24 Januar 2016

Grenzschutz, Reisefreiheit und Asylpolitik: Wie lässt sich Schengen retten?

Aus Angst vor Flüchtlingen stellen Europas Regierungen die offenen Binnengrenzen in Frage. Aber ist das wirklich unvermeidbar?
Schengen ist in Gefahr. Der europaweite Raum der Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen droht zu zerbröckeln. Nach dem offiziellen Überblick der EU-Kommission haben seit letztem Herbst nicht weniger als neun Mitgliedstaaten vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt; aktuell sind diese noch in sechs Ländern in Kraft: in Deutschland und Österreich seit vergangenem September, in Frankreich, Schweden und Norwegen seit November, in Dänemark seit dem 4. Januar. Niemals zuvor in der Geschichte des Schengen-Systems hatte es eine so lang andauernde Dauerschließung gegeben – und erst recht nicht von so vielen Ländern zugleich.

Infolgedessen mehren sich inzwischen die apokalyptischen Warnungen: EU-Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) etwa sprach vor kurzem von einem Zeitraum von zwei Monaten, innerhalb dessen eine Lösung gefunden werden müsse, um „den Kollaps des Schengen-Raums“ zu verhindern. Kommissionschef Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) sah in der Konsequenz sogar den europäischen Binnenmarkt in Gefahr. Unabhängig davon, ob man sich diesen Einschätzungen im Einzelnen anschließt: Mit der Reisefreiheit geht es, so viel ist klar, um eine zentrale Errungenschaft der europäischen Integration. Wie aber lässt sich Schengen retten?

Die Schengen-Krise ist eine Krise des EU-Asylsystems

Dass die derzeitige Schengen-Krise eigentlich eine Krise des europäischen Asylsystems ist, dürfte ein Gemeinplatz sein. Um die heutigen Probleme zu verstehen, lohnt es sich dennoch, ihre Entstehung noch einmal zu rekapitulieren. Ihr Ausgangspunkt ist die berühmt-berüchtigte Dublin-Verordnung (Wortlaut), der zufolge Flüchtlinge einen Asylantrag in der Regel in jenem Mitgliedstaat stellen müssen, in dem sie als Erstes das Territorium der EU erreicht haben. Reisen sie in ein anderes Land weiter, können sie von dort in das Ersteintrittsland zurück abgeschoben werden. Um das zu kontrollieren, sind die Grenzländer verpflichtet, alle ankommenden Flüchtlinge zu registrieren und ihre Fingerabdrücke in einer europaweiten Datenbank zu speichern.

Diese Regelung führte zu einem massiven Ungleichgewicht in der Flüchtlingsverteilung: Während die südlichen Grenzstaaten, vor allem Italien und Griechenland, sehr viele Asylanträge zu bearbeiten haben, sind die nördlichen Staaten kaum betroffen – sofern sie nicht freiwillig zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind. (Spanien wiederum zog sich durch eine enge Zusammenarbeit mit dem nordafrikanischen Nachbarn Marokko aus der Affäre, trotz dessen zweifelhaftem Umgang mit den Menschenrechten von Flüchtlingen.)

Italien und Griechenland

Die übermäßige Belastung Italiens und Griechenlands – und die Weigerung der nördlichen Staaten, das Dublin-System zugunsten einer faireren Verteilung zu reformieren – führte schon in der Vergangenheit verschiedentlich zu Krisen. Zu einem ersten Eklat kam es 2011, als infolge des arabischen Frühlings die Zahl der Flüchtlinge aus Nordafrika sprunghaft anstieg. Statt diese Flüchtlinge zu registrieren, begann die italienische Regierung damals, ihnen Touristenvisa auszustellen oder sie einfach untertauchen zu lassen, in der Hoffnung, dass sie in andere EU-Länder weiterreisen und nicht nach Italien zurückkehren würden.

Ebenfalls im Jahr 2011 urteilte außerdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Lage von Asylbewerbern in Griechenland sei so schlecht, dass eine Abschiebung dorthin im Rahmen des Dublin-Systems nicht erlaubt sei. (2014 folgte auch für Italien ein ähnliches, etwas schwächeres Urteil.) Flüchtlinge müssen zwar trotzdem weiterhin in Griechenland ihren Asylantrag stellen, wenn sie vom dortigen Grenzschutz aufgegriffen und registriert werden. Gelingt es ihnen aber, Griechenland unbemerkt zu durchqueren und ein anderes EU-Land zu erreichen, müssen sie nicht nach Griechenland zurück – was sowohl in ihrem eigenen als auch im griechischen Interesse ist.

Streit um die Flüchtlingsquote

Und an dieser Stelle kommt nun das Schengen-System ins Spiel. Die Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern, die seit Sommer 2015 zu Hunderttausenden Europa erreichten, wollen zum größten Teil nicht in Griechenland oder Italien bleiben, sondern in andere Mitgliedstaaten, besonders Deutschland und Schweden, weiterreisen. Dies lag zum einen an deren liberaleren Aufnahmepraxis und den besseren Bedingungen für Asylbewerber, zum anderen aber auch daran, dass es in diesen beiden Ländern inzwischen bereits größere syrische Gemeinschaften gibt, von denen sich die Neuankömmlinge Orientierung und Hilfe versprechen. Auch die drastische Verschärfung des deutschen und schwedischen Asylrechts in den letzten Monaten dürfte deshalb nicht allzu viel an den innereuropäischen Flüchtlingsbewegungen ändern.

Infolgedessen drängen seit 2015 nicht mehr nur Italien und Griechenland, sondern unter anderem auch Deutschland, Schweden und die Europäische Kommission auf eine EU-weite Asylbewerber-Umverteilung nach festen Länderquoten (ein Überblick über alle nationalen Positionen findet sich hier). Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, war Deutschland im September 2015 das erste Land, das mit Verweis auf die Flüchtlingskrise einseitig die Schengener Reisefreiheit suspendierte – allerdings mit bescheidenem Erfolg. Vor allem die ostmitteleuropäischen Staaten, in die fast überhaupt keine Flüchtlinge einreisen, verweigern sich weiterhin jeder Reform des Dublin-Systems.

Selbst die einmalige Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen war im letzten Herbst deshalb nur mit einer umstrittenen Mehrheitsabstimmung im Rat zu erreichen und ist bis heute nicht umgesetzt. Die Slowakei und Ungarn reichten vor dem Europäischen Gerichtshof sogar Klagen gegen den Beschluss ein. Auch wenn die Kommission jüngst noch einmal einen neuen Vorstoß angekündigt hat – konkrete Vorschläge sollen im März folgen –, scheint die Dublin-Reform wenigstens im Moment in einer Sackgasse zu stecken.

Hotspots zur Erstaufnahme und Registrierung

Schon seit einiger Zeit scheinen sich die Bemühungen Deutschlands und seiner nördlichen Partner deshalb eher auf ein anderes Ziel zu konzentrieren: einen effektiveren Schutz der Schengen-Außengrenzen. Im Mittelpunkt stehen dabei neue Erstaufnahme-Zentren, sogenannte „Hotspots“, die in Griechenland und Italien eingerichtet werden sollen. Sämtliche neu ankommenden Flüchtlinge sollen künftig zunächst in diesen Zentren aufgenommen und registriert werden. Große Zahlen undokumentierter Migranten, die wie im letzten Herbst ohne Papiere und Registrierung quer durch Europa ziehen, soll es dadurch künftig nicht mehr geben. Geplant sind derzeit elf solche Zentren, von denen drei bereits in Betrieb sind; die übrigen sollen in den nächsten Wochen folgen.

Das Problem daran: Ohne einen wirksamen Verteilungsmechanismus haben weder Italien noch Griechenland ein Interesse daran, diese Hotspots tatsächlich funktionsfähig zu machen – denn nach dem Dublin-System wären sie dann schließlich für die Bearbeitung der dort gestellten Asylanträge verantwortlich. In der Darstellung der EU-Kommission dienen die Hotspots deshalb vor allem jener schon im Herbst beschlossenen Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen. Doch wenn die Einwanderung nach Europa 2016 auch nur annähernd das Maß von 2015 erreicht, dürfte dieses Kontingent spätestens in wenigen Monaten erschöpft sein.

EU-Grenzschutz gegen den Willen der Mitgliedstaaten?

Dem zuständigen EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos (ND/EVP) zufolge ist das Hauptproblem schon heute, dass die griechischen und italienischen Grenzschutzbehörden kaum Flüchtlinge in die Hotspots bringen – aus Sorge, dass diese zu „geschlossenen Zentren“ würden, für die letztlich doch wieder sie die Verantwortung trügen. Stattdessen scheinen sie weiter darauf zu setzen, Flüchtlinge nach Möglichkeit einfach zu „übersehen“ und unregistriert weiterziehen zu lassen, auch wenn das natürlich gegen ihre Pflicht zur Sicherung der Schengen-Außengrenzen verstößt.

Im Dezember präsentierte die Europäische Kommission deshalb noch eine weitere Initiative: Geht es nach ihren Vorstellungen, soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex künftig selbst operativ tätig werden können – und zwar auch gegen den Willen des betroffenen Staates. Offiziell als eine Art aufgezwungene europäische Hilfe für „überforderte“ nationale Grenzschutzbehörden dargestellt, soll dieser Vorschlag offensichtlich vor allem eine Sabotage der Flüchtlingsregistrierung durch die Ersteintrittsländer verhindern. Infolgedessen wurde er von Deutschland und Frankreich unterstützt, von den meisten Grenzstaaten aber unter Verweis auf ihre nationale Souveränität abgelehnt. Eine Entscheidung darüber soll auf dem Europäischen Rat im kommenden Juni fallen.

Ostmitteleuropa von der Dublin-Reform überzeugen

Wie aber lässt sich Schengen nun retten? Selbst wenn der Plan, künftig Frontex die Überwachung der Außengrenzen übernehmen zu lassen, Erfolg hat: Auf die Dauer kann es keine Lösung sein, die Verantwortung für die eintreffenden Asylbewerber wieder komplett auf Griechenland und Italien abzuwälzen. Und auch die parallele Strategie der EU, die Türkei als Partner zu gewinnen, damit Flüchtlinge gar nicht erst europäischen Boden erreichen, ist überaus zweifelhaft – schon allein, weil sich die EU damit von einer Regierung abhängig macht, die in jüngerer Zeit in eine bedrohliche Spirale von Autoritarismus und Gewalt eingetreten ist.

Die besten Chancen dürften deshalb trotz allem darin bestehen, die Dublin-Reform endlich zum Erfolg zu bringen und doch noch eine dauerhafte Umverteilung von Flüchtlingen zu erreichen. Dafür ist es freilich notwendig, mindestens einige der bis jetzt noch zögernden oder ablehnenden Regierungen in Ostmitteleuropa von dieser Strategie zu überzeugen. Und das wiederum wirft die Frage auf, warum diese Regierungen die Aufnahme von Flüchtlingen eigentlich so vehement zurückweisen.

Angst vor Überfremdung – und vor finanziellen Kosten

Im Wesentlichen dürfte es dafür zwei Gründe geben: zum einen eine ideologische, aus Nationalismus und Islamophobie gespeiste Angst vor Überfremdung – eine Angst, mit der nicht nur nationalkonservative Regierungschefs wie die Polin Beata Szydło (PiS/AEKR) oder der Ungar Viktor Orbán (Fidesz/EVP), sondern auch Sozialdemokraten wie der Slowake Robert Fico (Smer-SD/SPE) im Wahlkampf auf Stimmenfang gehen.

Zum anderen aber spielt wohl auch die pragmatische Feststellung eine Rolle, dass die Zuwanderung von Flüchtlingen für das überalterte Europa zwar langfristig von wirtschaftlichem Nutzen sein wird, kurzfristig aber für das Aufnahmeland auch mit einigen finanziellen Kosten verbunden ist: für Unterbringung und Versorgung, für Sprachkurse und andere Integrationsmaßnahmen, für Dolmetscher, Sozialarbeiter und Polizisten.

Es sind die reichen Staaten, die die Flüchtlingsquote wollen

Gegen die Überfremdungsangst lässt sich wenigstens auf die Schnelle wohl nicht viel tun: Akzeptanz für kulturelle Vielfalt wächst in der Regel nur langsam und durch konkrete positive Erfahrungen. Was aber das finanzielle Argument betrifft, hat die EU noch einigen Handlungsspielraum: Immerhin zählen viele der Staaten, denen besonders an einer Umverteilung von Flüchtlingen gelegen ist – Deutschland, Schweden, Österreich oder Italien –, zugleich auch zu den reichsten Mitgliedsländern, während die ostmitteleuropäischen Staaten sämtlich EU-Nettoempfänger sind.

Man kann deshalb, wie der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ/SPE) vor einigen Wochen, den Osteuropäern mit einer Kürzung der EU-Strukturfonds drohen, falls sie nicht ihren Widerstand in der Flüchtlingsfrage aufgeben. Man könnte aber auch umgekehrt auf Positivanreize setzen, indem künftig der EU-Haushalt die Finanzierung der Asylpolitik übernimmt.

Und wenn die EU die Asyl-Finanzierung übernimmt?

Tatsächlich ist der EU-Asylfonds AMIF bislang nur äußerst spärlich ausgestattet; für die Periode 2014-20 sind darin pro Jahr nicht einmal 500 Millionen Euro vorgesehen. Zwar beantragte die Europäische Kommission im letzten Herbst bereits eine Aufstockung dieser Mittel. Doch im Verhältnis zu den realen Kosten der Flüchtlingskrise ist der AMIF weiterhin kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Man stelle sich vor, dieser Fonds wäre so gut ausgestattet, dass er in der Lage wäre, die Kosten für Asylverfahren komplett zu bestreiten – oder gar zu überkompensieren, sodass Mitgliedstaaten, die Flüchtlinge aufnehmen, daraus einen fiskalischen Gewinn erzielen. Das entspräche nicht nur dem Solidarprinzip, dass man für eine gemeinsame Politik gemeinsam bezahlt, sondern würde überdies wohl auch helfen, manche Vorbehalte in den ostmitteleuropäischen Ländern zu überwinden.

Sicher, eine solche Aufstockung des EU-Haushalts würde die Steuerzahler in den reichen Nettozahler-Ländern einige Milliarden kosten. Aber dafür bekämen wir die Chance zu einer Dublin-Reform, mit der Flüchtlinge besser zwischen den Mitgliedstaaten verteilt würden. Und über den Untergang des Schengen-Raums müssten wir auch nicht mehr sprechen.

Unter dem Motto #DontTouchMySchengen führen die Jungen Europäischen Föderalisten vom 1. bis 7. Februar europaweit Aktionen durch, um für den Erhalt der offenen Binnengrenzen zu demonstrieren. Mehr Informationen dazu sind hier zu finden.

Bilder: International Federation of Red Cross and Red Crescent Societies [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Junge Europäische Föderalisten.

3 Kommentare:

  1. An sich ein schöner Vorschlag - gibt es irgendwo schon wahrnehmbare Bemühungen, ihn auf politischer Ebene zumindest zu diskutieren? (Im Prinzip ist es ja die Wiederbelebung der alten Kohlschen "Bimbes"-Maxime.) Ich bin aber nicht überzeugt, dass damit das andere Problem - das des weit verbreiteten Rassismus - gelöst ist. Siehe zum Beispiel diese zutiefst deprimierende Analyse über die Slowakei: https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2016/01/18/refugees-in-europe-heres-a-different-reason-people-are-saying-no-to-them/.

    Meine persönliche Vorhersage ist eher, dass es im besten Fall so bleiben wird wie jetzt - es werden weiterhin sehr viele Flüchtlinge gerade nach Deutschland kommen, mit allen sowohl guten wie schlechten Folgen, mit einer deutlichen Verschärfung des Überforderungsgefühls bzw. der Überforderungsrhetorik und ernsthaften Wahlerfolgen für rechte Parteien wie der AfD und der CSU. Im schlechteren Fall aber (und das passiert ja bereits) wird die Festung Europa noch stärker ausgebaut werden (d. h. in der offiziellen Rhetorik: der "Schutz der Grenzen" wird vorangetrieben). Mit der Türkei wird man vielleicht eine Lösung finden wie die Spanier mit Marokko; Zäune und stark verstärkte Pushbacks könnten ihr übriges tun. Folge wäre eine starke Zunahme der Todesopfer an den Außengrenzen, die bereits jetzt teilweise spürbar ist, aber noch deutlich andere Dimensionen annehmen könnte.

    Es fällt mir derzeit überaus schwer, bei diesem Thema Optimist zu bleiben.

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    1. Zumindest die Vorstufe zur politischen Diskussion hat der Vorschlag schon genommen: In Thinktanks und Forschungszentren erfreut er sich wachsender Beliebtheit. Außer dem im Artikel verlinkten Beitrag zweier Mitarbeiter des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel legte jüngst auch das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung eine entsprechende Studie vor. Und wer weiß, welche Pläne die Kommission noch für ihren für März angekündigten Dublin-Reformvorschlag in petto hat.

      Ob es am Ende zu einer solchen "europäischen" Lösung kommt oder nicht, bleibt abzuwarten. Ich halte es aber für wichtig zu zeigen, dass es Alternativen zu der derzeitigen Nationalisierungsdynamik gibt und dass auch die großen Aufnahmeländer wie Deutschland oder Schweden dafür noch mehr tun könnten, als das bis jetzt der Fall ist. Wenn in der deutschen Öffentlichkeit derzeit immer wieder suggeriert wird, dass man nun einmal zu "nationalen Maßnahmen" greifen müsse, da die Regierungen der anderen Mitgliedstaaten nicht zu einer europäischen Lösung bereit seien, dann muss man festhalten, dass auch die Bundesregierung bislang lieber den Schengen-Raum in Frage stellt, als auf ein solidarisch finanziertes EU-Asylsystem hinzuarbeiten.

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  2. Ich bin sehr skeptisch, ob eine finanzielle Kompensation die Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen in den mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten tatsächlich erhöhen würde. Selbst wenn die EU vollständig für die Unterkunft, Verpflegung und Integrationsleistungen aufkäme, würde das die große Skepsis und das Misstrauen in Ungarn, Polen oder der Slowakei gegenüber Flüchtlingen aus dem Süden nicht im Geringsten mindern. Ein SWP-Papier spricht gar von einer „klar negativen Haltung in den jeweiligen Gesellschaften. Die harte Position der Regierungen entspricht tiefverwurzelten Sichtweisen der jeweiligen Öffentlichkeiten. Dadurch ergibt sich eine auch innenpolitisch verankerte Abwehrdisposition, die nur schwer zu ändern ist.“ (https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A84_lng.pdf

    Finanzielle Anreize werden da nichts bewirken, solange rechts- und linkspopulistische Politiker die Ruder in Händen halten und sich die Gesellschaften nicht weiter öffnen, was noch sehr lange dauern kann. Nichtsdestotrotz wäre ein europäischer Verteilungsschlüssel, der finanzielle Kompensationen vorsieht, sicherlich ein guter Ansatz und könnte dort erfolgreich sein, wo Länder und Gesellschaften grundsätzlich gewillt sind, Flüchtlinge aufzunehmen, aber Angst vor wirtschaftlichen Einbußen haben. Allerdings müsste es zur realistischen Umsetzung dieser Idee ein Opt-out für die unwilligen Länder geben. Wer dann noch übrig wäre, vermag ich nicht zu sagen, aber gegen ihren Willen werden die EU-Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Flüchtlinge aufnehmen, da helfen auch hohe Summen oder Drohungen aus Österreich nicht weiter.

    Auf der anderen Seite stellt sich bei einem Umverteilungsmechanismus auch die Frage, wer oder was Asylsuchende davon abhalten sollte, die EU-Binnengrenzen zu überschreiten und sich in einem anderen als dem zugewiesenen Land niederzulassen? Viele Menschen denken gar nicht daran, z.B. in Polen zu leben, sondern wollen lieber nach Deutschland oder Schweden. Um diese aufzuhalten, müssten wir erst recht wieder Grenzkontrollen einführen und das Schengen-System ad absurdum führen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

    Wahrscheinlich wird andersherum ein Schuh draus: Damit Polen, Ungarn und Co. keine weiteren Flüchtlingen aufnehmen müssen, zahlen sie in einen europäischen „Asyl-Topf“ ein, von dem dann die Aufnahmeländer profitieren. Auf jeden Fall benötigen wir europäische Lösungen und keine weiteren nationalen Alleingänge.

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