28 Juli 2015

Wahl des UN-Generalsekretärs: Wer ist für ein besseres Verfahren?

Die Debatte, wie der nächste UN-Generalsekretär gewählt werden soll, ist in vollem Gange. Wo stehen die Mitgliedstaaten?
Noch gut ein Jahr, dann ist es wieder einmal so weit – 2016 wird der neue UN-Generalsekretär gewählt. Es ist das höchstrangige Amt, das die Weltgemeinschaft zu vergeben hat, und zugleich eines mit sehr besonderem Charakter: Es verbindet geringe formale Macht mit einem enormen politischen Einfluss. Umso wichtiger für seine Ausgestaltung ist die Persönlichkeit des Amtsträgers selbst. Während einige frühere Generalsekretäre wie Dag Hammarskjöld (1953-61) oder Kofi Annan (1997-2006) wichtige weltpolitische Veränderungen anstießen, blieben andere wie Kurt Waldheim (1972-81) oder Ban Ki-moon (seit 2007) eher passiv und farblos. Bei der Wahl im kommenden Jahr geht es also nicht nur darum, wer künftig den Beamtenapparat am East River leitet, sondern auch darum, welche Rolle die UNO in den nächsten Jahren spielt.

Forderungen nach einem besseren Wahlverfahren

Wie aber findet man den besten UN-Chef? Bislang lief das Verfahren stets so, dass der UN-Sicherheitsrat einen Kandidaten nominierte, der dann von der Generalversammlung mit Zweidrittelmehrheit ernannt wurde. Für den Nominierungsprozess selbst gibt es jedoch keine formellen Regeln – außer dass die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder (USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien) dabei ein Vetorecht haben. Das Verfahren ist also nicht nur überaus intransparent, sondern ballt auch sehr viel Macht bei sehr wenigen Staaten.

Da das für den Rest der Welt natürlich frustrierend ist und auch die Legitimität des Generalsekretärs selbst beschädigt, wurden zuletzt immer wieder Forderungen nach einem neuen Ernennungsverfahren laut, über die ich bereits in einem früheren Artikel auf diesem Blog berichtet habe. Vorgeschlagen wurden unter anderem:

● ein klarer Zeitplan und eine öffentliche Bekanntgabe der Kandidaten, die sich auf das Amt bewerben,
● öffentliche Anhörungen der Kandidaten vor der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat,
● die Nominierung von zwei oder mehr Kandidaten durch den Sicherheitsrat, sodass die Generalversammlung eine Auswahl zwischen ihnen treffen kann,
● die Begrenzung der Amtszeit des Generalsekretärs auf eine Wahlperiode, um ihn von den Mitgliedstaaten unabhängiger zu machen.

Darüber hinaus gibt es auch noch spezifischere Wünsche an das Profil des neuen Generalsekretärs. Zum einen ist die Forderung weit verbreitet, dass nach acht Männern nun erstmals auch eine Frau für das Amt ernannt wird. Zum anderen ist es in den Vereinten Nationen üblich, dass wichtige Posten zwischen den verschiedenen Weltregionen rotieren – und da Osteuropa als einzige regionale Gruppe noch niemals den Generalsekretär gestellt hat, wäre nun ein osteuropäischer Kandidat an der Reihe. Welche Namen dabei in Frage kämen, habe ich hier ebenfalls schon in einem früheren Artikel behandelt.

Von der Zivilgesellschaft zu den offiziellen UN-Gremien

Träger diese Reformforderungen waren zunächst vor allem zivilgesellschaftliche Akteure. So wurde die Debatte über das Wahlverfahren vor allem durch die Kampagne 1for7billion vorangetrieben, hinter der insbesondere das World Federalist Movement, die britische United Nations Association UK, das Netzwerk Avaaz sowie das New Yorker Büro der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung stehen. Daneben machen sich auch The Elders, eine einst von Nelson Mandela ins Leben gerufene und nun von Kofi Annan geleitete Gruppe ehemaliger Spitzenpolitiker, für ganz ähnliche Reformen stark. Für die Ernennung einer weiblichen Generalsekretärin schließlich gibt es eine eigenständige Campaign to Elect a Woman UNSG.

Seit einigen Monaten hat die Debatte jedoch den Raum des bloßen zivilgesellschaftlichen Aktivismus verlassen und auch die offiziellen Gremien der Vereinten Nationen erreicht. So diskutierte im März und April die Ad Hoc Working Group on the revitalization of the work of the General Assembly (eine Arbeitsgruppe der Generalversammlung) in mehreren Sitzungen über das Wahlverfahren des Generalsekretärs. Und am vergangenen Mittwoch erreichte sie schließlich erstmals auch den UN-Sicherheitsrat.

Machtverschiebung vom Sicherheitsrat zur Generalversammlung

Dass die Debatte auf diese Weise den politischen Raum erreicht, zwingt die nationalen Regierungen dazu, sich zu positionieren, und ermöglicht dadurch auch der Öffentlichkeit ein klareres Bild. Wie stehen die einzelnen UN-Mitgliedstaaten zu den Vorschlägen für ein transparenteres und inklusiveres Wahlverfahren des Generalsekretärs? Welche Länder und Ländergruppen nehmen bei der Reform eine Führungsrolle ein, welche bremsen?

Auf dem Blog Global Memo, das die Ernennungsverfahren von UN-Spitzenbeamten in den Blick nimmt, findet sich seit einigen Tagen eine detaillierte Übersicht über die Positionen sämtlicher nationalen Regierungen, die bereits zu dem Thema Stellung bezogen haben. (Update: Inzwischen findet sich eine ähnliche Übersicht auch auf der Website von 1for7billion selbst.) Generell ist der Frontverlauf dabei klar: Die Reformvorschläge für das Wahlverfahren des Generalsekretärs würden vor allem den Spielraum der Vetomächte im Sicherheitsrat reduzieren und einen Teil seiner politischen Macht auf die Generalversammlung verlagern. Wenig überraschend geht die größte Unterstützung für die Reform deshalb von den Regierungen kleinerer und mittlerer Mitgliedstaaten aus, die am stärksten durch die Machtkonzentration bei den Großmächten benachteiligt sind.

ACT-Gruppe: mehr Transparenz im Verfahren

Eine Führungsrolle übernimmt dabei die sogenannte ACT-Gruppe, die 2013 auf Initiative der Schweizer Regierung gegründet wurde und derzeit 27 kleine und mittelgroße Staaten auf verschiedenen Kontinenten (allerdings fast zur Hälfte aus Europa) umfasst. Ihr Ziel ist eine Reform der Arbeitsweise des UN-Sicherheitsrats, um mehr Transparenz zu schaffen und die Ausübung von Vetorechten zu reduzieren. Entsprechend steht der Name der Gruppe als Kürzel für Accountability, Coherence, Transparency“ – Verantwortlichkeit, Kohärenz, Transparenz.

Was die Wahl des UN-Generalsekretärs betrifft, unterstützt die ACT-Gruppe zentrale Forderungen der 1for7billion-Kampagne. Anfang Juni veröffentlichte sie einen Vorschlag, in dem sie sich unter anderem für ein nachvollziehbares Nominierungsverfahren mit festen Fristen, einer öffentlichen Vorstellung der Kandidaten vor der Generalversammlung sowie informellen, nicht-öffentlichen Anhörungen im Sicherheitsrat einsetzt.

Die Blockfreien: Auswahl für die Generalversammlung

Ebenfalls eine prominente Rolle spielt zudem die Bewegung der blockfreien Staaten. Dieses im Kalten Krieg entstandene Bündnis umfasst Entwicklungs- und Schwellenländer in fast ganz Afrika, Süd- und Südostasien sowie große Teile Lateinamerikas. Insgesamt gehören ihm 120 Mitglieder an, fast zwei Drittel der gesamten Vereinten Nationen.

Bei einheitlicher Abstimmungsweise könnten die Blockfreien also die UN-Generalversammlung dominieren, während sie im Sicherheitsrat derzeit nur eine Minderheit der Mitglieder stellen. Dementsprechend legen sie noch mehr als die ACT-Gruppe Wert darauf, die eigentliche Entscheidung in die Generalversammlung zu verlagern, und fordern, der Sicherheitsrat solle mehrere Kandidaten nominieren, unter denen die Generalversammlung eine Auswahl treffen kann.

Gruppen für eine Frau und für Osteuropa

Darüber hinaus gibt es noch die Group of Friends in favor of a Woman for Secretary-General of the United Nations, in der sich 42 Regierungen für eine weibliche Kandidatin stark machen. Die Gruppe wurde von Kolumbien initiiert und umfasst neben zahlreichen lateinamerikanischen Staaten auch einige ökonomische und demografische Schwergewichte wie Deutschland, Japan oder Pakistan. Kein Mitglied der Gruppe, aber ebenfalls ausdrücklich für die Ernennung einer weiblichen Kandidatin sind zudem Frankreich und Großbritannien.

Und natürlich ist auch die osteuropäische Regionalgruppe aktiv, die Ende 2014 das Amt sehr entschieden für sich reklamierte. Unterstützung findet sie dabei unter anderem bei Brasilien und Deutschland. Und auch die ACT-Gruppe, die blockfreien Staaten und verschiedene andere Regierungen sprechen sich generell dafür aus, bei der Ernennung auf Geschlechtergleichheit zu achten und das Prinzip der regionalen Rotation beizubehalten – was dafür spräche, für die Nachfolge von Ban Ki-moon eine Frau aus Osteuropa zu wählen.

Die fünf Vetomächte

Wie aber positionieren sich die fünf Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, die das Ernennungsverfahren des Generalsekretärs bisher dominiert haben? Wie zu erwarten ist, hält sich die Begeisterung über die Reformvorschläge hier in engen Grenzen. Bemerkenswert aufgeschlossen zeigt sich nur die britische Regierung, die ein transparentes Verfahren mit öffentlichen Anhörungen und einem klaren Zeitplan unterstützt und damit recht nahe an der ACT-Gruppe steht. Auch das regionale Rotationsprinzip möchte Großbritannien beenden: Wenn die Osteuropäer das Amt haben wollten, liege es an ihnen selbst, den „besten Kandidaten“ dafür zu präsentieren.

Allerdings ist Großbritannien dagegen, der Generalversammlung mehrere Kandidaten vorzuschlagen, wie es die blockfreien Staaten fordern: Die eigentliche Entscheidung soll nach wie vor im Sicherheitsrat erfolgen. Eine ähnlich defensive Haltung nimmt auch Frankreich ein, das offenbar befürchtet, die Nominierung mehrerer Kandidaten könnte zu Konflikten zwischen den Regionalgruppen in der Generalversammlung führen.

Mehr oder weniger offen ablehnend positionieren sich schließlich die drei übrigen Vetomächte China, Russland und USA. Vor allem für die beiden Letzteren gehen schon die Forderungen nach öffentlichen Anhörungen oder einem festen Zeitplan für die Ernennung des Generalsekretärs zu weit. Stattdessen beharren sie auf dem Status quo, der ihnen selbst den größten Einfluss auf die Kandidatenauswahl gibt.

Vetomächte können nicht allein gegen den Rest der Welt agieren

Und wie geht es nun weiter? Die Erfahrung mit früheren UN-Reformvorschlägen lässt wenig Optimismus zu: Am Ende verteidigen meist die Vetomächte ihre Interessen. Allerdings braucht der Generalsekretär für seine Wahl eben auch eine Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung. Völlig ignorieren können die USA und Russland die anderen Mitgliedstaaten also nicht. Falls der Sicherheitsrat zuletzt tatsächlich nur einen einzelnen Kandidaten nominiert und das womöglich auch noch ein Mann ist, könnte dieser an den Stimmen der Blockfreien scheitern.

Zudem können auf die Dauer auch die Großmächte kein Interesse daran haben, in solchen zentralen institutionellen Fragen gegen den kompletten Rest der Welt zu agieren. Sie delegitimieren damit ja nicht nur die Vereinten Nationen als Organisation, sondern machen auch sich selbst unbeliebt. Weiterhin dürfte deshalb viel davon abhängen, wie viel Druck gerade die mittelgroßen Industrie- und Schwellenländer aufbauen, auf deren diplomatische Unterstützung die Vetomächte in anderen wichtigen weltpolitischen Verfahren angewiesen sind.

Die großen EU-Länder wie Deutschland bleiben passiv

Tatsächlich sind einige wichtige Schwellenländer wie Indien oder Südafrika ohnehin führende Mitglieder in der Blockfreien-Bewegung; andere wie Chile und Saudi-Arabien gehören auch der ACT-Gruppe an. Mehrere größere aufstrebende Staaten sind zudem auch auf eigene Faust besonders aktiv: So wollen Indonesien und Mexiko das Vetorecht im Sicherheitsrat abschaffen, wenn dieser über die Nominierung von Amtsträgern abstimmt, und Brasilien macht sich dafür stark, die Amtszeit des Generalsekretär auf eine Wahlperiode zu begrenzen.

Umso enttäuschender ist freilich, wie wenig die EU-Mitgliedstaaten ihren diplomatischen Einfluss in dieser Sache bislang zur Geltung bringen – sieht man einmal von zehn kleineren Ländern (darunter Österreich) ab, die in der ACT-Gruppe aktiv sind. Die größeren Staaten hingegen blieben bis auf Großbritannien und Frankreich bislang völlig passiv: Die deutsche Bundesregierung etwa unterstützt zwar die Kandidatur einer osteuropäischen Frau, bezieht aber keinerlei Stellung zur Reform des Verfahrens.

Woher kommt die deutsche Gleichgültigkeit?

Woher kommt diese Gleichgültigkeit? Ein Grund mag sein, dass Deutschland nach wie vor anstrebt, eines Tages selbst einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu übernehmen – was ohne die Unterstützung der USA und Russlands nicht möglich sein wird. Gerade im Vergleich mit Großbritannien ist die Bundesregierung in dieser Frage aber auch kaum Druck aus der Öffentlichkeit ausgesetzt: Zum einen berichten englischsprachige Medien wie der Guardian deutlich häufiger als deutsche über das Ernennungsverfahren des UN-Generalsekretärs. Zum anderen ist in Großbritannien auch die Zivilgesellschaft aktiver: Während die United Nations Association UK zu den Initiatoren der 1for7billion-Kampagne gehört, findet man auf der Homepage ihres deutschen Pendants, der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), nicht einmal Informationen zu dem Thema.

Und damit kehrt die Debatte aus den offiziellen Gremien der Vereinten Nationen zuletzt wieder zu uns Bürgern zurück. 2016 wird der neue UN-Generalsekretär gewählt, das höchstrangige Amt, das die Weltgemeinschaft zu vergeben hat, und die halbe Welt ruft nach einer institutionellen Reform, um die Entscheidung darüber transparenter und inklusiver zu machen. Es liegt an uns selbst zu entscheiden, ob wir das wichtig finden.

21 Juli 2015

Große Koalition und linke Aufsteiger: Die europäischen Parteien in der Griechenland-Krise

Sergej Stanishev, Präsident der Sozialdemokratischen Partei Europas, hat auch eine Meinung zum Grexit.
Dass sich die Griechenland-Krise, die die europäische Währungsunion derzeit durchlebt, am besten als eine parteipolitische Frage verstehen lässt, habe ich auf diesem Blog bereits mehrfach geschrieben. In ihrer Berichterstattung konzentrieren sich die europäischen Medien zwar vor allem auf die nationalen Interessen der beteiligten Regierungen und sparen dabei auch nicht an Stereotypen über faule Südländer und herrschsüchtige Deutsche. Doch auf die interessantere Frage, wie die (griechische und europäische) Wirtschafts- und Schuldenkrise am besten überwunden werden kann, gibt es keine nationalen Antworten. Wenn eine produktive Auseinandersetzung über unterschiedliche Lösungsansätze stattfindet, dann zwischen den europäischen Parteien.

Und darum kann es helfen, den Blick einmal von der deutschen, französischen und griechischen Regierung zu lösen und ihn stattdessen auf die Europäische Volkspartei (EVP), die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) und die Partei der Europäischen Linken (EL) zu richten.

Die europäische Große Koalition

Seitdem es die Europäische Union gibt, ist ihre Politik von einer „informellen Großen Koalition“ geprägt. Dies liegt vor allem an einer Reihe von Verfahrensmechanismen, die sicherstellen sollen, dass kein einzelner Akteur im Alleingang seine Interessen durchsetzen kann. Beschlüsse sind in der EU meist nur möglich, wenn es dafür eine breite, parteien-, länder- und institutionenübergreifende Mehrheit gibt – und das bedeutet in der Regel eine Zusammenarbeit der beiden größten Parteien EVP und SPE, oft erweitert um die liberale ALDE.

Andere Parteien, zum Beispiel die nationalkonservative AEKR, die grüne EGP oder die linke EL, werden in die europäische Entscheidungsfindung zwar bisweilen einbezogen, sind aber deutlich weniger einflussreich. Auch politische Wahlen auf nationaler oder europäischer Ebene konnten an dieser informellen Großen Koalition bislang kaum etwas ändern. Allenfalls brachten sie gewisse Verschiebungen im Kräftegleichgewicht zwischen den beiden großen Parteien. Ein Ende der europäischen Großen Koalition ist aber nahezu unmöglich, da strukturell eben nur EVP und SPE in der Lage sind, gemeinsam in allen europäischen Institutionen die notwendigen politischen Mehrheiten zu sichern.

Eine liberalkonservative Krisenpolitik

In den ersten Jahren der Eurokrise nun war innerhalb der Großen Koalition die EVP die klar dominierende Partei. Sie stellte seit 1999 die größte Fraktion im Europäischen Parlament, seit 2004 den Präsidenten der Europäischen Kommission, seit 2009 den Präsidenten des Europäischen Rates und regierte seit 2005 in den beiden größten EU-Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich. Entsprechend waren auch die Strategien zur Bekämpfung der Eurokrise vor allem liberalkonservativ geprägt: Eine Kombination aus Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten und Strukturreformen zur Liberalisierung der Wirtschaft sollte das Vertrauen der Investoren wiederherstellen und dadurch das Wachstum zurückbringen.

Zum Gesicht dieser Politik wurden neben dem damaligen liberalen Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ALDE) vor allem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU/EVP). Doch auch die europäischen Sozialdemokraten trugen diese Politik mit – teils aus Überzeugung (immerhin hatte der Merkels sozialdemokratischer Vorgänger Gerhard Schröder in den Jahren vor der Krise in Deutschland eine ganz ähnliche Politik verfolgt), teils weil sie angesichts der dominanten Position der EVP ohnehin keine durchsetzbaren Alternativen sahen.

In der Folge wurden die Mitgliedsparteien der SPE allerdings zum ersten großen politischen Verlierer der Krise: Vor allem in den meistbetroffenen Staaten wandten sich ihre Wähler unzufrieden ab, sodass 2011 mehrere sozialdemokratische Regierungen stürzten und die EVP in kurzer Zeit die nationalen Wahlen in Portugal, Spanien und Griechenland gewann. Auf dem Höhepunkt ihrer institutionellen Macht waren die Christdemokraten Ende 2011 an 22 der damals 27 EU-Regierungen beteiligt; in 17 Fällen stellten sie den Regierungschef. Innerhalb der Eurozone war die EVP nur in Zypern und Slowenien in der Opposition.

Wahlniederlagen der EVP

Allerdings führte die von der EVP vorgegebene Politik nicht zu einer raschen Überwindung der Krise. Die akute Angst vor einem Zerfall der Währungsunion wurde im Sommer 2012 vor allem durch die Europäische Zentralbank beendet, doch die forcierte Sparpolitik verhinderte einen schnellen wirtschaftlichen Wiederaufschwung. 2013 erreichte die Arbeitslosigkeit in der Eurozone den Rekordwert von 12,0 Prozent; in Griechenland und Spanien stieg sie im selben Jahr sogar auf über 25 Prozent.

In der Folge wuchs auch unter den europäischen Bürgern die Unzufriedenheit mit der Krisenpolitik – und mit der EVP, die sie dafür verantwortlich machten. Bei den nationalen Wahlen in Frankreich 2012 und Italien 2013 erlitten die Christdemokraten empfindliche Niederlagen; heute sind sie nur noch in 17 der 28 Mitgliedstaaten an der Regierung beteiligt und stellen 10 Regierungschefs. Bei der Europawahl 2014 schließlich verlor die EVP fast ein Fünftel ihrer Sitze und gewann erstmals seit zwanzig Jahren europaweit weniger Stimmen als die Sozialdemokraten. Und auch die liberale ALDE stürzte ab und landete (zum ersten Mal seit 1984) hinter den Nationalkonservativen nur auf dem vierten Platz.

Trotz dieser Verluste stellte die EVP dank einiger Besonderheiten im Europawahlrecht jedoch auch 2014 noch einmal die stärkste Fraktion des Europäischen Parlaments. Ihr Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) wurde Kommissionspräsident, und mit Donald Tusk (PO/EVP) stellt sie weiterhin auch den Präsidenten des Europäischen Rates. Für die SPE hingegen blieben nur weniger prominente Ämter: Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD/SPE), Außenbeauftragte Federica Mogherini (PD/SPE) und Eurogruppen-Präsident Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE).

Aufstieg der Europäischen Linkspartei

Eigentlicher politischer Profiteur dieser Krise der großen Parteien aber war die Europäische Linke. Verglichen mit den Erfolgen des Eurokommunismus in den 70er Jahren hatten die Parteien links der Sozialdemokratie nach dem Ende des Kalten Krieges stark an Bedeutung verloren. In der Krise gelang es der EL jedoch, sich als Hauptkritiker der angeblich „alternativlosen“ Austeritätspolitik der Großen Koalition zu profilieren. Bei der Europawahl 2014 legte die linke GUE/NGL-Fraktion deshalb von 35 auf 52 Sitze zu, und auch danach setzte sich ihr Popularitätsgewinn weiter fort: Wenn heute Europawahl wäre, käme sie den Umfragen zufolge sogar auf 61 Mandate.

Die größten Erfolge erzielte die Linke dabei in den Ländern, in denen die Arbeitslosenquote infolge der Krise am stärksten gestiegen war: In Spanien etablierte sich die neu gegründete Partei Podemos auf Augenhöhe mit den Christ- und Sozialdemokraten; in Griechenland übernahm Syriza Anfang 2015 sogar die Regierung. Alexis Tsipras war damit zwar nicht der erste linke Regierungschef in der EU; in Zypern hatte bereits von 2008 bis 2013 die EL-nahe AKEL regiert. Er war jedoch der Erste, der seine Wahl durch eine explizite Kampfansage an die europäische Große Koalition gewann und entgegen einer klaren Parteinahme des EU-Kommissionspräsidenten Juncker.

Die Linke sucht nach einer machtpolitischen Strategie

Trotz dieser Zugewinne blieb die EL aber europaweit nur eine kleinere Partei: bestenfalls auf der Höhe von ALDE und AEKR, nicht aber von EVP und SPE. Mit der Regierungsübernahme in Griechenland stellte sich für sie deshalb die Frage, wie sie echten Einfluss auf die europäische Krisenpolitik nehmen könnte. Tsipras setzte vor allem auf den Versuch, die übrigen Euro-Staaten unter Druck zu setzen – sei es mit angedeuteten Vetodrohungen in der gemeinsamen Außenpolitik oder auch mit dem Referendum vom 5. Juli, das nicht zuletzt als eine Demonstration seines Rückhalts in der Bevölkerung dienen sollte.

Letztlich aber zog der griechische Ministerpräsident dabei den Kürzeren und musste schließlich in den Verhandlungen mit den anderen Regierungschefs nachgeben. Als Hauptschwäche der Linken erwies sich, dass sie außer in Griechenland an keiner weiteren nationalen Regierung beteiligt ist (lediglich in Schweden toleriert sie ein rot-grünes Minderheitskabinett). Tsiprasʼ Hoffnung liegt deshalb inzwischen vor allem auf den Wahlen in Spanien und Portugal Ende dieses Jahres, wo Podemos und die portugiesische Linkspartei CDU für die Mehrheitsbildung entscheidend werden könnten. Sobald die Linke erst einmal in genügend Mitgliedstaaten mitregiert, so die Idee, könnte ihr Kampf gegen die Austeritätspolitik auch auf europäischer Ebene erfolgreich sein.

Harte Linie der EVP

Wie aber reagieren die anderen Parteien auf die Herausforderung der Linken? Interessanterweise zeigten sich schon in den Wahlprogrammen vor der Europawahl 2014 klare Unterschiede zwischen ihren wirtschaftspolitischen Strategien. Während EVP und ALDE weiterhin vor allem auf ein unternehmerfreundliches Klima, weniger Staatsausgaben und eine strikte Kontrolle der öffentlichen Defizite setzten, machten sich SPE und Grüne eher für öffentliche Investitionen stark, für die sie den Mitgliedstaaten auch mehr haushaltspolitische Spielräume zugestehen wollten. Auch wenn sie dabei hinter den radikaleren Forderungen der EL zurückblieben, begannen sich die Sozialdemokraten also von dem harten Sparkurs zu distanzieren, den sie in den Jahren zuvor in vielen Mitgliedstaaten noch mitgetragen hatten.

Und auch in der aktuellen Griechenland-Krise zeigten sich nun noch einmal deutliche – inhaltliche wie strategische – Differenzen zwischen den großen Parteien. So vermeidet die EVP jegliches Eingeständnis von Fehlern und setzt weiterhin vor allem auf die „alternativlose“ Austeritätspolitik. Die Frankfurter Allgemeine etwa zitierte jüngst Ratspräsident Tusk (PO/EVP) mit der Warnung vor der „Illusion […], es gebe eine Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem, ohne Sparpolitik und Einschränkungen“. Zugleich verweisen EVP-Politiker oft darauf, dass sich die wirtschaftliche Lage in den Krisenstaaten in den letzten beiden Jahren schließlich leicht gebessert habe.

Gegenüber Alexis Tsipras wiederum verfolgt die EVP eine sehr harte Linie. Parteipräsident Joseph Daul warf der griechischen Regierung nach dem Referendum vom 5. Juli „reckless political games“ vor; bei anderen Christdemokraten war die Wortwahl noch drastischer. Höhepunkt dieser Kritik waren die Vorschläge für einen griechischen Euro-Austritt, die zahlreiche Christdemokraten mehr oder weniger unverhohlen vorbrachten: besonders prominent Wolfgang Schäuble und Alain Juppé, etwas weniger eindeutig Alexander Stubb und Nicolas Sarkozy. Auch wenn die wohl einflussreichste EVP-Politikerin, Angela Merkel, zuletzt ein Ende dieser Grexit-Debatte forderte, wurde darin doch die Überzeugung vieler Christdemokraten deutlich, dass es eine Politik, wie sie die linke Tsipras-Regierung betreibt, in der Eurozone eigentlich gar nicht geben dürfte.

Die SPE fordert ein Ende der Sparpolitik

Die SPE hingegen zeigt sich demgegenüber deutlich kompromissbereiter. Im Wahlkampf vor dem griechischen Referendum gab es zwar auch von sozialdemokratischer Seite einige Angriffe gegen die Tsipras-Regierung (etwa durch Martin Schulz oder Jeroen Dijsselbloem). Nach der Abstimmung jedoch suchte die SPE anders als die EVP rasch eine Solidarisierung mit den griechischen Nein-Stimmenden: SPE-Präsident Sergej Stanishev verwies darauf, dass die SPE ebenfalls schon seit Jahren gegen die „harsh austerity-only policies of the conservatives“ sei, und schloss einen Grexit als Lösung kategorisch aus. Auch die wichtigsten nationalen SPE-Politiker wie Matteo Renzi, François Hollande und Jean-Christophe Cambadélis vertraten eine ähnliche Linie – mit Ausnahme von Sigmar Gabriel, der dafür allerdings auch von seiner eigenen nationalen Partei heftig kritisiert wurde und daher rasch zurückruderte.

Inhaltlich verfolgt die SPE inzwischen mehrheitlich offenbar einen Kurs, der zwischen (wünschenswerten) Strukturreformen und (abzulehnenden) Sparmaßnahmen unterscheidet. Eine scharfe Distanzierung von der EL vermeidet die Partei dabei; ein Artikel auf ihrer Homepage betont die demokratische Legitimation der Syriza, die „the only hope for legitimacy in Greece“ sei. Wie weit die SPE bei dieser Abkehr von der Austeritätspolitik genau gehen will, ist bislang allerdings unklar. Trotz aller Kritik an der EVP scheinen auch die Sozialdemokraten die informelle Große Koalition, die bislang die Regierbarkeit der Eurozone sichert, jedenfalls nicht grundsätzlich in Frage zu stellen.

Eine fruchtbare Auseinandersetzung

Im Umgang mit der griechischen Krise zeigen die europäischen Parteien also sehr deutlich unterscheidbare Ansätze – und natürlich ließe sich das Bild noch weiter ausdifferenzieren, wenn man auch die liberale ALDE (die zwischen einem rechten Pro-Grexit- und einem linken, eher investitionsfreundlichen Flügel gespalten scheint), die grüne EGP (die inhaltlich den Sozialdemokraten nahesteht, ohne durch großkoalitionäre Disziplin gebunden zu sein) oder die Nationalkonservativen (wo der finnische Außenminister Timo Soini ein neues Hilfsprogramm für Griechenland erst kategorisch ausgeschlossen, zuletzt aber eine Kehrtwende vollzogen hat) mit einbezieht.

Umso bedauerlicher ist es, dass in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem nationale Interessen im Vordergrund stehen. Das liegt natürlich daran, dass die Hauptakteure in den Verhandlungen um ein neues Kreditprogramm die nationalen Regierungschefs sind, die sich nur gegenüber ihrer eigenen nationalen Wählerschaft verantworten. Wenn es um unterschiedliche Vorschläge zur Lösung der Eurokrise geht, ist die Auseinandersetzung zwischen den europäischen Parteien jedoch sehr viel fruchtbarer und interessanter. Wir sollten beginnen, diese Debatte endlich auch in der Öffentlichkeit zu führen.

Bild: By Vladimir Petkov (Кой сега е номер 2?) [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons.

13 Juli 2015

Is This A Coup? Die Griechenland-Einigung und die Demokratie

Am Ende hat Alexis Tsipras den Bedingungen der Kreditgeber doch zugestimmt. War das das Ende der griechischen Demokratie?
Erinnern Sie sich noch an den Twitter-Hashtag #StopESM? Inzwischen kaum noch verwendet, erfreute er sich Mitte 2012 vor allem in deutschen nationalkonservativen Kreisen großer Popularität. Gemeint war damit der damals frisch verabschiedete Europäische Stabilitätsmechanismus, der gegen Auflagen Notkredite an Euro-Krisenstaaten vergeben sollte. In den Augen der Kritiker war das ein Verrat an der deutschen Demokratie, da mit dem ESM der Bundestag seine Haushaltsautonomie verliere und damit die nationale Souveränität zerstört werde.

Drei Jahre später haben die Staats- und Regierungschefs der Eurozone sich darauf verständigt, den ESM für Griechenland zum Einsatz zu bringen: ein 86 Milliarden Euro schweres Kreditprogramm im Gegenzug gegen umfassende Spar-, Privatisierungs- und Reformauflagen. Und wieder macht ein Twitter-Hashtag Furore: Unter #ThisIsACoup („Dies ist ein Staatsstreich“) wird den Regierungen der Euro-Staaten – vor allem aber dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP), der in den Verhandlungen mit einem „Grexit auf Zeit“ gedroht hatte – vorgeworfen, die griechische Demokratie zu untergraben und womöglich gezielt einen Regierungswechsel herbeiführen zu wollen. Und anders als vor drei Jahren kommen diese Vorwürfe nicht nur von notorischen Europaskeptikern, sondern auch von einem Wirtschaftsnobelpreisträger wie Paul Krugman oder einem Europaabgeordneten wie Sven Giegold (Grüne/EGP).

Was ist davon zu halten? Sieben Thesen zur Demokratie in der Währungsunion.

1: Die Einigung widerspricht dem griechischen Referendum

Der Grund dafür, dass die demokratische Legitimität der Eurogruppe plötzlich so stark in Frage gestellt wird, hat natürlich mit dem griechischen Referendum vor einer Woche zu tun, bei dem eine deutliche Mehrheit mit Nein stimmte. Wie man dieses Nein deuten sollte, war dabei zwar von Anfang an unklar; technisch ging es darin nur um einen Vorschlag, der schon vor der Abstimmung obsolet geworden war.

Aber auch wenn der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras (Syriza/EL) nun versucht, die Einigung mit den anderen Euro-Staaten als einen Erfolg seiner Regierung zu verkaufen, und auch wenn Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) erklärt, er „glaube nicht, dass das griechische Volk erniedrigt wurde“, drängt sich doch der Eindruck auf, dass die 3,5 Millionen Nein-Stimmenden sich jedenfalls nicht dieses Ergebnis gewünscht haben. Nicht nur in griechischen Medien ist gerade viel von einer „Kapitulation“ des Landes die Rede.

2: Die demokratischen Ansprüche beider Seiten heben sich auf

Wie sich die europäischen Kreditbedingungen mit der griechischen Demokratie vertragen, ist aber schon seit der Wahl der Syriza-Regierung im Januar ein Dauerthema der europapolitischen Debatte. Vor allem Alexis Tsipras selbst machte von Anfang an „Demokratie“ und „Volkssouveränität“ zu zentralen Argumenten, um die Forderungen der Kreditgeber zurückzuweisen: Wenn die Griechen ihn mit dem Wahlversprechen ins Amt brachten, die Austeritätspolitik zu beenden, dann müsse er dieses Wahlversprechen auch umsetzen.

Dagegen verwiesen Politiker aus den anderen Euro-Ländern ebenfalls schon frühzeitig darauf, dass nicht nur Tsipras, sondern auch die übrigen Regierungschefs demokratisch legitimiert seien – und Tsipras kaum den Anspruch erheben könne, seine Wahlversprechen mit dem Geld nicht-griechischer Steuerzahler zu finanzieren. Wenn die übrigen Mitgliedstaaten Griechenland Geld liehen, um damit die Stabilität der Währungsunion zu gewährleisten, dann jedenfalls nur zu ihren eigenen Bedingungen.

Auf die nationale Volkssouveränität und Demokratie zu pochen, hilft erst einmal also nicht weiter: Die Ansprüche der einen und der anderen Seite heben sich gegenseitig auf. Wenn aber alle nationalen Regierungen gleichermaßen demokratisch legitimiert sind, bleibt scheinbar nur eine Lösung – im Europäischen Rat miteinander zu verhandeln.

3: Verhandlungen im Europäischen Rat sind nicht demokratisch

Wie viel politische Legitimität haben Verhandlungen im Europäischen Rat? Diese Frage ist ein alter Streitpunkt zwischen Intergouvernementalisten und supranationalen Föderalisten, zu dem ich hier schon einmal ausführlicher geschrieben habe. Das zentrale Argument der Intergouvernementalisten ist dabei gerade die Legitimationskette, die jede nationale Regierung an den Willen ihrer nationalen Wähler bindet – sodass die Summe aller nationalen Regierungen auch berechtigt sein sollte, die Summe aller europäischen Bürger zu repräsentieren.

Das wichtigste Gegenargument dagegen ist in meinen Augen, dass das Ergebnis von Verhandlungen im Europäischen Rat eben nicht nur davon abhängig ist, wen die einzelnen nationalen Wählerschaften als ihren jeweiligen Vertreter wählen. Ganz wesentlich ist vielmehr auch das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, auf das die Bürger so gut wie keinen Einfluss haben. Entscheidend sind dabei Faktoren wie die wirtschaftliche Stärke oder das Ausmaß der Erpressbarkeit eines Landes – Dinge, die kaum etwas mit Demokratie zu tun haben.

4: Die Regierungen missbrauchen die nationale Demokratie

Betrachtet man den Verlauf der Verhandlungen über die neuen griechischen Kreditbedingungen, konnte man genau das beobachten. Von Anfang an lieferten sich beide Seiten ein beeindruckendes Feiglingsspiel: Während die deutsche Bundesregierung behauptete, einen griechischen Euro-Austritt für „verkraftbar“ zu halten, deutete Tsipras an, sich notfalls eben an Russland zu wenden. In der Spieltheorie bezeichnet man das als Brinkmanship: die strategische Drohung mit dem Zusammenbruch, um dadurch den Verhandlungspartner zum Nachgeben zu bringen.

Umso glaubwürdiger wird diese Drohung, wenn die Akteure (wenigstens scheinbar) die Möglichkeit aus der Hand geben, den Zusammenbruch noch aus eigener Kraft zu verhindern – auch diese Strategie ist in der Spieltheorie gut bekannt. Im Europäischen Rat geschieht dies häufig durch den strategischen Einsatz von Elementen der nationalen Demokratie: So haben mehrere, vor allem nordeuropäische Euro-Staaten – einschließlich Deutschland und Österreich – Regelungen eingeführt, nach denen ihre Regierung eine Auszahlung von ESM-Krediten nur dann bewilligen kann, wenn zuvor auch das nationale Parlament zugestimmt hat. Das stärkt die Position der nationalen Regierung, da sie mögliche Zugeständnisse an andere Mitgliedstaaten immer mit dem Hinweis ablehnen kann, dass sie diese nicht durchs nationale Parlament bringen könnte. Und auch das griechische Referendum von letzter Woche lässt sich wohl im Wesentlichen in diesem Sinne verstehen: Jedenfalls warb Tsipras selbst damit, dass ein Nein die griechische Verhandlungsposition verbessern würde.

Am Ende aber bedeuten solche verhandlungstaktischen Züge aber nicht wirklich mehr Demokratie. Sie bewirken nur eine Stärkung der einen nationalen Regierung gegenüber den anderen, geben aber nicht den europäischen Bürgern insgesamt mehr Einfluss auf das Verhandlungsergebnis. Mehr noch: Demokratische Verfahren auf diese Weise zu missbrauchen, beschädigt letztlich auch das Vertrauen in die Demokratie selbst.

5: Die Einigung führt „national ownership“ ad absurdum

Zu den Schlüsselbegriffen in der Debatte über die europäische Wirtschaftspolitik gehört die „national ownership“ (auf Deutsch oft als „nationale Eigenverantwortung“ übersetzt). Das Wort stammt ursprünglich aus der Entwicklungszusammenarbeit und bezieht sich dort darauf, dass auch von außen finanzierte entwicklungspolitische Maßnahmen immer von den Institutionen des Entwicklungslandes selbst beschlossen werden sollen. Im europäischen Kontext ist damit gemeint, dass die EU ihren Mitgliedstaaten zwar mehr oder weniger detaillierte wirtschaftspolitische Vorgaben macht, die formale Entscheidungshoheit über deren Ausgestaltung jedoch bei den nationalen Parlamenten liegt. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass sich die nationalen Politiker und letztlich die nationalen Öffentlichkeiten auch selbst mit den Maßnahmen identifizieren.

Wie wenig diese Idee der Realität entspricht, ließ sich in der Eurokrise oft genug beobachten. Dass es am Ende stets die nationalen Parlamente der Krisenstaaten waren, die die von den Kreditgebern geforderten Sparmaßnahmen verabschiedeten, führte nicht etwa zu einer höheren demokratischen Legitimation – sondern nur zu einem Akzeptanzverlust und zur Abwahl der jeweiligen Regierungsparteien und zu einer Vernebelung der eigentlichen Verantwortlichkeiten.

In der jüngsten Griechenland-Einigung aber wird die Idee der national ownership vollends ad absurdum geführt: Als Bedingung für weitere Hilfskredite soll das griechische Parlament bestimmte Reformen (unter anderem des Mehrwertsteuer- und des Rentensystems) bis zum kommenden Mittwoch verabschiedet haben – also innerhalb von weniger als 72 Stunden. Auch wenn diese Reformen inhaltlich schon länger diskutiert werden, nimmt eine so kurze Frist den nationalen Parlamentariern natürlich jede reale Mitwirkungsmöglichkeit.

6: „National ownership“ führt zu einem demokratischen Problem

Die kurzen Fristen für die ersten Reformen begründen sich auch mit dem Vertrauensverlust der anderen Mitgliedstaaten. Vor allem die deutsche Bundesregierung brachte dieses Argument in den letzten Tagen immer wieder in die Diskussion: Wie solle man sichergehen, dass die griechische Regierung nach einer Einigung auch wirklich ihre Zusagen einhält? Kann man nach all den Verhandlungstricks und all den Vorwürfen, die Syriza-Politiker gegen die Kreditgeber erhoben haben, wirklich noch daran glauben, dass die griechische Regierung sich voll hinter die vereinbarten Bedingungen stellen wird?

Dieser Mangel an Vertrauen ist nachvollziehbar – immerhin wurde die Syriza ja gerade deshalb gewählt, weil sie den Bürgern ein Ende der Austeritätspolitik versprochen hat. Man wird also kaum erwarten dürfen, dass sie nun mit voller Überzeugung eben diese Austeritätspolitik verteidigt und in der Öffentlichkeit dafür wirbt. Solange man am Konzept der national ownership festhält, führt dies aber zu einem unlösbaren demokratischen Problem: Kann die Währungsunion wirklich nur funktionieren, wenn die Regierungen in allen Mitgliedstaaten dieselben wirtschaftspolitischen Überzeugungen teilen? Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, wenn viele Syriza-Freunde hinter dem Vorgehen der Eurogruppe eine Strategie zum Sturz der Tsipras-Regierung vermuten.

7: Demokratie geht in der Währungsunion nur europäisch

Ist die Einigung, die die Regierungschefs heute Morgen erzielt haben, ein Staatsstreich, der die griechische Demokratie zerstört? Die Wirklichkeit ist banaler, aber nicht weniger dramatisch: Die europäische Währungsunion kann mit rein nationalen demokratischen Verfahren einfach nicht legitimiert werden. Alle Mitgliedstaaten sind darin so stark voneinander abhängig, dass eine eigenständige nationale Wirtschaftspolitik unmöglich geworden ist. Belässt man die formale Zuständigkeit dafür trotzdem auf der nationalen Ebene, dann funktioniert die gemeinsame Währung nur, wenn die nationalen Regierungen auch eine gemeinsame wirtschaftspolitische Linie vertreten. Aber diese „Alternativlosigkeit“ ist unvereinbar mit der demokratischen Grundidee, dass es immer eine Auswahl zwischen verschiedenen politischen Möglichkeiten geben muss.

Auswege aus dieser Situation gibt es drei: Wir können, erstens, in Kauf nehmen, dass ein Land aus dem Euro austreten muss, sobald seine Bürger „falsch“ wählen – das aber wäre bald das Ende der Währungsunion. Wir können, zweitens, darauf setzen, dass die nationalen Regierungen die im Europäischen Rat ausgehandelte Linie auch dann vertreten, wenn das eigentlich ihren Wahlversprechen widerspricht – das aber ist das schleichende Ende der Demokratie. Oder wir verlagern, drittens, die Kompetenz über die Wirtschaftspolitik in der Eurozone auf das Europäische Parlament. Wir würden damit auf eine Fiktion von nationaler Souveränität verzichten, aber dafür bekämen wir die Chance, auf europäischer Ebene die Demokratie zurückzuerlangen.

Is This A Coup? Es ist gut, dass wir endlich in einer breiten Öffentlichkeit über die demokratische Legitimation der europäischen Krisenpolitik diskutieren; und es ist richtig, dass gerade die deutsche Bundesregierung darin zuletzt eine sehr problematische Rolle gespielt hat. Aber es hilft nicht, uns nur auf den Einzelfall Griechenland zu konzentrieren. Die europäische Währungsunion insgesamt hat in ihrer heutigen Form ein Demokratiedefizit. Nur wenn es uns gelingt, das zu lösen, hätten wir die Eurokrise wirklich überwunden.

Bild: by Martin Broek [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

05 Juli 2015

Ja oder Nein, aber wozu eigentlich? Drei Deutungen des griechischen Referendums

Nein zu Europa? Nein zur Austerität? Das Referendum wird eine Antwort bieten, aber die Frage bleibt offen.
Das Schöne an einem Referendum ist, in der Theorie, dass es Eindeutigkeit schafft: Das „souveräne Volk“ spricht und beantwortet eine Frage. Gewiss, fast alle politischen Fragen sind heute viel zu kompliziert, als dass sie sich wirklich auf ein einfaches Ja oder Nein herunterbrechen ließen, und daher obliegt es hinterher doch immer den gewählten Politikern in Regierungen und Parlamenten, mit der Entscheidung umzugehen. Aber immerhin, Referenden zwingen die einzelnen Wähler, selbst in einer Sache Position zu beziehen, und schaffen damit eine Klarheit, die es vorher nicht gab. In der Theorie.

Die Praxis des heutigen Volksentscheids in Griechenland dürfte anders aussehen. Denn die Frage, worüber dort eigentlich abgestimmt ist, ist mindestens ebenso umstritten wie die, ob man dabei das Ja oder das Nein wählen sollte. Und daher dürfte schon jetzt feststehen, dass die eigentliche Entscheidung nicht heute an den Urnen fällt – sondern morgen früh, wenn die Stimmzettel ausgezählt sind und die Politik sich daran macht, das Ergebnis zu interpretieren.

Die offizielle Referendumsfrage: bekannt, aber obsolet

Die offizielle Frage des Referendums ist natürlich bekannt:
Soll der von der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds am 25. Juni in der Euro-Gruppe präsentierte Vorschlag akzeptiert werden, der aus zwei Teilen besteht, die gemeinsam einen einheitlichen Vorschlag bilden? Das erste Dokument hat den Titel „Reforms for the completion of the Current Program and Beyond“ (Reformen für die Vollendung des laufenden Programms und darüber hinaus), das zweite „Preliminary Debt sustainability analysis“ (Vorläufige Schuldentragfähigkeitsanalyse).
Aber wie in den letzten Tagen von den verschiedensten Beobachtern hervorgehoben wurde, lässt sich mit dieser Frage kaum etwas anfangen. Das liegt nicht nur an ihrer unvermeidlichen inhaltlichen Komplexität oder daran, dass die griechischen Bürger entgegen den Empfehlungen des Europarats gerade einmal eine Woche Zeit hatten, um sich auf die Abstimmung vorzubereiten.
OXI heißt Nein, NAI heißt Ja: Viel mehr gibt es an dem Stimmzettel nicht zu verstehen.

Hinzu kommt, dass die Troika-Dokumente vom 25. Juni gar nicht den letzten Stand der Verhandlungen darstellen: Ebenfalls am 25. Juni präsentierte nämlich auch die griechische Regierung selbst einen Vorschlag, auf deren Grundlage die Troika einen Tag später noch einmal einen Gegenvorschlag machte, über den dann in der Eurogruppe keine Einigkeit erzielt wurde. Infolgedessen deckt sich auch der von der Kommission veröffentlichte letzte Verhandlungsstand nicht mit den Dokumenten, die die griechische Regierung auf der offiziellen Homepage zum Referendum eingestellt hat.

Entscheidend aber ist, dass sowohl der eine als auch der andere Vorschlag inzwischen obsolet sind: Beide behandelten nur die Fortsetzung des bis zum 30. Juni laufenden (zweiten) griechischen Kredit- und Reformprogramms, das wegen des Verhandlungsabbruchs inzwischen jedoch beendet wurde. Auch wenn in dem Referendum heute das Ja gewinnt, ist eine Annahme des Vorschlags vom 25. Juni also schon technisch unmöglich. Stattdessen müsste über ein neues (drittes) Programm verhandelt werden.

Austerität vs. Wachstum?

Dass das Referendum technisch eigentlich inhaltsleer ist, macht es jedoch nur umso besser geeignet für eine symbolische Aufladung; und so sind seit mehreren Tagen Politiker und Publizisten gleichermaßen damit beschäftigt, der Öffentlichkeit die „eigentliche“ Bedeutung der Abstimmung zu erklären. Vor allem drei Interpretationen sind dabei weit verbreitet.

Die erste wird vor allem von der griechischen Regierung selbst vertreten, die das Referendum vor allem als ein Votum gegen die Austeritätspolitik verstehen will. So erklärte Ministerpräsident Alexis Tsipras (Syriza/EL), ein Nein würde die griechische Verhandlungsposition stärken und dem Land eine bessere Lösung mit den Kreditgebern ermöglichen. Aber auch diverse (vor allem US-amerikanische) Wirtschaftswissenschaftler wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz sehen vor allem eine Chance, der aus ökonomischer Sicht höchst zweifelhaften Sparpolitik per Volksabstimmung ein Ende zu bereiten.

Für diese Deutung spricht unter anderem die vergangene Erfahrung mit nationalen Referenden in der EU – etwa dem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon 2008. Die EU reagierte damals mit Zugeständnissen an Irland, um die Bevölkerung in einem zweiten Referendum ein Jahr später doch noch zu einer Zustimmung zum Vertrag zu bringen. Ob dies für Griechenland genauso funktionieren könnte, scheint aber fraglich. Jedenfalls bemühten sich die anderen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten (allen voran die deutsche) in den letzten Tagen, dass sie nicht zu weitergehenden Kompromissen bereit seien.

Euro vs. Drachme?

Als zweite Deutung ist deshalb oft zu hören, dass ein Nein in dem Referendum zum viel diskutierten „Grexit“, dem Austritt Griechenlands aus dem Euro führen würde. Außer den meisten Eurogruppe-Regierungen vertreten diese Sichtweise auch viele Akteure der griechischen Opposition, prominent etwa der europapolitische Sprecher der sozialliberalen Partei To Potami.

Tatsächlich ist dieses Szenario nicht unwahrscheinlich, wenn die europäischen Institutionen das Nein als eine Ablehnung gegenüber jedem weiteren Reformprogramm verstehen. Der griechische Bankensektor hält sich schon jetzt nur noch durch sogenannte Notfall-Liquiditätshilfen der Europäischen Zentralbank über Wasser. Diese Hilfen werden ihrerseits jedoch gerade dadurch gerechtfertigt, dass Griechenland ein „Programmland“ ist. Sollte es den Reformprozess nun beenden, müsste die EZB die Banken fallen lassen, was neben einem griechischen Staatsbankrott auch eine dramatische Finanzkrise heraufbeschwören würde. Um diese zu verhindern, könnte die griechische Zentralbank selbst den Banken Nothilfen geben wollen – und dafür eine eigene nationale Währung herausgeben.

Gegen diese Deutung spricht allerdings, dass die griechische Regierung selbst einen Euro-Austritt bis heute kategorisch ausschließt. Tsipras wird voraussichtlich also auch bei einem Nein neue Verhandlungen mit den Kreditgebern vorschlagen. Und diese müssen bei einem Grexit nicht nur ebenfalls mit erheblichen wirtschaftlichen Einbußen rechnen, sondern werden auch nicht gerne die politische Verantwortung dafür übernehmen wollen, ein weiterhin verhandlungsbereites Land aus der Eurozone gedrängt zu haben – von den damit verbundenen rechtlichen Schwierigkeiten ganz zu schweigen. Eine Notlösung in letzter Minute ist also auch bei einem Nein nicht ausgeschlossen.

Syriza vs. Große Koalition?

Wenn das Referendum also weder über die Sparpolitik noch über den Euro-Austritt eine eindeutige Antwort geben kann, bleibt dafür noch eine dritte Deutungsmöglichkeit: Es geht darin auch um ein Ja oder Nein zur griechischen Regierung selbst. Finanzminister Yanis Varoufakis (Syriza/EL) hat für den Fall eines Ja bereits seinen Rücktritt angekündigt; und der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD/SPE) machte keinen Hehl daraus, dass er sich dasselbe auch von Alexis Tsipras wünschen würde. Ob ihm der griechische Ministerpräsident diesen Gefallen tut, ist derzeit aber völlig offen; Tsipras selbst wollte sich zuletzt nicht festlegen.

Auf jeden Fall jedoch verdeutlicht diese dritte Deutung auch die parteipolitische Dimension, die dem ganzen Konflikt zugrunde liegt: Über die einzelnen Streitpunkte zu dieser Spar- oder jener Reformmaßnahme hinaus ging es der Linkspartei Syriza immer auch darum, sich als Alternative zur europäischen Großen Koalition zu profilieren, während die Akteure in den EU-Institutionen und den anderen europäischen Regierungen genau dies verhindern wollten.

Die Entscheidung über die Deutung fällt erst morgen früh

Welche der drei Interpretationen sich am Ende durchsetzt, wird ziemlich sicher zwischen heute Nacht und morgen früh entschieden – wenn die Stimmzettel ausgezählt sind und die Politiker in Griechenland und dem Rest der Europäischen Union wieder die Deutungshoheit übernehmen. Wenn das Ja gewinnt, werden dabei alle Augen auf Tsipras gerichtet sein: Räumt er seine Niederlage ein? Macht er Vorschläge, wie die Verhandlungen für ein drittes Kreditprogramm nun weitergehen könnten? Tritt er zurück?

Bei einem Nein hingegen dürfte viel von den europäischen Institutionen abhängen: Stellt die EZB die Liquiditätshilfen ein? Vollzieht die Eurogruppe den Bruch und erklärt die Verhandlungen für endgültig gescheitert?

Keine Antwort auf die großen Fragen der Krise

Oder setzt sich am Ende gar eine ganz andere Lesart durch – nämlich dass das Referendum in dieser Form unabhängig von seinem Ausgang schlicht nicht geeignet war, überhaupt eine Antwort auf die großen Fragen der Griechenland-Krise zu bieten?

Am vergangenen Mittwoch hielt der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi (PD/SPE) in der Humboldt-Universität zu Berlin eine europapolitische Rede, in der er auch auf das griechische Referendum einging. Seine Hauptaussage folgte dabei klar dem zweiten der hier beschriebenen Deutungsmuster: Der Volksentscheid gehe darum, „ob Griechenland in der Eurozone bleibt oder zur Drachme zurückkehrt, nicht mehr und nicht weniger“. Daneben hob er jedoch auch hervor, es gebe „zwischen der Verantwortungslosigkeit [eines Euro-Austritts] und der Austerität einen dritten Weg, der beim Referendum in Griechenland nicht auf dem Stimmzettel steht“. Es war nicht schwer zu verstehen, dass Renzi sich selbst als Vertreter dieses dritten Weges versteht.

So richtig wohl dürften sich mit dem griechischen Referendum nur zwei Gruppen fühlen: diejenigen, die den Euro, die Austeritätspolitik und die Große Koalition aus EVP und SPE gleichermaßen gut finden – und diejenigen, die alle drei gleichermaßen ablehnen. Nur ihnen fällt die Entscheidung zwischen Ja und Nein heute leicht. Für alle anderen bleibt nur darauf zu warten, was die Politiker innerhalb und außerhalb Griechenlands morgen mit dem Ergebnis anfangen werden.

Bilder: by Martin Broek [CC BY-NC 2.0], via Flickr; by Greek Goverment [Public domain], via Wikimedia Commons.

01 Juli 2015

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre: Prognose für das Europäische Parlament (Juni 2015)

Stand: 30.06.2015
In den vergangenen acht Wochen fanden in drei Mitgliedstaaten der EU nationale Wahlen statt – und mit der Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten (AEKR) konnte dabei jedes Mal dieselbe europäische Partei einen Überraschungserfolg erzielen. Bei den britischen Unterhauswahlen am 7. Mai gelang es der Conservative Party (AEKR) unerwartet, eine absolute Mehrheit der Sitze zu gewinnen. Bei der polnischen Präsidentschaftswahl am 10. und 24. Mai setzte sich Herausforderer Andrzej Duda von der PiS (AEKR) überraschend gegen Amtsinhaber Bronisław Komorowski (PO/EVP) durch. Und bei der dänischen Wahl am 18. Juni machte die Dansk Folkeparti (die zwar kein AEKR-Mitglied ist, aber im Europäischen Parlament deren Fraktion angehört) die größten Zugewinne und wurde die stärkste Kraft des konservativen Lagers.

Dieser Dreifacherfolg schlägt sich auch in den Umfragen nieder. Die Demoskopen, die in allen drei Fällen vom Wahlergebnis überrascht wurden, besserten eifrig nach und sagen den Rechtskonservativen nun vor allem für Großbritannien und Polen deutlich bessere Werte voraus. Auch auf gesamteuropäischer Ebene ist die EKR-Fraktion deshalb gegenüber der letzten Prognose von Anfang Mai 2015 der große Gewinner: Wenn jetzt Europawahl wäre, käme sie auf 69 Sitze (+7). Gebremst wird dieser Aufstieg nur durch die deutsche AfD, die sich immer tiefer in parteiinterne Streitigkeiten verwickelt und dabei deutlich in der Wählergunst verliert.

Verluste der großen Fraktionen

Die beiden größten Fraktionen im Europäischen Parlament, die christdemokratische EVP und die sozialdemokratische S&D, gingen hingegen deutlich geschwächt aus den Wahlen hervor. Die EVP, die in Dänemark und Großbritannien ohnehin kaum eine Rolle spielt, muss in Polen massive Umfrageverluste hinnehmen. Allerdings kann sie diese durch Zugewinne in anderen Ländern – unter anderem Frankreich, Spanien, Rumänien und Portugal – wieder ausgleichen, sodass sich in der Summe für die Christdemokraten keine Veränderungen gegenüber der Mai-Prognose ergeben (205 Sitze/±0).

Die Sozialdemokraten wiederum verlieren in Großbritannien deutlich und würden in Polen, wo sie ohnehin recht schwach sind, nun an der Fünfprozenthürde scheitern. Aber auch in ihrer Hochburg Italien verschlechterten sich ihre Umfragewerte in den letzten Wochen deutlich. Obwohl die S&D in anderen Ländern, vor allem in Dänemark und Kroatien, durchaus auch hinzugewinnt, käme sie nun insgesamt nur noch auf 188 Sitze (–5).

Der größte Verlierer der vergangenen acht Wochen ist allerdings die liberale ALDE-Fraktion (73 Sitze/7). Diese war zwar vom Aufstieg der Rechtskonservativen meist nicht direkt betroffen; lediglich in Dänemark gingen die Zugewinne der EKR mit leichten Einbußen für die ALDE einher. Doch nachdem die Liberalen in den Monaten zuvor europaweit deutlich in der Wählergunst zugelegt hatten, scheint das Pendel nun in mehreren Ländern wieder zurückzuschlagen. Besonders deutlich sind die Verluste der Liberalen in Spanien, aber auch in Rumänien, wo sie nun an der Sperrklausel scheitern würden. Insgesamt hält sich die ALDE damit zwar als drittstärkste Kraft in den Umfragen – gegenüber der letzten Prognose ist ihr Vorsprung gegenüber der EKR jedoch von 18 auf 4 Sitze geschrumpft.

Kaum Veränderungen bei den kleineren Fraktionen

Keine großen Veränderungen weisen die kleineren Fraktionen auf. Die linke GUE/NGL kann sich in einigen südeuropäischen Staaten wieder leicht verbessern. Vor allem in Griechenland ist ihre Mitgliedspartei Syriza weiterhin mit großem Abstand die stärkste Kraft (wobei die Umfragen dieser Prognose alle aus der Zeit vor der Ankündigung des Euro-Referendums am 27. Juni stammen). In Skandinavien, aber auch in Italien und Kroatien gehen die Werte der Linken hingegen leicht zurück, sodass sich die Fraktion insgesamt nur minimal auf 61 Sitze (+1) verbessert.

Ebenfalls nur minimale Veränderungen weist die nationalpopulistische EFDD auf. Deren britische Mitgliedspartei UKIP zählte zwar wie die Sozialdemokraten zu den Verlierern der Unterhauswahl Anfang Mai und fällt in den Umfragen deutlich zurück. Dies wird allerdings teilweise kompensiert durch die Zugewinne des italienischen M5S, wodurch die EFDD im Ganzen nun auf 43 Sitze (–1) käme.

Die Fraktion der Grünen/EFA schließlich legt vor allem in Frankreich deutlich zu. Sowohl der dänischen als auch der kroatischen Mitgliedspartei würde der Einzug ins Europäische Parlament nach den jetzigen Umfragen jedoch nicht mehr gelingen, sodass sich die Fraktion insgesamt nur leicht auf 34 (+2) Sitze verbessert.

Neue Rechtsaußen-Fraktion ENF

Die EKR ist jedoch nicht die einzige Gruppierung im rechten Spektrum, die in den letzten Wochen Erfolge feiern konnte. Auch die „Bewegung für ein Europa der Nationen und Freiheiten“ (kurz MENL nach der französischen Bezeichnung) um die französische Rechtsaußen-Politikerin Marine Le Pen erreichte Mitte Juni ein lang verfolgtes Ziel, als es ihr gelang, im Europäischen Parlament Mitglieder aus sieben verschiedenen Ländern zu vereinigen. Damit konnte das MENL eine eigene Fraktion namens „Europa der Nationen und Freiheiten“ (ENF) gründen und bekommt Zugang zu europäischen Geldmitteln in Millionenhöhe.

Für die Fraktionsbildung war die ENF allerdings wesentlich auf die Unterstützung der britischen Abgeordneten Janice Atkinson angewiesen. Diese war 2014 ursprünglich für das EFDD-Mitglied UKIP gewählt, im März jedoch wegen eines Korruptionsskandals aus der Partei ausgeschlossen worden. Wäre jetzt Europawahl, würde Atkinson mit Sicherheit ihren Sitz im Parlament verlieren. Die ENF käme dann wieder nur noch auf Mitglieder aus sechs Ländern und wäre auf die Rekrutierung mindestens einer weiteren Partei angewiesen, um ihren Fraktionsstatus zu behalten.

Und auch in den Umfragen steht die ENF schlechter da als vor acht Wochen. Seit der Europawahl vor einem Jahr hatten die MENL-Mitgliedsparteien vor allem in Frankreich und Italien kontinuierliche Zugewinne verbuchen können. Während dieser Trend in Italien weiter anhält, verlor Marine Le Pen in ihrem eigenen Land zuletzt an Zustimmung. Insgesamt kommt die ENF nun auf 47 Sitze (–4).

Der plötzliche Aufstieg des Paweł Kukiz

Schließlich löste die Präsidentschaftswahl in Polen auch bei den fraktionslosen und sonstigen Parteien zuletzt einige Veränderungen aus. Außer Andrzej Duda konnte dort nämlich noch ein weiterer Bewerber einen Überraschungserfolg erzielen: Der rechtsgerichtete Rockmusiker Paweł Kukiz kam als unabhängiger Anti-System-Kandidat im ersten Wahlgang auf über 20 Prozent der Stimmen. Auch wenn er damit nicht die Stichwahl erreichte, verschaffte ihm dieses Ergebnis eine enorme Popularitätswelle. In der Folge kündigte Kukiz die Gründung einer nach ihm benannten „Bürgerbewegung“ an, die zur polnischen Parlamentswahl im Herbst antreten soll.

Nach den aktuellen Umfragen käme die Ruch Obywatelski Pawła Kukiza (ROPK) im Europäischen Parlament auf zwölf Sitze und wäre damit stärker als beispielsweise die deutschen Grünen, die griechische Syriza oder die ungarische Fidesz. Zwei andere rechtspopulistische Parteien aus Polen – die fraktionslose KORWiN sowie die KNP, die sich jüngst Marine Le Pens ENF angeschlossen hat – wären hingegen nicht mehr im Europäischen Parlament vertreten.

Welcher Fraktion sich die ROPK anschließen würde, ist allerdings völlig unklar: Am ehesten in Frage kämen ENF und EFDD, aber auch die Fraktionslosigkeit. In der Prognose findet sich deshalb erstmals auch ein recht großer Anteil an „weiteren“, das heißt nicht eindeutig einer europäischen Gruppierung zuzuordnenden Parteien.

Die Übersicht

Alles in allem zeigen die jüngsten Umfragen also eine deutliche Rechtsdrift: Das Mitte-Links-Lager aus ALDE, S&D, G/EFA und GUE/NGL kommt auf seinen schlechtesten Wert seit September 2014, während die drei Rechtsfraktionen EKR, EFDD und ENF zusammen (auch ohne die ROPK und andere fraktionslose Rechtsaußenparteien) so stark sind wie noch nie. Aber auch die Große Koalition aus EVP und S&D erreicht einen neuen Tiefpunkt in der Wählergunst.

Die folgende Tabelle schlüsselt die Projektion für die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Da es bis heute keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert sie auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht und nach welchen Kriterien die nationalen Parteien den europäischen Fraktionen zugeordnet wurden, ist im Kleingedruckten unter der Tabelle erläutert.


GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
EP heute 52 50 190 70 218 73 45 37 16
Mai 15 60* 32* 193* 80* 205* 62* 44 51 15 9
Juni 15 61* 34* 188* 73* 205* 69* 43 47 11 20
DE 9 Linke
1 Tier
10 Grüne
1 Piraten
1 ödp
23 SPD 4 FDP
1 FW
39 Union 4 AfD
1 Familie


1 Partei
1 NPD
FR 3 FG 3 EELV 16 PS 8 MD-UDI 23 Rép

21 FN

GB 1 SF 3 Greens
4 SNP
17 Lab 2 LibDem
24 Cons
1 UUP
20 UKIP
1 DUP
IT 3 SEL-RC
26 PD
10 FI
1 SVP

18 M5S 12 LN
3 FdI


ES 11 Pod
2 IU
1 ERC 14 PSOE 7 Cʼs
1 UPyD
1 CDC
1 PNV
17 PP




PL



16 PO 23 PiS


12 ROPK
RO

14 PSD
16 PNL
2 UDMR





NL 4 SP
1 PvdD
2 GL 2 PvdA 3 D66
5 VVD
4 CDA 1 CU
4 PVV
EL 10 Syriza
2 Potami
1 Pasok

5 ND 1 ANEL

1 XA
1 KKE

BE
1 Groen
1 Ecolo
2 sp.a
3 PS
2 OpenVLD
3 MR
2 CD&V
1 cdH
1 CSP
4 N-VA
1 VB

PT 2 CDU
1 BE

9 PS
9 PSD-CDS




CZ 3 KSČM
6 ČSSD 7 ANO 2 TOP09
1 KDU-ČSL
2 ODS



HU
1 LMP 3 MSZP
2 DK

9 Fidesz


6 Jobbik
SE 1 V 1 MP 6 S 2 C
1 FP
5 M
4 SD


AT
3 Grüne 5 SPÖ 1 Neos 4 ÖVP

5 FPÖ

BG

4 BSP 2 DPS 7 GERB
2 RB




2 PF
DK 1 FmEU
5 S 3 V
1 LA

3 DF



FI 1 Vas 1 Vihr 2 SDP 3 Kesk 3 Kok 3 PS



SK

6 SMER
2 KDH
1 M-H
1
1 SNS
2 Sieť
IE 2 SF

3 FF 3 FG



3 Unabh.
HR 1 ŽZ
5 SDP
5 HDZ




LT

4 LSDP 3 LRLS
1 DP
2 TS-LKD
1 TT


LV

3 Sask 2 ZZS 2 V 1 NA



SI 2 ZL
1 SD 2 SMC 2 SDS
1 NSi-SLS





EE

1 SDE 2 RE
2 KE





1 EVA
CY 2 AKEL
1 DIKO
1 EDEK

2 DISY




LU
1 Gréng 1 LSAP 1 DP 3 CSV




MT

3 PL
3 PN





Verlauf

GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
30.06.201561341887320569 43471120
03.05.201560321938020562 4451159
10.03.201560311967721660 4349127
12.01.201565401907021259 4743178
18.11.201460421956921259 4743168
23.09.20145339196672236147401510
28.07.2014564719175215664440134
EP 01.07.14525019167221704837
15

Die Zeile „EP 01.07.14“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 1. Juli 2014, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2014. Die Spalte für die ENF-Fraktion gibt bis Mai 2015 die Werte der Europäischen Allianz für Freiheit (EAF) bzw. der Bewegung für ein Europa der Nationen und Freiheiten (MENL) und ihr nahestehender Parteien an, die bis zur Fraktionsgründung im Juni 2015 fraktionslos waren.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Bei den weiteren Parteien ist zudem die ungefähre politische Ausrichtung angegeben, um ihre Bündnismöglichkeiten auf europäischer Ebene anzudeuten. Da die betreffenden Parteien allerdings oft erst vor kurzer Zeit gegründet wurden, befindet sich ihre Programmatik zum Teil noch im Fluss, sodass die Angabe lediglich zur groben Orientierung dienen kann.

Fraktionszuordnung
Für die Prognose werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Wahl erklärt. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören oder ihr in der politischen Ausrichtung sehr nahe stehen, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind und bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden als „Weitere Parteien“ eingeordnet. Diese Zuordnungen folgen zum Teil natürlich auch einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung der Parteien. Jeder Leserin und jedem Leser sei es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden nach der Prognose diese Bedingungen erfüllen. Andere Gruppierungen müssten gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Datengrundlage
Soweit verfügbar, wurde bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. In Ländern, wo es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder wo die letzte solche Umfrage mehr als ein Jahr zurückliegt, wurde stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament verwendet. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wurde der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet. Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wurde auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel wurden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. In Ländern, wo die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (Frankreich, Vereinigtes Königreich, Belgien, Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen.
Nationale Sperrklauseln, soweit vorhanden, werden in der Prognose berücksichtigt. In Ländern, in denen es üblich ist, dass Parteien zu Wahlen in Listenverbindungen antreten, werden der Prognose jeweils die am plausibelsten erscheinenden Listenverbindungen zugrunde gelegt.
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Prognose jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, FW, Familienpartei, PARTEI und NPD). In Großbritannien haben wegen der Unterschiede im Wahlrecht einige Parteien nur bei Europawahlen echte Chancen, Mandate zu gewinnen. In Umfragen zu nationalen Wahlen schneiden diese Parteien deshalb strukturell deutlich schlechter ab als bei der Europawahl. Dies gilt vor allem für UKIP und Greens. Um dies zu kompensieren, wird in der Prognose für die Greens stets das Ergebnis der Europawahl herangezogen (3 Sitze). Für UKIP und LibDem werden die aktuellen Umfragewerte für nationale Wahlen verwendet, aber für die Prognose mit dem Faktor 3 (UKIP) bzw. 1,33 (LibDem) multipliziert. In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Prognose wird die Südtiroler Volkspartei deshalb jeweils mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.
Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf:
Deutschland: nationale Umfragen, 15.-28.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: nationale Regionalwahl-Umfragen, 29.3.2015, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, England: nationale Umfragen, 14.-16.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Wales: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 7.5.2015.
Vereinigtes Königreich, Schottland: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 7.5.2015.
Vereinigtes Königreich, Nordirland: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 7.5.2015.
Italien: nationale Umfragen, 14.-24.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 17.-27.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 17.-29.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, 30.4.2015, Quelle: Inscop.
Niederlande: nationale Umfragen, 14.-25.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 15.-26.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Belgien, Flandern und Wallonien: nationale Umfragen, 18.5.2015, Quelle: Baromètre politique.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Portugal: nationale Umfragen, 4.-16.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 11.-15.6.2015, Quelle: Wikipedia. 
Ungarn: nationale Umfragen, 15.6.2015, Quelle: Ipsos.
Schweden: nationale Umfragen, 11.-24.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 15.-26.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: nationale Umfragen, 27.5.2015, Quelle: Exacta.
Dänemark: nationale Umfragen, 29.6.2015, Quelle: Voxmeter.
Finnland: nationale Umfragen, 2.-11.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 16.6.2015, Quelle: Focus Research.
Irland: nationale Umfragen, 15.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 24.6.2015, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 14.6.2015, Quelle: Vilmorus.
Lettland: nationale Umfragen, April 2015, Quelle: Latvian Facts.
Slowenien: nationale Umfragen, Juni 2015, Quelle: Episcenter, Ninamedia.
Estland: nationale Umfragen, Juni 2015, Quelle: Erakonnad.
Zypern: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Luxemburg: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Malta: nationale Umfragen, Juni 2015, Quelle: Malta Today.

Bilder: Eigene Grafiken.