16 Dezember 2016

Das Ende der europäischen Großen Koalition?

Gianni Pittella will Parlamentspräsident werden und die Große Koalition beenden. Ob das klappt?
Gianni Pittella (PD/SPE), Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, hätte sich kaum klarer ausdrücken können. „Die Zeit der Großen Koalition im Europäischen Parlament ist beendet“, schrieb er auf Twitter. „Die [Europäische] Volkspartei muss sich damit abfinden, wir brauchen eine Veränderung.“ Und weiter: „Eine gesunde Polarisierung zwischen Rechts und Links wird helfen, um das Europäische Parlament zu beleben und den europaskeptischen Bewegungen entgegenzuwirken.“ Denn: „Rechts und Links sind nicht dasselbe. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die Unterschiede nicht zu verstecken, sondern zum Ausdruck zu bringen.“

Wer dieses Blog regelmäßig liest, wird Pittellas Argumentation wahrscheinlich bekannt vorkommen. Auch ich habe hier verschiedentlich geschrieben, dass die permanente Große Koalition, die die Politik der europäischen Institutionen dominiert, letztlich zum Problem für die Legitimation der EU werden kann. Denn wenn die drei großen Parteien der Mitte (die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE und die liberale ALDE) stets zusammenarbeiten, kann niemand von ihnen eine glaubwürdige Alternative zum derzeitigen politischen Kurs repräsentieren. Und das wiederum bedeutet, dass unzufriedene Wähler niemanden haben, an den sie sich wenden können – außer den Nationalpopulisten, die nicht nur die aktuelle europäische Politik, sondern gleich die ganze EU in Frage stellen.

Eine stärkere Polarisierung zwischen den großen Parteien der linken und rechten Mitte könnte also tatsächlich helfen, um für die EU Legitimität zurückzugewinnen und den Aufstieg der Rechten zu zäumen. Aber ist die Sache wirklich so einfach, wie Pittella verspricht?

Seit 2015 sind die Sozialdemokraten nach links gerückt

Das „Ende der Großen Koalition“, über das in Brüssel und Straßburg dieser Tage viel diskutiert wird, hat eine längere Vorgeschichte. Während der schlimmsten Jahre der Eurokrise standen die großen europäischen Parteien eng beieinander. Die wesentliche Richtung gaben dabei die Christdemokraten vor, die Ende 2011 den Höhepunkt ihrer institutionellen Macht erreichten. Die Sozialdemokraten aber trugen die europäische Sparpolitik lange Zeit treu mit – auch wenn ihnen das in mehreren Ländern, besonders Griechenland und Spanien, schmerzliche Wahlniederlagen bescherte.

Nach den Erfolgen europaskeptisch-populistischer Parteien bei der Europawahl 2014 rückten EVP und SPE zunächst sogar noch näher aneinander. Es entstand sogar eine Art informeller Koalitionsausschuss, die sogenannten G5-Treffen, bei denen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP), sein Stellvertreter Frans Timmermans (PvdA/SPE), Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD/SPE) sowie die beiden Fraktionschefs Manfred Weber (CSU/EVP) und Gianni Pittella (PD/SPE) regelmäßig über die wichtigsten politischen Fragen berieten. Vor allem Juncker und Schulz galten dabei als Garanten der engen Zusammenarbeit.

Doch schon bald zeigten sich erste Risse: In der Griechenland-Krise im Sommer 2015 etwa vertraten beide Parteien klar unterscheidbare Positionen. Die europäischen Sozialdemokraten rückten zusehends nach links und kritisierten die „austerity only“-Politik der Christdemokraten. Zum zentralen Thema wurde das „soziale Europa“, das beispielsweise auch auf dem SPE-Parteitag vor zwei Wochen im Mittelpunkt stand.

Auslöser der Koalitionskrise war eine Personalfrage

Der Auslöser der jüngsten Brüsseler Koalitionskrise aber war eine Personalfrage, nämlich die Nachfolge des scheidenden Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Entsprechend den Gepflogenheiten des Parlaments wird über dieses Amt jeweils zur Hälfte der Wahlperiode neu abgestimmt, und nach der Europawahl 2014 hatte es eine informelle Vereinbarung gegeben, dass Schulz dann nicht mehr antreten, sondern den Posten an einen Christdemokraten abgeben würde.

Doch je näher dieser Zeitpunkt rückte, desto weniger wollten die Sozialdemokraten davon wissen: Mit Kommissionspräsident Juncker und Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP), so ihr Argument, besetze die EVP derzeit schließlich auch die beiden anderen EU-Spitzenämter – was zum Zeitpunkt der Vereinbarung 2014 noch nicht klar gewesen sei. Es sei deshalb nicht akzeptabel, dass die Christdemokraten nun auch noch die Parlamentspräsidentschaft übernähmen.

Pittella vs. Tajani

In der EVP stieß Schulzʼ Entschlossenheit zu einer weiteren Amtszeit erwartungsgemäß nicht auf allzu große Begeisterung. Im September kündigten die Christdemokraten an, sie würden zur Neuwahl des Parlamentspräsidenten jedenfalls einen eigenen Kandidaten aufstellen. Massive Unterstützung erhielt Schulz jedoch von Jean-Claude Juncker, der offenbar sogar mit seinem eigenen Rücktritt drohte, falls Schulz aus dem Amt gedrängt werden sollte. Letztlich wurde diese Drohung freilich hinfällig, da Schulz Ende November freiwillig seinen Abschied aus dem Parlament ankündigte, um im kommenden Jahr für den deutschen Bundestag zu kandidieren.

Doch mit dem Abgang des Großkoalitionärs Schulz brach der Konflikt zwischen den beiden Fraktionen erst richtig aus. Nur wenige Tage später erklärte nun nämlich Gianni Pittella sein Interesse am Amt des Parlamentspräsidenten – und begründete das, siehe oben, explizit damit, dass seine Kandidatur „eine Phase der Polarisierung zwischen Rechts und Links eröffnen“ solle. Die Christdemokraten wiederum konterten dies, indem sie ihrerseits mit Antonio Tajani (FI/EVP) einen durchaus umstrittenen Kandidaten für das Amt aufstellten, der in großen Teilen des linken Spektrums als unwählbar gilt.

Eine Kampfabstimmung

Sollte es deshalb bei der Wahl am 17. Januar tatsächlich eine Kampfabstimmung zwischen Pittella und Tajani geben, wäre der Ausgang völlig offen. Beide wären auf Unterstützung aus den übrigen Fraktionen angewiesen, wobei Pittella wohl auf die meisten linken und grünen Abgeordneten zählen könnte, Tajani hingegen auf die nationalkonservative EKR-Fraktion. Den Ausschlag könnten schließlich die Liberalen geben – oder auch die rechtsextreme ENF-Fraktion.

Aber wird es wirklich zu dieser Kampfabstimmung kommen? Und wenn ja, ist das dann wirklich das lang erhoffte Ende der Großen Koalition? Und wie soll es danach weitergehen? Und vor allem: Wird dann auch der Wähler bald wieder klar vor Augen haben, worin die Alternative zwischen Christ- und Sozialdemokraten in der europäischen Politik genau besteht?

Die Große Koalition ist in der Funktionsweise der EU verankert

Was in der aktuellen Aufregung leicht übersehen wird, ist, dass die europäische Große Koalition nicht nur eine Frage der inhaltlichen Nähe zwischen den beiden großen Parteien ist – sondern tief in der institutionellen Funktionsweise der EU selbst verankert. Dass EVP und SPE in den europäischen Institutionen nun schon seit mehreren Jahrzehnten so eng zusammenarbeiten, liegt ja nicht etwa daran, dass sie sich nach jeder Europawahl aktiv dafür entschieden hätten. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Verfahren, die ihnen gar keine andere Möglichkeit lassen, wenn auf europäischer Ebene überhaupt Entscheidungen möglich sein sollen.

Derzeit kommt im Europäischen Parlament nur die Große Koalition auf eine absolute Mehrheit.
Tatsächlich ist es schon im Europäischen Parlament allein schwierig genug, ohne die Beteiligung beider großen Fraktionen eine Mehrheit zu mobilisieren. Die plausibelsten Alternativen sind ein Mitte-Links-Bündnis aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken sowie ein Mitte-Rechts-Bündnis aus EVP, Liberalen und der nationalkonservativen EKR. Beide Bündnisse bleiben derzeit jedoch knapp unter einer absoluten Mehrheit im Parlament – und können deshalb nur zum Tragen kommen, wenn sich mindestens einige Abgeordnete des jeweils anderen Lagers (oder der Rechtsaußenfraktionen) enthalten.

Nur die Wahl zwischen Kompromiss und Blockade

Vor allem aber genügt es in der europäischen Gesetzgebung nicht, einfach nur eine Mehrheit im Parlament zu haben. Vielmehr muss jeder Rechtsakt von der Europäischen Kommission vorgeschlagen und vom Ministerrat mitgetragen werden. Im Ministerrat ist dabei zudem in der Regel eine „qualifizierte Mehrheit“ notwendig – das heißt eine Mehrheit von 55 Prozent der Regierungen, die zugleich 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Diese Mehrheitsanforderungen machen es in der Praxis nahezu unmöglich, einen Rechtsakt zu verabschieden, dem nicht mindestens irgendein Minister von EVP, SPE und ALDE zugestimmt hat. (Da im Rat in der Regel nicht primär nach der Linie der europäischen Parteien abgestimmt wird, sind es meistens sehr viel mehr.)

Pittella kann also durchaus versuchen, im Europäischen Parlament die Gegensätze zwischen SPE und EVP klarer ins Bild zu setzen. Doch seine Bemühungen um mehr Polarisierung werden spätestens in dem Augenblick scheitern, in dem das Parlament mit dem Rat über die Verabschiedung eines Rechtsakts verhandeln muss. Denn dann gibt es nach den Verfahren der EU nur noch die Alternative zwischen einem Kompromiss, der notwendigerweise auch Vertreter beider großen Parteien umfasst – oder einer Blockade, bei der alle Seiten nur verlieren können.

Die Kommission bleibt im Amt, auch wenn die Koalition zerbricht

Der Verfassungsrechtler Jan Willem van Rossen hat auf dem Verfassungsblog noch auf eine andere Besonderheit der europäischen Koalitionskrise hingewiesen: Wenn auf nationaler Ebene eine Koalition zerbricht, dann bedeutet das in der Regel auch den Sturz der Regierung, die sie getragen hat, oft sogar die Auflösung des Parlaments. Beides führt dazu, dass Koalitionen in reifen parlamentarischen Systemen nicht so einfach aufgekündigt werden. Für die Koalitionäre selbst steht dabei einfach zu viel auf dem Spiel.

In der EU ist das anders: Die Europäische Kommission (die mit den Stimmen von EVP, SPE und ALDE ins Amt gewählt wurde) kann vom Europäischen Parlament nur mit Zweidrittelmehrheit gestürzt werden. Diese Hürde ist so hoch, dass die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament nicht einmal dazu Stellung beziehen müssen, ob sie nach ihrem Bruch mit der EVP denn den EVP-Kommissionspräsidenten Juncker weiterhin unterstützen werden: Einmal im Amt, ist Juncker auf die Unterstützung der Fraktion nicht mehr zwingend angewiesen. Und vorzeitig auflösen kann sich das Europäische Parlament ohnehin nicht – die Wahlperiode endet unweigerlich erst im Juni 2019.

Am Ende werden wieder Kompromisse stehen

Für Pittella ist es deshalb einerseits sehr einfach, das Ende der Großen Koalition auszurufen, denn die dadurch ausgelöste Krise ist für ihn selbst erst einmal mit keinerlei Kosten verbunden. Andererseits ist es für ihn aber fast unmöglich, dieses Ende der Großen Koalition wirklich umzusetzen, da es aufgrund der Mehrheitserfordernisse in den verschiedenen Institutionen kaum plausible Alternativen dazu gibt. Wenn EVP und SPE sich nun also etwas mehr streiten als zuvor, wird das die europäische Politik etwas chaotischer, vielleicht auch für die Öffentlichkeit etwas interessanter machen. Am Ende aber werden wieder Kompromisse stehen: Kompromisse, die die beiden großen Parteien nicht freiwillig eingehen, sondern zu denen sie durch die Verfahrensregeln der EU gezwungen werden.

Wer die ewige Große Koalition überwinden will, der muss den EU-Vertrag ändern. Eine kleine Kampfabstimmung über diese oder jene Frage allein wird dafür nicht genügen.

Bild: © European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0 lu], via Flickr; eigene Grafik.

2 Kommentare:

  1. Für mich stellt das medienwirksam ausgerufene "Ende der Großen Koalition" nur den nächsten Höhepunkt einer kommunikativen Eskalationsspirale dar, die kein beteiligter Akteur so richtig gewollt hat.

    Selbst wenn sich Pittella oder Tajani mithilfe der Links- bzw. Rechtsaußen irgendwie wählen lassen würden, könnten sie mit ihren neuen Partnern keine Gesetzgebung betreiben, da die koalitionsinternen Unterschiede zu groß wären und die etwaigen Entschlüsse interinstitutionell keine Chance auf Durchsetzung hätten.

    Es wird mit Sicherheit spannend, wie Sozialdemokraten und Konservative diese kommunikative Eskalation wieder zurückzudrehen versuchen, weil ohne ihre Zusammenarbeit das Parlament in die Handlungsunfähigkeit abzurutschen droht.

    Die einzige praktikable Lösung wäre für mich, dass man einen Kompromisskandidaten findet, wie es bspw. Verhofstadt von der ALDE wäre. Aber dass die beiden größten Fraktionen der ALDE den Vortritt lassen, ist wohl genauso unwahrscheinlich wie eine großkoalitionäre EInigung auf Pittella oder Tajani.

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    1. Hallo Malte,

      ein Kompromisskandidat wäre vemutlich eine mögliche Lösung, wobei die ALDE als "Scharnier-Fraktion" zwischen EVP und S&D sicher die naheliegendste Option ist. Allerdings dürfte es in beiden großen Fraktionen auch einige Vorbehalte gegen Guy Verhofstadt geben, der ja (als Berichterstatter in Sachen Vertragsreform und Brexit, aber auch durch seine öffentlichkeitswirksamen Wortgefechte mit Nigel Farage und anderen) ein sehr klares eigenes politisches Profil besitzt und selbst ganz andere Ziele haben würde, als die Wunden der GroKo zu pflegen.

      Eine andere Lösung, die ich mir vorstellen kann, ist ein package deal mit der Ratspräsidentschaft: Die S&D könnte Tajani als Parlamentspräsident akzeptieren, wenn dafür im Frühling ein Sozialdemokrat (oder eine Sozialdemokratin) Nachfolger von Donald Tusk (PO/EVP) im Europäischen Rat wird. Das wäre umso einfacher, als im Europäischen Rat die Sozialdemokraten ebenso stark vertreten sind wie die EVP (beide stellen je 8 Staats- oder Regierungschefs) und Tusk nicht einmal von seiner eigenen nationalen Regierungschefin Beata Szydlo (PiS/AKRE) unterstützt wird.

      Aber das sind natürlich nur Spekulationen. Mal sehen, was im Januar passiert.

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