden keinen Sitz erhalten.

Bewusst wird die Möglichkeit länderübergreifender Listen hier nur erwähnt. Denn im Detail wirft ein solcher Vorschlag weitere Fragen auf. Gleichwohl würden die Wahlen dadurch eine stärkere transnationale Qualität erreichen. Auf eine europaweite Liste (wie im Duff-Bericht des Europäischen Parlaments) wird jedoch verzichtet. Dieser Vorschlag verkompliziert das Wahlrecht, ohne wirklichen Nutzen zu erzeugen. Mir scheint die EU auch zu groß, um eine gemeinsame Liste anzubieten.

Die maximale Wahlkreisgröße bleibt bei 20 bis 30. Wahlkreise dieser Größe haben den Vorteil, dass sie für die Wähler/innen überschaubar sind und kleinere Parteien dennoch eine Chance haben, ein Mandat zu erzielen: Die natürliche Sperrklausel liegt bei ca. 1,7 bis 2,6 Prozent. Die Auszählung erfolgt nach Sainte-Laguë.

Wahlmodalitäten

In den Wahlkreisen wird nach offenen Listen gewählt. Jeder Wahlberechtigte hat eine oder mehrere Stimmen, die er frei auf die Kandidaten, auch verschiedener Listen verteilen kann. Er kann aber auch alle seine Stimmen einem Kandidaten geben.

Das aktive und passive Wahlrecht wird einheitlich geregelt, am besten 16 und 18 Jahre wie derzeit in Österreich. Auch für Modalitäten wie Benachrichtigungen, Briefwahl, Wahllokale pro Wahlberechtigte etc. soll es einheitliche Mindeststandards geben. Wahltag, Öffnungszeiten der Wahllokale sowie Wahlpflicht können unterschiedlich geregelt werden.

Die folgende Tabelle zeigt auf, wie sich das Europäische Parlament künftig zusammensetzen könnte (ohne Berücksichtigung möglicher staatenübergreifender Wahlkreise oder Listenverbindungen):

Staat Wahlberechtigte Wahlkreise Sitze
(Wahlzahl: 614.000)
Sitze heute
(Vertrag v. Lissabon)
DE61.400.0004-510096
FR49.400.0003-48074
IT 46.900.0003-47673
GB45.400.0003-47473
ES34.731.56925754
PL27.320.96524451
RO18.221.06113032
NL 12.815.49612126
EL9.907.99511621
CZ8.395.13211421
HU8.041.38611321
PT8.000.00011321
BE7.871.50411321
SE7.088.30311220
BG6.533.82811117
AT6.410.52611018
DK4.141.3291713
FI4.440.2971713
SK4.414.4331713
HR3.767.3431611
IE3.245.3481511
LT2.475.0001411
SI1.710.856138
LV1.472.478128
EE902.873116
CY606.916116
LU375.000116
MT344.356116
Summe

629751
Anmerkung: Die Zahl der Wahlkreise hängt von der Zahl der Stimmberechtigten ab. Die Zahl der Sitze errechnet sich durch die Division der Zahl der Stimmberechtigten durch die Wahlzahl (mit Aufrunden ab 0,5); jedes Land erhält mindestens einen Sitz.

Welche Mindeststandards sollten geregelt werden?

Dieser soeben skizzierte Vorschlag ist von mir und keinesfalls von Mehr Demokratie e.V., wo die Frage, ob es überhaupt ein einheitliches EU-Wahlrecht geben soll, leidenschaftlich diskutiert wird. Einig sind wir uns aber, dass die bereits existierenden Mindeststandards weiter ausgearbeitet werden sollen. Erste Diskussionen gehen dabei in folgende Richtung:

● Die existierende maximale Sperrklausel von fünf Prozent der Wählenden soll nicht durch zu kleine Wahlkreise aufgeweicht werden können, wie es z.B. in Großbritannien der Fall ist. Solange unter den Bedingungen 28 unterschiedlicher Wahlrechte gewählt wird und das EU-Parlament kein gleichberechtigter Gesetzgeber ist, schließen wir uns der Argumentation des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts an und halten eine Sperrklausel für verzichtbar.

● Das Wahlalter soll einheitlich geregelt werden, und wir halten den österreichischen Weg (16 Jahre aktives Wahlrecht) für richtig.

● Ein einheitlicher Wahltag soll kein Mindeststandard sein. Die geltende Rechtslage, dass Wahlen innerhalb einer Woche stattfinden müssen, ist ausreichend. Auch die Möglichkeit der Briefwahl soll nicht vereinheitlicht werden, da sie ohnehin anfällig für Manipulationen ist. Ebenso soll die Wahlkampfkostenerstattung kein Mindeststandard sein, sondern in den Ländern selbst geregelt werden. Einheitliche Spendentransparenzregeln halten wir aber für sinnvoll.

● Die Bedingungen, wann eine Gruppe/Partei für die Sitze ihres Landes im EU-Parlament kandidieren kann, sind unterschiedlich und in einigen Ländern äußerst schwierig zu erreichen. Die Registrierung unabhängiger Listen oder Parteien muss möglich sein. Es soll ein Quorum zur Registrierung bestehen, das aber nicht zu hoch sein darf. Gebühren für die Registrierung dürfen, wenn überhaupt, nur minimal sein. Wir schlagen vor, dass sich Listen/Parteien 40 Tage vor der Wahl registrieren lassen müssen.

Demokratie muss innerhalb der EU gestaltet und ausgebaut werden

Interessanterweise ist das Wahlrecht ein fast schon symbolischer Streitpunkt darüber, wie viel Einheitlichkeit es in der Europäischen Union geben darf. Die Kritik, dass in einem kontinuierlichen Prozess Kompetenzen an die EU gehen und dass dies durchaus eine Gefährdung der Demokratie in den Mitgliedstaaten darstellt, teile ich.

Die Antwort auf diese Herausforderung kann aber nicht in einem Festhalten an scheinbaren nationalstaatlichen Errungenschaften liegen. Vielmehr bedürfte es Änderungen der EU-Grundlagenverträge, die trennschärfer regeln müssen, welche Fragen auf welcher Ebene entschieden werden. Vor allen Dingen muss die personelle Zusammensetzung der Organe klar getrennt werden. Es ist verkehrt, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten (Exekutive) als Gesetzgeber in den Ministerräten der Europäischen Union wirken (Legislative). Die Kritik an der Machtfülle der Europäischen Union ist gerade en vogue. Es sind aber die Regierungen der Mitgliedstaaten, die den Weg dazu ebnen.

Für Hinweise und Rückmeldungen bedanke ich mich bei Martin Wilke und Dr. Bjoern Benken.

Tim Weber ist stellvertretender Geschäftsführer von Mehr Demokratie e.V. In diesem Artikel beschreibt er seine eigenen Gedanken zu einem einheitlichen Europawahlrecht, die sich nicht notwendigerweise mit den Positionen von Mehr Demokratie e.V. decken müssen.
Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten, wie sollte es dann aussehen? – Artikelübersicht

1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding

Bilder: By Eva Freude [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].

17 Februar 2015

Wie weiter mit der Währungsunion? Der „analytische Vermerk“ der vier Präsidenten

Jean-Claude Juncker will über eine Neuvermessung der europäischen Währungsunion diskutieren. Aber leider ist die Öffentlichkeit gerade mit anderem beschäftigt.
Das Top-Thema, das in den letzten Tagen die öffentliche Aufmerksamkeit für europapolitische Fragen fesselt, ist natürlich die Griechenland-Krise. Das Feiglingsspiel, bei dem sich die griechische Regierung und ihre Geldgeber mit wechselseitigen Drohgebärden einzuschüchtern und zugleich ihre jeweilige nationale Wählerschaft zu beeindrucken versuchen, bleibt nicht ohne Wirkung; und von der Bild-Zeitung, die wie gewohnt den Scharfmacher spielt, bis hin zur altehrwürdigen Europa-Union Deutschland gibt es kaum jemanden, der sich nicht daran beteiligt – auch wenn es offensichtlich noch einigen Raum für Kompromisse gibt. Wenn ein zentraler Konfliktpunkt der Verhandlungen tatsächlich nur in der Frage besteht, ob Griechenland mit seinen Geldgebern ein „agreement“ oder ein „programme“ abschließt, darf man wohl durchaus darauf vertrauen, dass es in letzter Minute doch noch zu einer Einigung kommt.

Ein neues Dokument der „vier Präsidenten“

Die interessantere Frage ist deshalb schon heute nicht, wie genau die Übereinkunft mit der griechischen Regierung am Ende aussehen wird, sondern wie es mit der Währungsunion in Zukunft weitergeht. Die Krise der letzten Jahre hat einige eklatante Schwächen in ihrem institutionellen Aufbau offensichtlich gemacht, und auch wenn es zuletzt schon einige Nachbesserungen gab (vom ESM über das „europäische Semester“ bis zur Bankenunion), dürfte die Eurozone von einem optimalen Währungsraum doch noch ein gutes Stück davon entfernt sein.

Angesichts dessen ist es bedauerlich, dass ein Dokument, das die Europäische Kommission am vergangenen Donnerstag veröffentlichte, in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde. Es handelt sich um einen „analytischen Vermerk“ mit dem Titel Preparing for Next Steps on Better Economic Governance in the Euro Area, den Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) in Zusammenarbeit mit Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP), Eurogruppen-Präsident Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE) und Zentralbankpräsident Mario Draghi verfasst hat.

Er soll die Grundlage für einen ausführlicheren Bericht über eine „engere Koordinierung der Wirtschaftspolitik“ geben, den der Europäische Rat im vergangenen Dezember erbeten hat und der spätestens im kommenden Juni vorgelegt werden soll. Thema sind die Ursachen, die zur Eurokrise führten, die Maßnahmen, die dagegen ergriffen wurden, und die Schritte, die für die Zukunft noch nötig sind.

Junckers Reformaufschlag

Der Vermerk steht damit in Kontinuität zu dem Bericht Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion (PDF), den die „vier Präsidenten“ bereits im Dezember 2012 vorlegten. Zwei Dinge haben sich seitdem allerdings geändert: Zum einen lag die Federführung damals noch beim Ratspräsidenten, nicht bei der Kommission. Und zum anderen hat sich durch die Europawahl auch die personelle Zusammensetzung geändert; statt Juncker und Tusk waren 2012 noch José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) und Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) im Amt.

Das neue Dokument gibt daher nicht nur einen Einblick in das Krisennarrativ, das unter den führenden Entscheidungsträgern der EU als konsensuell gelten darf. Es könnte auch der Aufschlag zur institutionellen Reformagenda von Jean-Claude Juncker sein, der sich bekanntlich als Chef einer „politischen Kommission“ versteht und gerne seine eigenen Schwerpunkte und Akzente setzt.

Die vielfältigen Ursachen der Eurokrise

Und tatsächlich knüpft der „analytische Vermerk“ kaum an den Bericht von 2012 an, sondern beginnt mit einer Reihe ganz grundsätzlicher Feststellungen über die Eurozone. Diese versteht Juncker nicht nur als Währungsunion, sondern auch als ein „politisches Projekt“. Die Mitgliedstaaten geben darin „ein für alle Mal“ ihre nationalen Währungen auf und bilden deshalb eine „Schicksalsgemeinschaft“, die gleichermaßen „Solidarität in Krisenzeiten“ und „Respekt für die gemeinsam vereinbarten Regeln“ voraussetzt.

Anschließend widmet sich der Text recht ausführlich den „vielfältigen Ursachen“ der Eurokrise, die als „Finanzkrise“ im Bankensektor begonnen habe und vor allem durch die nationalen Bankenrettungsprogramme zu einer „Staatsschuldenkrise“ geworden sei. Gleichzeitig sei sie aber auch eine „Wettbewerbsfähigkeitskrise“: Da die Produktivität in einigen Mitgliedstaaten deutlich hinter anderen zurückblieb, entstanden Handelsbilanzungleichgewichte, die nach Ausbruch der Krise zu einer Kapitalflucht in die produktiveren Länder führten. Und schließlich gebe es auch noch eine „Märktekrise“ – genauer ein Marktversagen, da die Investoren zuerst nicht in der Lage waren, diese Entwicklungen zu antizipieren, und dann nach Ausbruch der Krise panikartig überreagierten.

Bereits ergriffene Maßnahmen

Gegen all diese Probleme wurde bereits eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, von denen der Vermerk fünf auflistet:

● den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der Krisenländern mit Rettungskrediten beispringen kann,
● die Bankenunion, die verhindern soll, dass Krisen im Finanzsektor erneut zu nationalen Staatsschuldenkrisen führen,
● das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten, das problematische Wirtschaftsentwicklungen künftig schon früher sichtbar machen soll,
● der reformierte Stabilitätspakt und der Fiskalpakt, die die Staaten zu strikter Haushaltsdisziplin verpflichten, sowie
● die Stärkung des Europäischen Statistikamts Eurostat, die verhindern soll, dass Mitgliedstaaten gefälschte Defizit-Daten veröffentlichen.

Teufelskreis zwischen Verschuldung und Wachstumsschwäche

Auf eine vertiefte Analyse dieser bereits ergriffenen Maßnahmen verzichtet der Vermerk. In einem weiteren Abschnitt wendet er sich stattdessen den gegenwärtigen drückendsten Problemen der Eurozone zu: der hohen Arbeitslosigkeit und dem niedrigen Wachstum. Letzteres stehe in einem gefährlichen Teufelskreis mit der öffentlichen und privaten Verschuldung, da sich hohe Schulden „üblicherweise“ negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirkten, ein niedriges Wachstum aber auch den Schuldenabbau erschwere.

(Der Versuch, diesen Effekt auch mit Daten nachzuweisen, misslingt in dem Vermerk allerdings: Jedenfalls illustriert er die Behauptung, dass ein hoher Schuldenstand zu einem niedrigeren Wachstum führen würde, mit einer Grafik, aus der sich ein solcher Zusammenhang beim besten Willen nicht erkennen lässt – siehe hier, Seite 6, Chart 6. Aber natürlich soll der Vermerk kein ökonomisches Lehrbuch sein, und immerhin hat er mit seiner These auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und das deutsche Finanzministerium auf seiner Seite.)

Junckers Lösung: Strukturreformen und Binnenmarkt

Dieser Teufelskreis zwischen niedrigem Wachstum und Staatsverschuldung ist schließlich auch der gedankliche Rahmen, aus dem der Vermerk die nötigen nächsten Schritte ableitet. Dabei bekennt er sich zunächst noch einmal knapp zu einer „konsistenten Strategie um das ‚Tugend-Dreieck‘ aus Strukturreformen, Investitionen und fiskalischer Verantwortung“. Aber natürlich sind mehr öffentliche Investitionen auch mit höheren Ausgaben, also Schulden verbunden, und natürlich schnürt „fiskalische Verantwortung“, also eine scharfe Sparpolitik, das Wirtschaftswachstum ab.

Ohne dies allzu explizit zu machen, lässt der Vermerk deshalb diese beiden Ansätze fallen und setzt bei den vorgeschlagenen kurzfristigen Maßnahmen stattdessen ganz auf Strukturreformen: Auf nationaler Ebene sollen die Arbeitsmärkte flexibilisiert, die Gründung von Unternehmen erleichtert und der Marktzugang vereinfacht werden. Länderübergreifend soll es außerdem darum gehen, den Europäischen Binnenmarkt auszubauen, um die Mobilität von Arbeitskräften und die Verflechtung des Kapitalmarkts zu erhöhen.

Dieser Zweiklang aus nationalen Strukturreformen und einer Vertiefung des Binnenmarkts dürfte also die Strategie sein, mit der Jean-Claude Juncker die Eurozone aus der Wirtschaftskrise holen will. Und siehe da: Dieselben beiden Forderungen bildeten auch den wirtschaftspolitischen Schwerpunkt im Europawahlprogramm der Europäischen Volkspartei, als deren Spitzenkandidat Juncker vor einem knappen halben Jahr zum Kommissionspräsidenten gewählt wurde.

Und langfristig?

Auf die Frage, wie es mit der Währungsunion langfristig weitergehen soll, bleibt der Vermerk allerdings eine Antwort schuldig: Stattdessen endet er mit einer Reihe von Fragezeichen, für die erst der nächste Bericht der „vier Präsidenten“ im Juni eine Lösung präsentieren soll. Die weitergehenden Vorschläge, die bereits in dem Bericht von 2012 enthalten waren (unter anderem war darin von einer europäischen Arbeitslosenversicherung die Rede, ganz wie ich sie auch auf diesem Blog verschiedentlich thematisiert habe), „bleiben“ zwar „gültig“. Erst einmal soll nun aber weiter diskutiert werden.

Unter den Freunden entschlossener Integrationsschritte (etwa bei Paolo Vacca, dem Generalsekretär der Union Europäischer Föderalisten) ist diese Verzögerung nicht nur auf Begeisterung gestoßen. Warum noch einmal zurück an den Diskussionstisch, wenn die nötigen Reformen doch schon vor fast zweieinhalb Jahren klar benannt worden sind? Andererseits könnte in Junckers neuem Anlauf aber auch eine Chance liegen: nämlich darauf, auch in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es anders als 2012 nicht mehr primär darum geht, eine akute Krise zu bekämpfen, sondern die Eurozone auch für die mittlere und fernere Zukunft wetterfest und demokratisch zu machen.

Aber dafür müssten wir natürlich erst einmal aufhören, uns über Alexis Tsipras aufzuregen. Vielleicht sind wir im Juni ja so weit.

Alle Zitate aus dem Vermerk sind meine Übersetzung des englischen Originaltextes. Bild: By Erina (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons.

10 Februar 2015

Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019

Entspricht das Verfahren zur Wahl des Europäischen Parlaments noch unseren Erwartungen an eine europäische Demokratie? In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft hier auf die Frage, wie sie sich ein besseres Europawahlrecht vorstellen würden. Heute: Andrew Duff, früherer Europaabgeordneter und Verfasser des Duff-Berichts zur Wahlrechtsreform. (Zum Anfang der Serie.)

„Die Beschlüsse über die Sitzverteilung im Europäischen Parlament zwischen den EU-Staaten waren willkürlich, unfair und unerklärlich.“
Das neue Europäische Parlament hat im Rahmen des Vertrags von Lissabon zwei rechtliche und politische Verpflichtungen. Die erste ist ein einheitliches Wahlverfahren zu initiieren (Art. 223 Abs. 1 AEUV), die zweite ist der Vorschlag einer Formel für die Sitzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 14 Abs. 2 EUV). Beide müssen rechtzeitig vor der Europawahl 2019 erfüllt werden.

Niemand, der Europa wohlgesonnen ist, kann stolz auf die immer weiter sinkende Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Europäischen Parlament sein. Das „Spitzenkandidaten“-Experiment 2014 war ein Erfolg bei den Eliten. Auf Ebene der breiten Wählerschaft aber ist es weiterhin dringend notwendig, den Wahlkampf zu beleben, die europäische Dimension zu stärken und die Alternativen, die zur Wahl stehen, zu verdeutlichen.

Das fehlende Glied zwischen den europäischen Wählern und den supranationalen Institutionen ist die Abwesenheit von echten politischen Parteien. Während nationale Parteien beinahe ihre Bemühungen aufgegeben haben, die europäische Integration zu unterstützen, sind noch keine föderalen europäischen Parteien entstanden, um ihren Platz einzunehmen. Die europäische Demokratie ist in einem riskanten Übergangsstadium zwischen nationaler und post-nationaler Politik. Aus diesem Grund haben in der letzten Wahlperiode viele Europaabgeordnete meinen Vorschlag unterstützt, einen gesamteuropäischen Wahlkreis zu schaffen, in dem 25 Mitglieder des Europäischen Parlaments über transnationale Parteilisten gewählt werden sollten.

Transnationale Listen

2013 veröffentlichte die Spinelli-Gruppe eine Vollrevision des Direktwahlakts von 1976. In ihrem Vorschlag für ein Grundgesetz der Europäischen Union (S. 273-280) wird der Akt zu einem Vertragsprotokoll, wodurch er Sichtbarkeit gewinnt, ohne seinen Status als Primärrecht zu verlieren. In dem Vorschlag wird die degressive Proportionalität korrekt definiert, und es werden Rechtsgrundlagen für den gesamteuropäischen Wahlkreis und für eine EU-Wahlbehörde geschaffen, die die transnationale Wahl durchführen würde. Er macht deutlich, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen haben wird, eine für den jeweiligen nationalen oder regionalen Wahlkreis und eine für den EU-weiten. Dieser Vorschlag verdient es, jetzt in die Tat umgesetzt zu werden.

Darüber hinaus hat der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 26./27. Juni 2014 (Rn. 27) vereinbart, bis 2019 das Verfahren zur Wahl des Kommissionspräsidenten zu überprüfen. Das Parlament sollte diese Gelegenheit nutzen, um der Logik des Vertrags von Lissabon zu folgen, indem bei der nächsten Wahl die Favoriten der europäischen Parteien an die Spitze transnationaler Wahllisten für das Europäische Parlament gesetzt werden.

Eine transparente Formel für die Sitzverteilung

Es ist bedauerlich, dass die Beschlüsse über die Sitzverteilung im Europäischen Parlament zwischen den EU-Staaten willkürlich, unfair und unerklärlich gewesen sind. Selbst ein flüchtiger Beobachter kann erkennen, dass die Zahl der Parlamentsmandate Gegenstand von Aushandlungsprozessen waren, oft während den letzten Stunden einer Regierungskonferenz, um durch ein Koppelgeschäft eine Einigung in scheinbar wichtigeren Fragen zu ermöglichen. Es ist deshalb nützlich, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 (v.a. Rn. 279-297) die derzeitige wahllose Sitzverteilung kritisiert hat.

In der letzten Wahlperiode hat das Europäische Parlament eine Untersuchung durchgeführt, um die beste Methode zur Sitzverteilung zwischen den Staaten zu ermitteln, die zugleich transparent, nachvollziehbar, gerecht und dauerhaft sein sollte. Das Ergebnis ist als „Cambridge Compromise“ (CamCom) bekannt geworden und allgemein auf positive Reaktionen gestoßen.

Die CamCom-Methode

Die CamCom-Methode verteilt die nationalen Sitzkontingente im Parlament nach einer festen arithmetischen Formel. Demnach werden jedem Staat ein Grundstock von fünf Sitzen plus so viele weitere Sitze zugeteilt, wie ihm nach seiner Bevölkerungszahl proportional zustehen (wobei aufgerundet und bei der Maximalsitzzahl von 96 gekappt wird). Ein Divisor (d) passt das Ergebnis so an, dass es der Gesamtgröße des Parlaments (derzeit 751 Sitze) entspricht. Die Sitzzahl jedes Landes (A) lässt sich damit in Abhängigkeit von der Bevölkerungsgröße (p) über die folgende mathematische Zuteilungsfunktion darstellen:

A(p) = min{⌈5+p/d⌉, 96}

Eine Variante des Vorschlags würde die vollständige CamCom-Formel in zwei Stufen einführen, damit kein Staat bei den nächsten Wahlen 2019 gegenüber der jetzigen Verteilung mehr als zwei Sitze verlieren würde.

Die steigende Mobilität unter den Einwohnern der Union (vor allem die Arbeitnehmermigration in Westeuropa), demografische Veränderungen (so wie die abnehmende Zahl der Deutschen) und die Möglichkeit nicht nur des Beitritts neuer Länder, sondern auch der Aufspaltung existierender Mitgliedstaaten: Das alles macht es erforderlich, dass das Parlament seine Aufgabe, die Sitzkontingente in jeder Wahlperiode neu zu überprüfen, sehr ernst nimmt. Nach einem Streit über die Sitzzahl des Neumitglieds Kroatiens hat auch der Europäische Rat sich dazu verpflichtet, gemeinsam mit dem Parlament eine arithmetische Formel für die künftige Sitzzuteilung zu ermitteln.

Reform der Stimmgewichtung im Rat

Wenn die Sitzzuteilung im Parlament proportionaler werden soll, dann bedeutet dies aber auch, dass auch die Stimmgewichtung in der zweiten Kammer der europäischen Legislative, dem Rat, überdacht werden muss. Seit dem 1. November 2014 gilt hier das System des Vertrags von Lissabon, bei dem für einen Beschluss in der Regel eine qualifizierte Mehrheit aus 55% der Staaten nötig ist, die zugleich 65% der Bevölkerung repräsentieren müssen.

Dieses Verfahren begünstigt sowohl große Staaten (hinsichtlich des Bevölkerungskriteriums) als auch kleine Staaten (hinsichtlich der Anzahl an Staaten, die für eine Mehrheit nötig sind). Die mittelgroßen Staaten, die durch die CamCom-Formel ihr derzeitiges Übergewicht im Parlament verlieren würden, sollten deshalb zum Ausgleich eine weitere Reform bei den Stimmverfahren des Rates anstreben.

Dies legt es nahe, den Vorschlag einer Stimmgewichtung nach der Quadratwurzel der Bevölkerungszahl wiederzubeleben, durch den das Stimmgewicht der Staaten degressiv-proportional von ihrer Größe abhängig ist. Ein entsprechender Entwurf von Krakauer Akademikern, bekannt als „Jagiellonischer Kompromiss“ (JagCom), wurde 2004 dem Europäischen Verfassungskonvent vorgelegt, aber nicht aufgegriffen (siehe auch Pukelsheim 2014). Er verdient es, erneut bedacht zu werden. Eine Kombination aus CamCom und JagCom würde die Machtverteilung zwischen den Mitgliedstaaten in Legislative der Europäischen Union in ein gerechtes, transparentes und dauerhaftes Gleichgewicht bringen.

Ein neuer Europäischer Konvent

Das Europäische Parlament ist weit über den Punkt hinaus, an dem es nur eine Aggregation der verschiedenen nationalen Parlamentskulturen der Mitgliedstaaten war. Im letzten Jahrzehnt hat es den Erweiterungsschock überstanden, ist ein glaubwürdiger und effizienter Gesetzgeber geworden und hat sich selbst zu einem unverzichtbaren Akteur bei der konstitutionellen Weiterentwicklung gemacht. Nach innen gelangen dem Parlament erfolgreiche Neuerungen. Was ihm fehlt, ist jedoch die Nähe zu der Bevölkerung, der zu dienen sein Existenzgrund ist. Dies führt zu Zweifeln an seiner demokratischen Legitimität und zu Symptomen einer Midlife-Identitätskrise. Eine Wahlreform würde für das öffentliche Profil und Selbstvertrauen des Parlaments Wunder wirken.

Die Reform des Wahlrechts, des Systems der Sitzkontingente im Parlament und der Stimmgewichtung im Ministerrat sind Angelegenheiten des EU-Primärrechts. Dies bedeutet eine Änderung des Vertrags von Lissabon, die nur im Rahmen eines neuen Konvents möglich ist. Auch andere wichtige Verfassungsentwicklungen sind ausstehend, besonders die Vollendung der Fiskalunion und eine Lösung für die britische Frage. Dieses Mal aber muss die Parlamentsreform einen zentralen Platz in der Agenda des Konvents erhalten.


Andrew Duff (@AndrewDuffEU) war von 1999 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments und von 2008 bis 2013 Präsident der Union Europäischer Föderalisten. Als Europaabgeordneter war er 2011 Berichterstatter für den Bericht über einen Vorschlag zur Änderung des Direktwahlakts, der als „Duff-Bericht“ bekannt wurde. Im Januar 2015 ist sein Buch Pandora, Penelope, Polity: How to Change the European Union bei John Harper erschienen.

Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten, wie sollte es dann aussehen? – Artikelübersicht

1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding

Bilder: By helsinki51 [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr; by Diliff (Own work) [CC BY-SA 3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons.

Transnational lists and two compromises for the European electoral system in 2019

Is the procedure for the election of the European Parliament still in line with our expectations towards a European democracy? In a series of guest articles, representatives of politics, academia and civil society describe their ideas and wishes for a better European electoral system. Today: Andrew Duff, former Member of the European Parliament and author of the “Duff Report” on electoral reform. (To the start of the series.)

„Decisions on the apportionment of seats in the European Parliament have been haphazard, unfair and inexplicable.“
The new European Parliament has two legal and political obligations under the Treaty of Lisbon. The first is to initiate a uniform electoral procedure (art. 223(1) TFEU), the second is to propose a formula for the apportionment of seats (art. 14(2) TEU). Both must be accomplished in time for the 2019 elections.

Nobody who wishes Europe well can be proud of the ever-declining overall turnout at European Parliamentary elections. In 2014 the Spitzenkandidaten experiment was a success at the élite level. But there is clearly still a need to electrify the election campaign at the level of the electorate, to raise the European dimension and to accentuate voter choice.

The missing link between the EU voter and the supranational authorities is the absence of proper political parties. Whereas national parties have almost given up the effort to support European integration, federal parties have not yet emerged to take their place. European democracy is in a risky stage of transition between national and post-national politics. For that reason many MEPs in the last Parliament supported my proposal to create a pan-European seat from which 25 MEPs would be elected from transnational party lists.

Transnational lists

In 2013 the Spinelli Group published a full revision of the 1976 Act on direct elections. In their draft Fundamental Law of the European Union (pp. 273-280), the Act is transformed into a Protocol to the Treaty giving it visibility without changing its status in primary law. Degressive proportionality is correctly defined, legal bases are established for the pan-European constituency and for an EU electoral authority to conduct the transnational election. The proposal makes it clear that the elector will have two votes, one for his or her national or regional constituency, and the other for the EU wide one. This proposal deserves now to be enacted.

In their Conclusions of 26-27 June 2014 (para. 27), the European Council has also agreed to review the matter of how the Commission President is to be appointed in 2019. Parliament should exploit this opportunity to follow the logic of Lisbon by putting the next batch of European party champions on top of transnational lists for election to the Parliament.

A transparent formula for the apportionment of seats

It is deplorable that decisions on the apportionment of seats in the European Parliament between EU states have been haphazard, unfair and inexplicable. Even the casual observer can notice that parliamentary seats have been traded between states, usually in the last hours of an IGC, to square ostensibly more important deals. It is useful that the Bundesverfassungsgericht has criticised the current random apportionment of seats in its “Lisbon” Judgement of 30 June 2009 (esp. para. 279-297).

The last Parliament mounted an enquiry into how best to establish a method for seat apportionment which would be transparent, explicable, equitable and durable. The result is known as the Cambridge Compromise (CamCom) and has generated broadly favourable comment.

The CamCom method

The CamCom method apportions seats in the Parliament according to a fixed arithmetical formula that gives each state a base of five seats plus an allocation in proportion to the size of their population (subject to rounding upwards, and capping at the maximum of 96 seats). A divisor (d) adjusts the outcome to fit the overall size of the House (currently at 751 seats). The number of seats of each country can thus be calculated from an allocation function (A) in dependence on the country’s population (P), rendered mathematically as:

A(P) = min{⌈5+P/d⌉, 96}

A variant of the formula would introduce the full CamCom in two stages so that no state loses more than two seats at the next elections in 2019.

The rising mobility of populations within the Union (notably the Western migration of workers), demographic changes (such as the decline of Germans), and the possibility not only of the future accession of new member states but also of the splitting up of existing member states, all require the Parliament to take very seriously its duty to re-apportion seats during each mandate. After a row about the number of seats to be given to Croatia, even the European Council has committed itself to finding, with the Parliament, an arithmetical formula for the future distribution of seats.

Reform of the vote weighting in the Council

If the apportionment of seats in the Parliament is to become more proportional it follows that the weighting of votes in the second chamber of the legislature needs also to be reviewed. The entry into force of the Lisbon system from 1 November 2014 – that is, a Qualified Majority Vote formed of 55% of states representing 65% of the population – favours both the larger states (in terms of population) and the smaller states (in terms of the number of states needed to reach a majority). The middling size states, therefore, which stand to lose their over-weight in the Parliament under CamCom, should seek a further reform of the voting system in the Council.

This calls for the resurrection of the scheme based on the square root of population that accords voting power in degressive proportion to size. A scheme from academics in Cracow, named the Jagiellonian Compromise (JagCom), was submitted to the European Constitutional Convention in 2004, but not taken up (see also Pukelsheim 2014). It deserves to be considered again. A combination of CamCom and JagCom would adjust the balance of power between the states in the Union’s legislature in an equitable, transparent and durable manner.

A new European Convention

The European Parliament has long since passed the point when it was merely an aggregation of the different national parliamentary cultures of the states. In the last decade, it has survived the shock of enlargement, become a credible and efficient legislator and made itself an indispensable player in the constitutional evolution of the Union. Internally Parliament has been an innovator. What it lacks is an affinity with the people it exists to serve, which leads to some doubts about its democratic legitimacy and symptoms of a mid-life identity crisis. Electoral reform will do wonders for Parliament’s public profile and self-confidence.

The reform of the electoral law, the system of seat apportionment in the Parliament and voting weights in the Council are matters of EU primary law. This means a revision of the Treaty of Lisbon which can only be done within a new Convention. Other important constitutional developments are pending, notably the completion of fiscal union and a settlement of the British problem. But this time round, Parliamentary reform must find a central place on the Convention agenda.

Andrew Duff (@AndrewDuffEU) was a Member of the European Parliament from 1999 to 2014 and President of the Union of European Federalists from 2008 to 2013. As an MEP, he was a founding member of the Spinelli Group and rapporteur for the report on a proposal for a modification of the Direct Elections Act, which became widely known as the “Duff Report”. In January 2015, his new book Pandora, Penelope, Polity: How to Change the European Union was published by John Harper.

If you could freely design the electoral system of the European Parliament, what should it look like?

1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnational lists and two compromises for the European electoral system in 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding

Images: By helsinki51 [CC BY-NC-SA 2.0], via Flickr; by Diliff (Own work) [CC BY-SA 3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons.

02 Februar 2015

Eine Woche Syriza: Wie die griechische Regierung ihre EU-Partner in Aufregung versetzt und was das für die europäische Demokratie bedeutet

Wer fürchtet sich vor Alexis Tsipras?
Nun ist es also so weit: Seit einer Woche regiert in Griechenland Alexis Tsipras mit seiner Partei Syriza (EL). Die Europäische Linke konnte damit ihr schon mehrere Monate andauerndes europaweites Umfrage-Hoch in einen konkreten Wahlerfolg ummünzen und stellt erstmals seit der Abwahl des Zyprers Dimitris Christophias 2013 wieder in einem EU-Mitgliedstaat den Regierungschef. Doch während Christophiasʼ einst kommunistische Partei AKEL schon lange zum zyprischen Establishment gehört und über die Jahre hinweg zunehmend sozialdemokratische Positionen entwickelt hatte, gibt sich die griechische Syriza jung, wild und konfliktfreudig: Immerhin verdankt sie ihre Erfolge vor allem der Verdrossenheit vieler Griechen über die alten nationalen Eliten und über die Bedingungen, die die übrigen EU-Regierungen dem Land für die Rettungskredite in der Eurokrise auferlegt haben. Und so gelang es Syriza, dem Rest der EU in den wenigen Tagen seit der Wahl gleich drei kräftige Schrecken einzujagen.

Erster Schreck: Der Koalitionspartner

Der erste dieser Schrecken war die Auswahl des Koalitionspartners. Dank eines Mehrheitsbonus, den das griechische Wahlsystem für die stärkste Partei vorsieht, fehlen Syriza mit 36,3 Prozent der Stimmen nur zwei Mandate für eine absolute Mehrheit der Sitze. Sie musste sich also unter den fünf Kleinparteien im Parlament einen Koalitionspartner suchen. Dabei schieden die altkommunistische KKE (die Syriza schon seit längerem eine allzu große europapolitische Kompromissbereitschaft vorwirft) und die rechtsextreme XA a priori aus – ebenso wie die einst dominante und nun zusammengeschrumpfte Mitte-Links-Partei PASOK (SPE), die seit 2009 durchgängig an der griechischen Regierung beteiligt war und daher von den Syriza-Wählern eher als Teil des Problems als der Lösung betrachtet wird.

Sehr wohl denkbar war allerdings eine Koalition mit der ebenfalls noch sehr jungen linksliberalen Partei To Potami (die im Europaparlament in der sozialdemokratischen Fraktion sitzt, zuletzt aber vor allem von der europäischen liberalen Partei ALDE unterstützt wurde). Wie Syriza profilierte sich To Potami im Wahlkampf durch eine scharfe Abgrenzung von den bisherigen Regierungsparteien. Zugleich bekannte sie sich allerdings auch zu einem klar proeuropäischen Kurs, der sich nicht gut mit Tsiprasʼ rhetorischer Hardliner-Linie vertrug.

Tsipras hält sich für die Neuverhandlungen den Rücken frei

Stattdessen kam es am Montag nach der Wahl zu einer Koalition zwischen Syriza und der rechtskonservativen ANEL (die im Europäischen Parlament zur ECR-Fraktion gehört, in der unter anderem auch die britischen Tories und die deutsche AfD sitzen). Da die Ablehnung der Sparpolitik so ziemlich das Einzige ist, was die beiden Parteien vereint, ist es derzeit eher zweifelhaft, ob dieses Bündnis tatsächlich für eine ganze Wahlperiode halten wird. Sollte es zu Zerwürfnissen kommen, hat Syriza in To Potami schließlich weiterhin einen alternativen Koalitionspartner.

Dennoch war das Signal, das von der griechischen Regierungsbildung ausging, erst einmal eindeutig: In den anstehenden harten Neuverhandlungen mit den EU-Partnern möchte sich Tsipras auf nationaler Ebene den Rücken freihalten.

Zweiter Schreck: Veto gegen Russland-Sanktionen?

Der zweite Schreck folgte dann am vergangenen Mittwoch: Einen Tag, bevor sich der EU-Außenministerrat traf, um wegen der neuen Entwicklungen in der Ukraine die Sanktionen gegen Russland zu verlängern, erklärten führende Syriza-Politiker ihre Unzufriedenheit mit dieser Politik und deuteten an, dass ihre Regierung ein Veto dagegen einlegen könnte.

Nun sind die engen diplomatischen Beziehungen zwischen Griechenland und Russland grundsätzlich keine Neuigkeit: Der außenpolitische Thinktank European Council on Foreign Relations etwa bezeichnete Griechenland und Zypern schon 2007 als „trojanische Pferde“ Russlands in der EU. In der Ukraine-Krise aber hatte die alte griechische Regierung die Sanktionen der EU bislang immer mitgetragen. Dass Syriza nun eine mögliche Kehrtwende andeutete, löste daher nicht nur verärgerte Reaktionen des EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD/SPE) aus, sondern auch wilde Spekulationen über Tsiprasʼ mögliche Hintergedanken.

Jedes Land kann die anderen erpressen

Am Ende aber war dann alles erst einmal nur halb so wild: Die Syriza-Regierung, erklärte der neue griechische Finanzminister am Donnerstag, wolle gar kein Veto einlegen. Sie sei nur verärgert gewesen, dass man in Brüssel ihre Zustimmung schon vorausgesetzt habe, bevor man überhaupt mir ihr darüber gesprochen habe. Tatsächlich stimmte Griechenland im Rat am selben Abend den neuen Sanktionen zu. Und zuletzt stellte Tsipras noch klar, dass seine Regierung auch nicht an russischen Hilfskrediten interessiert sei.

Und dennoch dürfte auch bei der ominösen Veto-Drohung das Signal an die Regierungen der übrigen EU-Mitgliedstaaten klar sein: In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in verschiedenen anderen Themenfeldern, ist die EU auf Einstimmigkeit angewiesen. Positiv gesprochen führt dieser Konsenszwang dazu, dass keine Regierung mit ihren Kernanliegen einfach übergangen werden kann. Negativ formuliert ist dadurch jedes Land in der Lage, die anderen zu erpressen. Sollten die übrigen Mitgliedstaaten darüber nachgedacht haben, die Syriza-Regierung in wirtschaftspolitischen Belangen einfach zu isolieren und in die Enge zu treiben, so müssten sie sich darauf einstellen, dass es künftig auch bei anderen Themen griechische Blockaden geben könnte.

Dritter Schreck: Rauswurf der Troika

Doch die eigentliche Kernfrage zwischen Griechenland und dem Rest der EU ist natürlich nicht Russland, sondern die Zukunft des griechischen Hilfsprogramms. Schon vor der Wahl hatte dieses Thema große Wellen geschlagen: Auf der einen Seite machte Tsipras im Wahlkampf wieder und wieder deutlich, dass er nicht bereit sei, den Spar- und Reformkurs fortzusetzen, den die übrigen Mitgliedstaaten zur Bedingung für die Auszahlung der Rettungskredite gemacht haben. Auf der anderen Seite lehnten vor allem Vertreter der deutschen Bundesregierung mögliche Nachverhandlungen strikt ab und brachten um den Jahreswechsel sogar das Gespenst eines griechischen Euro-Austritts wieder ins Gespräch.

Nicht gerade entspannter wird die Stimmung noch dadurch, dass Ende Februar das aktuelle Hilfsprogramm für Griechenland ausläuft. Sollte bis dahin keine neue Vereinbarung gefunden werden, wäre Griechenland bankrott. Und nicht nur das: Auch die Europäische Zentralbank akzeptiert griechische Staatsanleihen derzeit nur deshalb als Sicherheit, weil das Land den mit den übrigen EU-Staaten vereinbarten Reformkurs umsetzt. Wenn Griechenland kein „Programmland“ mehr wäre, könnten deshalb auch die griechischen Privatbanken nicht mehr die Staatsanleihen ihres Landes nutzen, um sich bei der EZB zu refinanzieren, und wären dann auf sogenannte Notfall-Liquiditätshilfen durch die nationale Zentralbank Griechenlands angewiesen. Schlimmstenfalls könnte eine katastrophale Pleitewelle die Folge sein.

Ein Weiter-so ist unmöglich geworden

Vor der Wahl wurde deshalb erwartet, dass Syriza sich wenigstens kurzfristig auf eine Verlängerung des aktuellen Reformprogramms einlassen würde, um Zeit für weitere Verhandlungen zu gewinnen. Aber weit gefehlt: Am vergangenen Freitag erklärte die griechische Regierung ihre kategorische Ablehnung gegen jede weitere Zusammenarbeit mit der Troika – also mit jenem umstrittenen Gremium aus EZB, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds, das bis jetzt für die Überwachung des griechischen Reformprogramms zuständig war.

Mit dem Rauswurf der Troika geht Tsipras aufs Ganze: Ein vorübergehendes „Weiter so“, um Zeit für mehr Gespräche zu gewinnen, ist damit unmöglich geworden. Zum entscheidenden Termin dürfte stattdessen der kommende 12. Februar werden. Dann wird sich Tsipras zum ersten Mal mit den anderen europäischen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat treffen – und sollte mit ihnen möglichst sofort zu einem neuen Arrangement gelangen.

Die Tage der Troika sind ohnehin gezählt

Ganz unmöglich freilich ist das nicht. Denn erstens ist an einem plötzlichen Staatsbankrott oder gar einem Euro-Austritt Griechenlands niemandem gelegen, der in Europa irgendeinen politischen Einfluss hat – der Bundesregierung ebenso wenig wie Tsipras, der Mehrheit der griechischen Bevölkerung ebenso wenig wie der Kommission oder der EZB. Zweitens gab es auch vor der griechischen Wahl schon Gespräche, in denen mögliche Kompromisslinien ausgelotet wurden: Denkbar wäre etwa eine „Wachstumsklausel“, mit der die Zinsen für die bestehenden griechischen Kredite an das künftige Wirtschaftswachstum des Landes gekoppelt würden. Zuletzt gab auch die griechische Regierung noch einmal zu verstehen, dass das Nein zur Troika keine grundsätzliche Absage an ein neues Reformprogramm sei.

Und schließlich scheinen die Tage der Troika ohnehin gezählt, seitdem Mitte Januar der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs in einem Gutachten die Beteiligung der Europäischen Zentralbank daran unter bestimmten Umständen für europarechtswidrig ansah. Dieses Gutachten ist zwar kein rechtskräftiges Urteil und hat auch nicht unmittelbar mit der jetzigen Situation in Griechenland zu tun. Es führte aber dazu, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) der Troika schon vor zwei Wochen „keine glänzende Zukunft“ voraussagte. Inzwischen sieht es sogar bereits danach aus, dass die Kommission aktiv nach Alternativen sucht.

Diplomatisches Feiglingsspiel

In den letzten Tagen machte die EU in Sachen Griechenland also eine emotionale Achterbahnfahrt durch: Auf jeden der drei Schrecken folgte ein Moment der Erleichterung, auf jede rhetorische Drohung ein Signal der Kompromissbereitschaft. Dieser Holperkurs liegt zum Teil wohl an der fehlenden Regierungserfahrung der Syriza-Politiker, die noch vor zehn Tagen im Wahlkampf waren und nun Schwierigkeiten haben, den richtigen Ton zu finden. Hinzu kommt, dass Syriza als Mitglied der Europäischen Linkspartei noch kaum über etablierte Gesprächskanäle zu der informellen Großen Koalition aus EVP, SPE und ALDE verfügt, die die EU-Institutionen dominiert. Und schließlich mag es ein wenig auch ein Problem der internationalen Medien sein, denen in der Aufregung immer wieder bestimmte Nuancen in den Positionen von Syriza entgangen sind.

Der eigentliche Grund dafür, dass die Griechenland-Frage zuletzt so hohe Wellen geschlagen hat, dürfte aber ein anderer sein: Was die EU in diesen Tagen erlebt, ist eine erneute Auflage des Feiglingsspiels, das so viele diplomatische Verhandlungen prägt. Sowohl Griechenland als auch den übrigen EU-Staaten ist sehr an einer erfolgreichen Kompromisslösung gelegen – aber jede Seite hofft, dass die andere etwas früher nachgeben wird, und so testen sie beide aus, wie weit sie einander unter Druck setzen können.

In der Währungsunion geht Demokratie nur noch überstaatlich

Beide Seiten haben dabei starke Argumente für sich: Die Kreditgeber können darauf pochen, dass man das vereinbarte Reformprogramm nicht einfach einseitig aufkündigen kann und dass (in den Worten von EVP-Fraktionschef Manfred Weber) die europäischen Steuerzahler nicht für Tsiprasʼ nationale Wahlversprechen bezahlen wollen. Umgekehrt kann die griechische Regierung darauf verweisen, dass sie eben erst von ihren Wählern ein klares Mandat bekommen hat. Wie Tsipras vor kurzem in einem Gastbeitrag für die Financial Times schrieb: „Austerität ist nicht Teil der EU-Verträge, Demokratie und Volkssouveränität schon.“

Am Ende zeigt das Griechenland-Problem deshalb nur wieder einmal, was in diesem Blog schon öfters thematisiert wurde: In einer Währungsunion, in der alle Staaten voneinander abhängig sind, kann eine nur nationale Demokratie nicht mehr funktionieren. Eine wirtschaftspolitische Gängelung Griechenlands durch die Kreditgeber ist ebenso wenig demokratisch wie die Idee, dass die griechischen Wähler nach Belieben das Geld ausländischer Steuerzahler ausgeben könnten.

Wenn die Wirtschaftspolitik in der EU aber nur noch gemeinsam festgelegt werden kann, dann sollte darüber auch gemeinsam entschieden werden. Kurzfristig wird uns deshalb nichts anderes übrigbleiben, als zu hoffen, dass sich Tsipras und die anderen Regierungschefs in ihrem Feiglingsspiel noch rechtzeitig auf einen Kompromiss einigen. Langfristig aber darf die Zukunft des Kontinents nicht mehr vom Ausgang einzelner nationaler Parlamentswahlen abhängen. Es gibt ein Europäisches Parlament, das die europäische Bevölkerung alle fünf Jahre gemeinsam wählt – hier, und nicht im Europäischen Rat, müssen die Fragen entschieden werden, in denen kein Mitgliedstaat mehr ohne die anderen kann.

Bild: By FrangiscoDer (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons.