31 März 2016

Muss die EU den Brexit fürchten? Oder wäre er auch eine Chance?

Die kleinen Nationalflaggen der britischen Europaskeptiker könnten für immer aus dem Europäischen Parlament verschwinden. Wäre das so schlimm?
Wenn die britische Bevölkerung am kommenden 23. Juni über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU abstimmt, sind nur Briten sowie in Großbritannien lebende Bürger früherer britischer Kolonien (einschließlich Irland, Malta und Zypern) stimmberechtigt. Alle anderen Europäer werden nicht die Möglichkeit haben, ihre Meinung zum Brexit zum Ausdruck zu bringen. Mehr noch: Selbst die Europäische Kommission hat angekündigt, sich nicht aktiv an der Referendumskampagne zu beteiligen, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie wolle sich in „innere Angelegenheiten“ eines Mitgliedstaats einmischen. Ob Großbritannien austritt oder nicht, ist dem Rest der EU offiziell offenbar gleichgültig.

In Wirklichkeit aber wird das Ergebnis des Brexit-Referendums natürlich auch uns nicht-britische EU-Bürger beeinflussen, und wenn im Juni die Stimmzettel ausgezählt werden, werden auch viele von uns mit großer Spannung auf das Ergebnis warten. Aber auf welches Ergebnis sollen wir dabei eigentlich hoffen? Muss die EU den Brexit fürchten, oder wäre er auch eine Chance?

Austrittsabkommen

Was genau passiert, wenn die Briten im Juni für den Brexit stimmen, ist unklar. Nach Art. 50 EU-Vertrag kann jeder Mitgliedstaat den Austritt aus der EU erklären. Dieser tritt jedoch nicht sofort in Kraft, sondern erst nach einer Frist von zwei Jahren. In dieser Zeit soll zwischen dem Mitgliedstaat und der EU ein Austrittsabkommen ausgehandelt werden, welches auch den „Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union“ beinhaltet – also beispielsweise seine weitere Beteiligung am Europäischen Wirtschaftsraum oder am Bildungsprogramm Erasmus Plus.

Erst wenn dieses Austrittsabkommen steht, wird klar sein, wie weit „draußen“ Großbritannien künftig ist. Nur wenn es in den zwei Jahren zu keiner Einigung kommt, würde die britische Mitgliedschaft in der EU ersatzlos beendet. Dass das geschieht, ist aber äußerst unwahrscheinlich, schon weil damit eine enorme Rechtsunsicherheit verbunden wäre. Wenn man über ein Post-Brexit-Szenario nachdenkt, sollte man deshalb nicht an eine Art Untergang der britischen Inseln im Meer denken – sondern eher die Frage stellen, auf welche Art der Beziehung sich Großbritannien und die EU wohl vernünftigerweise einigen würden.

Großbritannien wird im Binnenmarkt bleiben wollen

In Bezug auf die Wirtschaftspolitik dürfte das einigermaßen klar sein: Großbritannien würde hier sicherlich ein möglichst umfassendes Freihandelsabkommen anstreben, um eng in den Europäischen Binnenmarkt integriert zu bleiben. Da das Thema Einwanderung in der britischen Austrittsdebatte eine große Rolle spielte, könnte die britische Regierung möglicherweise versuchen, sich lediglich am Güter-, Kapital- und Dienstleistungsmarkt zu beteiligen, nicht aber an der Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Andererseits hat die Europäische Kommission in der Vergangenheit immer wieder deutlich gemacht, dass es aus ihrer Sicht das eine ohne das andere nicht geben kann. Und da Großbritannien den Freihandel mit der EU dringender benötigt als umgekehrt, müsste man wohl kaum mit neuen Zugeständnissen rechnen.

Im Ergebnis könnte Großbritannien damit in einer ähnlichen Position sein wie Norwegen oder die Schweiz heute: Um am europäischen Binnenmarkt teilnehmen zu dürfen, müssen diese Länder die entsprechenden EU-Rechtsakte umsetzen, ohne jedoch am Gesetzgebungsprozess selbst beteiligt zu sein. Für die betreffenden Staaten ist das kein besonders attraktives Modell, weshalb vor einigen Monaten auch der frühere norwegische Außenminister Espen Barth Eide (Ap/SPE) die Briten vor einem EU-Austritt gewarnt hat. Der EU selbst hingegen würde es kaum weh tun, wenn Großbritannien auf diese Weise auf sein Mitspracherecht verzichtet.

Dennoch ist der Brexit aus wirtschaftlicher Sicht ein Risiko für die EU: Mindestens bis der Austrittsvertrag ausgehandelt ist, wäre er mit einer hohen Unsicherheit verbunden, die Anleger von Investitionen abschrecken könnte. Darunter würde zwar vor allem Großbritannien selbst leiden, insbesondere falls die großen Banken aus der Londoner City beginnen, ihre Sitze in einen sicheren Hafen auf dem Kontinent zu verlegen. Aber natürlich sind Großbritannien und die EU wirtschaftlich eng vernetzt, und eine britische Wirtschaftskrise würde auch im Rest der EU das Wachstum schwächen.

Kaum Auswirkungen auf die Innen- und Außenpolitik

In anderen Politikbereichen dürften die Auswirkungen eines britischen Austritts noch weniger dramatisch ausfallen. In Fragen der Innen- und Justizpolitik etwa verfügt das Vereinigte Königreich schon jetzt über weitreichende Ausnahmeklauseln: Es ist nicht Mitglied des Schengen-Raums und nimmt auch an der übrigen EU-Gesetzgebung in diesem Bereich nur sehr begrenzt teil. Selbst die EU-Grundrechtecharta findet in Großbritannien schon heute keine Anwendung.

In der Außenpolitik wiederum ist Großbritannien zwar ein Schwergewicht mit einem großen und effizienten diplomatischen Dienst, einer schlagkräftigen Armee und einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Trotzdem würde ein Brexit auch hier keine allzu gravierenden Veränderungen bringen: Bekanntlich handelt die EU in der Außenpolitik nur nach einstimmigen Entscheidungen aller Mitgliedsregierungen und meistens auf Grundlage einer freiwilligen „Koalition der Willigen“, die auch für Nicht-Mitglieder offensteht. Und da sich die strategischen Interessen Großbritanniens in der Welt ja auch nach einem Austritt nicht grundlegend ändern würden, würde das Land auf dieser Basis wohl auch künftig eng mit der EU zusammenarbeiten.

Ein Verlust für die politische Kultur der EU?

Ein anderes Argument, weshalb die EU einen britischen Austritt fürchten sollte, betrifft die politische Kultur. Wie die Neue Zürcher Zeitung vor einigen Wochen schrieb, hat „der britische Einfluss […] die EU liberaler, wettbewerbsorientierter, weniger zentralistisch und transatlantischer gemacht“; für den deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) wäre die EU ohne Großbritannien „weniger effizient und weniger liberal“.

Doch entspricht dieser Stereotyp der liberalen, weltoffenen Briten wirklich noch der Realität? Tatsächlich hat sich Großbritannien in der Vergangenheit verschiedentlich für offene Grenzen eingesetzt, wo andere Mitgliedstaaten protektionistische Anwandlungen hatten: etwa bei der Osterweiterung 2004, als die Regierung unter Tony Blair (Lab./SPE) den Bürgern der neuen Mitgliedstaaten sofort volle Freizügigkeit zugestand, während Deutschland, Frankreich und andere dafür lange Übergangsfristen festlegten.

Von der britischen Liberalität ist wenig übrig

Spätestens seit dem Amtsantritt von David Cameron (Cons./AEKR) 2010 ist von dieser Liberalität jedoch nicht mehr viel übrig, im Gegenteil: Dass die Freizügigkeit in Europa „weniger frei“ sein solle, gehört zu den expliziten Zielen von Camerons Europapolitik. Auch sonst zeichnete sich der britische Beitrag zur EU in den letzten Jahren vor allem durch engstirnigen Nationalismus und unnötige Konfrontation aus.

Als etwa während der Eurokrise 2011 eine EU-Vertragsänderung für die Stabilisierung der Währungsunion zur Diskussion stand, begnügte sich Cameron nicht mit einer Ausnahmeklausel für Nicht-Euro-Staaten, sondern blockierte die ganze Reform – und zwang damit die übrigen Länder, den Fiskalpakt als Parallelvertrag abzuschließen. Und als 2014 mit dem Spitzenkandidatenverfahren die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten etwas demokratischer wurde, versuchte Cameron den ganzen Prozess zu sabotieren und musste schließlich von den anderen Regierungschefs in einer Kampfentscheidung überstimmt werden.

Aber nicht nur Camerons Conservative Party ist heute integrationsfeindlicher denn je. Auch die Labour Party (SPE) und die Liberal Democrats (ALDE) vertraten in ihren Wahlprogrammen vor der letzten Unterhauswahl eine hart an nationalen Interessen ausgerichtete Europapolitik. Ja sogar die „Bleiben“-Kampagne vor dem Brexit-Referendum setzt vor allem auf die patriotische Botschaft von einem „stärkeren Großbritannien“. Der britische Europadiskurs hat sich in den letzten Jahren drastisch verengt, und eine Besserung ist nicht in Sicht.

Droht ein Domino-Effekt?

Bleibt noch ein letztes Argument, den Brexit zu fürchten: Könnte er zum Auslöser für einen Domino-Effekt werden, der auch in anderen Ländern zu Austrittsdebatten führt und Europaskeptiker begünstigt? Der tschechische Premierminister Bohuslav Sobotka (ČSSD/SPE) warnte jedenfalls vor einigen Wochen bereits vor einer möglichen Czexit“-Debatte“ – und wenn wir schon dabei sind, warum nicht auch noch ein „Frexit“, „Swexit“, „Spexit“ oder „Dexit“?

Indessen unterstellt diese Vorstellung einer drohenden Austrittswelle, dass Großbritannien mit seinem nationalen Alleingang erfolgreich ist und in anderen Ländern als Vorbild wahrgenommen wird. Allzu wahrscheinlich ist das nicht. Eher dürfte das Land nach einem Austritt in eine wirtschaftliche und politische Krise geraten, die es für den Rest der EU eher zum abschreckenden Beispiel macht. Kurzfristig mögen Europaskeptiker europaweit von einem Brexit-Votum profitieren; langfristig würde es wohl eher dazu beitragen, ihre Forderungen und Versprechen empirisch zu widerlegen.

Kann ein Brexit für die EU von Vorteil sein?

Es scheint also, dass der Brexit die EU nicht schrecken muss – kann er für sie vielleicht sogar von Vorteil sein? Im größten Teil von Europa gehört es freilich immer noch zum guten Ton, die Zusammengehörigkeit zu betonen und auf ein Bleiben-Votum zu hoffen. Doch je näher das Referendum rückt, desto mehr pro-europäische Stimmen werden laut, die einen Abschied der Briten als eine für die EU durchaus wünschenswerte Entwicklung beschreiben.

Der frühere französische Premierminister Michel Rocard (PS/SPE) etwa vertritt diesen Standpunkt bereits seit einigen Jahren. Mehrere französische Europaabgeordnete unterschiedlicher Parteien haben sich ihm inzwischen angeschlossen. Der bekannte Ökonom Paul de Grauwe argumentierte jüngst ebenso. Und sogar der Europablogger Jon Worth, der als Brite in Berlin persönlich wohl zu den Hauptleidtragenden eines Brexit zählen würde, erklärte vor kurzem, dass „Föderalisten und Progressive außerhalb des Vereinigten Königreichs“ sich für einen britischen EU-Austritt einsetzen sollten.

Das pro-europäische Argument für einen britischen Austritt

Das wesentliche Argument dieser pro-europäischen Brexit-Freunde geht so: Die Hoffnung, dass das Referendum dauerhaft zu einem besseren britisch-europäischen Verhältnis führt, ist illusorisch: Auch wenn die Bleiben-Seite gewinnt, wird das Ergebnis wohl nur knapp ausfallen, und unter den Anhängern der regierenden Conservative Party wird eine Mehrheit für den Austritt gestimmt haben. Viele in der Partei werden deshalb nur nach einem passenden Vorwand suchen, um die Abstimmung zu wiederholen – aus dem Referendum würde ein „Neverendum“.

Auch der zwischen Cameron und dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk (PO/EVP) ausgehandelte Deal mit dem symbolischen britischen Opt-out aus dem Prinzip der „immer engeren Union“ verheißt nichts Gutes. Cameron nutzt diese Vereinbarung, um in der Referendumskampagne Erwartungen an einen Integrationsstopp zu schüren, zu dem der Rest der EU in Wirklichkeit kaum bereit sein wird. Spätestens bei der nächsten Vertragsreform werden die Konflikte deshalb neu ausbrechen.

Jon Worth zufolge versteht Großbritannien die EU zudem stärker als andere nationale Regierungen als Nullsummenspiel zwischen den Mitgliedstaaten, bei dem es immer Sieger und Verlierer geben muss – und parlamentarische Demokratie als etwas, was nur auf nationaler Ebene möglich ist, nicht im überstaatlichen europäischen Rahmen. Fortschritte auf dem Weg zu einer europäischen Demokratie, in der nicht nationale Interessen, sondern konkurrierende Visionen des europäischen Gemeinwohls die Politik bestimmen, seien deshalb ohne Großbritannien leichter zu erzielen.

Nicht nur Großbritannien blockiert

Wäre Europa also wirklich besser dran, wenn Großbritannien austritt? Auch an den Argumenten der pro-europäischen Brexit-Befürworter lässt sich zweifeln. Denn auch wenn der britische Europadiskurs sich durch einen besonders vehementen Nationalismus auszeichnet, ist die britische Regierung oft genug nur die lauteste, nicht aber die einzige Gegnerin wichtiger neuer Integrationsschritte.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn es um einen größeren EU-Haushalt oder eine eigene europäische Steuerkompetenz geht, stand die deutsche Bundesregierung in den letzten Jahren stets fest an der Seite Großbritanniens. Ob ein Brexit wirklich neue Integrationskräfte freisetzen könnte, ist deshalb fraglich. Ebenso gut könnte es sein, dass dadurch nur die übrigen Blockierer einen Vorwand verlieren – und künftig ihre Vorbehalte selbst äußern, statt das den Briten zu überlassen.

Zum Austritt zu drängen wäre vorauseilende Kapitulation

Der eigentliche Grund, weshalb ich selbst es für falsch hielte, den Briten einen Austritt nahezulegen, ist jedoch ein anderer. Der ganze Zweck der europäischen Integration besteht darin, die traditionellen diplomatischen Formen der internationalen Politik durch eine überstaatliche Demokratie zu ersetzen, um gemeinsame Angelegenheiten in gemeinsam gewählten Institutionen zu regeln und damit der Verflechtung der europäischen Gesellschaften besser gerecht zu werden.

Dieses Ziel aber gilt für das Vereinigte Königreich wie für jedes andere Land: Seine Mitgliedschaft in der EU ist gegenüber dem Versuch „souveräner“ Nationalstaatlichkeit ein demokratischer Gewinn. Wenn eine Mehrheit der britischen Bevölkerung das anders sieht, sollten wir europäischen Föderalisten versuchen, sie mit unseren Argumenten zu überzeugen. Falls uns das nicht gelingt, werden wir mit dem Austritt leben können. Sie selbst zum Austritt zu drängen aber käme einer vorauseilenden Kapitulation gleich, die wir nicht nötig haben: Die europäische Idee ist in Großbritannien nicht weniger richtig als anderswo.

Bild: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

24 März 2016

„Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“: Ein Interview mit Gabriel Richard-Molard

EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht) könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen, und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Gabriel Richard-Molard. (Zum Anfang der Serie.)


Gabriel Richard-Molard.
D(e)F: Sie sind eines der Gründungsmitglieder der „SPE-Aktivisten“, einer Basis-Organisation der Sozialdemokratischen Partei Europas, und Sprecher ihrer deutschen Sektion. Wer sind die SPE-Aktivisten? Mit welcher Motivation wurden sie gegründet und welche Funktion haben sie heute in der SPE?

Gabriel Richard-Molard: Die SPE-Aktivisten wurden 2005 in Folge des Parteikongresses von Madrid und auf Initiative des damaligen SPE-Generalsekretärs Philip Cordery und des damaligen SPE-Präsidenten Poul Nyrup Rasmussen gegründet. Die Idee dieser zwei Sozialdemokraten war es, nichts weniger als eine neue Generation sozialdemokratischer Aktivisten zu schaffen, die nicht mehr vollständig im traditionellen nationalen Politikschema verhaftet, sondern in erster Linie europäische Aktivisten sein sollten, engagiert für die europäische Sache und vor allem Triebkräfte für eine Europäisierung der nationalen Mitgliedsparteien der SPE.

In der Rückschau bin ich überzeugt, dass diese Initiative richtig und wichtig war. Die SPE-Mitgliedsparteien können sich nicht von oben her entwickeln, mit einer Spitze, die plötzlich extrem europafreundlich wäre und bereit, alles umzuwerfen, um den Weg der europäischen politischen Integration zu gehen. Eine nationale Partei wird von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählt und nicht von denen des Nachbarlands.

Tatsächlich ist es naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in den Mitgliedstaaten in Richtung von mehr Europa lenken könnten. Nein, in Wirklichkeit wird eine Partei von ihren Mitgliedern beeinflusst, die die politischen Amtsträger von morgen sind. Es sind diese Mitglieder, die die Bewegung der SPE-Aktivisten erreichen will. Indem wir ihnen zeigen, dass unsere traditionellen sozialdemokratischen Themenfelder eng verknüpft sind mit unserer kollektiven Fähigkeit, in Europa eine soziale Politik voranzubringen, schaffen wir die pro-europäische Aktivistenbasis, die heute so bitter fehlt.

Zwiespältige Bilanz

Die Bilanz, die wir nach zehn Jahren Existenz dieser Bewegung ziehen müssen, ist zwiespältig. Das hat mehrere Gründe, von denen zwei mir besonders einleuchtend erscheinen. Der eine ist der Unwillen der Parteimitglieder, sich in einer Bewegung zu engagieren, die ausschließlich auf Europa gerichtet ist. Für viele ist die Politik weiterhin vor allem lokal und nur in zweiter Linie national und europäisch. Das erklärt, warum die lokalen Strukturen der SPE noch immer recht überschaubar sind.

Der zweite Grund ist der Unwillen der nationalen Parteien, aber auch der SPE selbst, die Bewegung der SPE-Aktivisten zu unabhängig werden zu lassen. Diese Bewegung hat nach seinen Statuten in der Tat nicht das Ziel, eine vollständige politische Kraft (und damit eine neue Partei) zu werden. Sie soll mit der SPE, aber vor allem mit den Mitgliedsparteien verknüpft bleiben, da jeder SPE-Aktivist vor allem auch ein Aktivist einer nationalen Partei sein muss. Diese enge Verbindung mit der nationalen Parteimitgliedschaft begrenzt die Handlungsfähigkeit der SPE-Aktivisten sehr, da sie weiter dem Willen der im Vorstand der SPE vertretenen Mitgliedsparteien unterliegen.

Soziale Lösungen auf kontinentaler Ebene

Der dritte Grund ist der Mangel an Aktivisten. Unsere sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien machen eine bemerkenswerte Vertrauenskrise durch. Die traditionellen Botschaften an die Mittel- und Unterschicht dringen nicht mehr so gut durch wie in der Vergangenheit, wahrscheinlich weil die Sozialdemokratie es nicht geschafft hat, die sozialen Hoffnungen dieser Bevölkerungsschichten zu erfüllen. Indem sie das Feld geräumt hat, weniger aus freiem Willen als aus kollektiver Ohnmacht, haben wir gerade das Europa-Thema zum Strohmann für all die konzentrierten Ängste um die Globalisierung und ihre schrecklichen sozialen Auswirkungen werden lassen.

Die Generation der Babyboomer, die die europäische Integration als ein Mittel für Verständnis und Frieden auf dem Kontinent und in der Welt wahrgenommen hat, ist dabei, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen. Die folgende Generation und die meinige haben nicht mehr diese europäische Flamme. Sie ist aber auch nicht tot, sondern muss wiederbelebt werden, vor allem muss man einen neuen Brennstoff für sie finden. Dieser Brennstoff, das sind ganz klar die sozialen Lösungen auf kontinentaler Ebene, die wir herbeiführen müssen.

Die Aktivisten als Antreiber der Parteispitze

Das ist unsere Aufgabe innerhalb der SPE, wo wir Aktivisten aus allen Mitgliedstaaten der Union weiterhin eine wichtige Rolle spielen, um die Spitzenpolitikern der Partei und der nationalen Parteien anzutreiben. Außerdem sind wir diejenigen, die die europaweiten Kampagnen durchführen und dadurch als europäische Meinungsbilder innerhalb unserer nationalen Parteien wirken. Das ist jedoch nicht genug, und wir setzen uns nun seit einigen Jahren beim Parteivorstand dafür ein, dass wir bei den verschiedenen Kongressen ein Stimmrecht erhalten. Tatsächlich haben die Aktivisten noch kein Recht, über das Parteiprogramm abzustimmen; das dürfen nur die Mitgliedsparteien. Diese Situation ist aus demokratischer Sicht sehr diskutabel, und umso mehr, als die Bewegung der SPE-Aktivisten sich ausbreitet.

Das gilt vor allem für Deutschland, wo unsere 30 lokalen Gruppen mehrere hundert Aktivisten umfassen. Unser Handlungsfeld ist, auf lokaler Ebene die europäische Debatte anzuregen, aber auch Antreiber für die Parteispitze in Europafragen zu sein. Unsere Hauptforderung ist zum Beispiel, dass die SPD eine offizielle Europa-Arbeitsgruppe einsetzt, die den Aktivisten offensteht, sodass wir offen über Europa sprechen und uns austauschen können. Man kann sich wirklich darüber wundern, dass trotz der überaus zahlreichen AGs und AKs, die es in der SPD gibt, kein öffentliches Gremium zur Auseinandersetzung mit Europa existiert. Dafür setzen wir uns ein. Aus Europa ein transversales und für alle verständliches Thema zu machen, ist unser Existenzgrund innerhalb der SPD und natürlich der SPE.

Die SPE ist nicht mit einer nationalen Partei vergleichbar

D(e)F: Sie haben erwähnt, dass die SPE-Aktivisten ein Wahlrecht bei den Kongressen der Partei fordern. Tatsächlich ist das ein Problem, das nicht nur die SPE, sondern auf die eine oder andere Weise alle europäischen Parteien betrifft: Obwohl es ihnen gelungen ist, die Spitzenpolitiker der verschiedenen nationalen Parteien zu vernetzen, gibt es für die einfachen Parteimitglieder auf europäischer Ebene kaum einen Platz. Was könnte man Ihrer Meinung nach tun, um die Basis besser in die Entscheidungen der Partei einzubinden?

Richard-Molard: Um auf diese Frage zu antworten, müssen wir noch einmal klarstellen, worüber wir sprechen und wie wir darüber sprechen. In der Tat sprechen wir hier über eine Dachorganisation, die Mitgliedsparteien versammelt und deren Aktivisten alle zunächst einmal einer politische Bewegung auf nationaler Ebene angehören müssen. Auch wenn sie sich Partei nennt, ist die Sozialdemokratische Partei Europas durchaus nicht mit einer nationalen Partei vergleichbar. In einer klassischen Partei sind die Mitglieder Privatpersonen, die ein politisches Recht ausüben, nämlich individuell oder kollektiv im Rahmen von Anträgen oder Gruppierungen ihre Ideen zu verteidigen.

Die Mitglieder der SPE sind in erster Linie die Mitgliedsparteien, die ihre Rechte innerhalb des SPE-Parteivorstands ausüben und die durch ihre Aktionen und Forderungen die Linie der Partei in die eine oder andere Richtung verändern. Das ist der institutionelle Stand der Dinge. Er ist für Föderalisten oder wenigstens Befürworter der politischen Integration Europas notorisch ungenügend, ja sogar völlig entmutigend in Bezug auf die Ziele dieser Integration.

Eine politische Maschine, die nicht gestoppt werden kann

Man muss jedoch diese etwas harte Feststellung einschränken und sich bewusst machen, dass die SPE mit der Bewegung der SPE-Aktivisten die einzige gesamteuropäische Bewegung ist, die offiziell eine transeuropäische Aktivistenbewegung geschaffen und unterstützt hat. Weder die sonst so europafreundlichen Grünen noch irgendeine andere Partei kann für sich in Anspruch nehmen, so viele Aktivisten auf dem ganzen Territorium der Union zu haben. Doch trotz ihrer großen Zahl sind diese nicht die einzigen SPE-Mitglieder, sie sind es nur durch Vermittlung, durch die Tatsache, dass ihre Partei der SPE angehört.

Dieser Zustand ist vorübergehend und zweifellos frustrierend für jene SPE-Aktivisten, die in immer größerer Zahl die Notwendigkeit sehen und erleben, die politische Aktion direkt von der lokalen auf die europäische Ebene zu übertragen und die nationale zu überspringen. Indem die SPE 2005 die Aktivisten geschaffen hat, hat sie eine politische Maschine in Gang gesetzt, deren Lokomotive (die von den Aktivisten repräsentiert wird) nicht mehr gestoppt werden kann.

Stimmrecht der Aktivisten in der SPE-Führung

Unsere Forderung, ein Stimmrecht in der SPE-Führung zu erhalten, ist in diesem Kontext völlig legitim und logisch. Sie wirft jedoch wichtige strukturelle und institutionelle Fragen auf. Um sie umzusetzen, müsste sich die Bewegung der SPE-Aktivisten von der Pflicht lösen, Mitglied in einer SPE-Mitgliedspartei zu sein, wodurch sie eine wichtige Verbindung zu den Organen verlöre, die sie in der jetzigen Phase der europäischen Einigung am Leben erhalten.

Wir müssen also die Einrichtung eines vorübergehenden Mechanismus in den Blick nehmen, durch den die jetzigen Aktivisten eine Führung wählen könnten, die sie beim SPE-Parteivorstand und auf den SPE-Kongressen vertritt. Dadurch ließe sich die Klippe einer politischen Unabhängigkeit vermeiden, die notwendig ist, aber überstürzt wäre angesichts des relativen Mangels an europäischem politischem Bewusstsein. Dieses Bewusstsein existiert, ist aber schwach und muss sich weiter entwickeln; wir, die SPE-Aktivisten, sind es, die diese Entwicklung hauptsächlich bewerkstelligen.

Das politische Europa steckt noch in den Kinderschuhen

D(e)F: Im Lauf der Zeit ist es der SPE (wie den anderen Parteien) gelungen, immer substanziellere politische Programme zu entwickeln. In den besonders kritischen Momenten jedoch scheint es ihr noch immer an Einigkeit zu fehlen. In der Griechenland-Krise im vergangenen Jahr beispielsweise wollte Sigmar Gabriel, im Gegensatz zur SPE-Mehrheit, die Möglichkeit eines „Grexit“ nicht ausschließen. In der aktuellen Flüchtlingskrise sind die sozialdemokratischen Regierungen der Slowakei und der Tschechischen Republik unter denjenigen, die sich am hartnäckigsten einer solidarischen europäischen Lösung verweigern.

Es ist klar, dass diese Alleingänge vor allem nationalen Erwägungen geschuldet sind, was verständlich ist, da die betreffenden Regierungen ja von ihren jeweiligen nationalen Bürgern gewählt wurden. Gleichzeitig aber erschweren sie auch eine effiziente europäische Lösung, was in den übrigen Ländern europaskeptische Parteien begünstigen und sozialdemokratischen Parteien schaden kann. Teilen Sie diese Diagnose? Und wenn ja, bedeutet das, dass die SPE-Spitze mehr Macht erhalten sollte, um gemeinsame Positionen gegenüber nationalen Mitgliedsparteien durchzusetzen?

Richard-Molard: Die Sozialdemokratische Partei Europas ist eine Allianz von Parteien. Wie ich zuvor geschrieben habe, sind wir leider derzeit noch nicht in einer Phase der europäischen Integration, in der die Parteien von den europäischen Bürgern belebt werden und unabhängig von ihrer Nationalität agieren. Das politische Europa steckt noch in den Kinderschuhen, und die SPE ist dabei noch führend. Da es sich um die einzige Partei mit einem Embryo an gesamteuropäischem Bewusstsein handelt, hat sie zum Beispiel in einer gesamteuropäischen Kampagne die UEF-Spitzenkandidateninitiative „Who is your candidate?“ unterstützt und eben auch die Bewegung der SPE-Aktivisten eingerichtet, die den künftigen großen gesamteuropäischen politischen Bewegungen vorangeht, die wir hoffentlich in einigen Jahrzehnten erleben werden.

Die unklare Kompetenzordnung der EU spaltet die Partei

Ausgehend von dieser Feststellung muss man verstehen, dass die SPE-Mitgliedsparteien einerseits unterschiedliche politische Kulturen haben und sich andererseits in einem politischen Kontext bewegen, der weiterhin vor allem national ist. Infolgedessen kommt es automatisch zu unterschiedlichen und manchmal diametral entgegengesetzten Positionen, die den Zusammenhalt innerhalb der SPE und der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament erschüttern. Es gibt keine offensichtliche Lösung, um mit diesen Spaltungen umzugehen, die immer existieren werden, solange die Frage der Kompetenzverteilung nicht gestellt wird.

Die Teilung entsteht tatsächlich nicht so sehr aus der – durchaus realen – Schwierigkeit des interkulturellen Dialogs, sondern eher aus dem Umstand, dass bestimmte Kompetenzen zwischen der nationalen Ebene und der europäischen Ebene geteilt sind und die Politiker der Mitgliedstaaten diese Fragen für nationale Zwecke instrumentalisieren. Solange die politische Verantwortlichkeit geteilt und damit inexistent ist, werden diese gespaltenen Meinungen existieren, da sie es erlauben, sich um die eigene Verantwortung zu drücken.

Kein Zwang gegen nationale Parteien

Keinen Sinn hat es, Zwang auszuüben und der SPE mehr Macht zu geben, damit diese je nach politischer Linie ausschließen oder einschließen kann. Erstens ist die SPE eine Allianz des guten Willens und keine monolithische politische Einheit. Zweitens würde es nichts nützen, denn solange die europäischen Kompetenzen nicht vollständig auf die europäische Ebene übertragen werden, bleibt die Frage nach der Verantwortlichkeit offen, und damit wird auch das Gravitationszentrum der politischen Macht auf Ebene der Mitgliedstaaten bleiben. Drittens schließlich hat besonders unsere politische Familie eine echte Kultur des Dialogs und der Meinungsverschiedenheit. Gegen diese Differenzen vorzugehen würde bedeuten, die wichtigste Quelle unseres politischen Reichtums zu leugnen.

Keine gemeinsame Position kann durchgesetzt werden, solange das wichtigste politische Gravitationszentrum nicht auf europäischer Ebene liegt. Diese Macht so nach dem Subsidiaritätsprinzip zu organisieren, dass die lokale Ebene weiterhin über ihre eigene Zukunft entscheiden kann, während die europäische Ebene für die Entscheidungen zuständig wird, die nur sie treffen kann, das ist jedenfalls die Entwicklung, die die SPE-Aktivisten unterstützen.

Die größte politische Herausforderung der Menschheitsgeschichte

D(e)F: Wird ein Tag kommen, an dem die sozialdemokratischen Wähler in Europa nicht mehr sagen: „Bei der letzten Wahl habe ich für die SPD, den PS, die Labour Party gestimmt“, sondern: „für die SPE“?

Richard-Molard: Wenn dieser Tag kommt, wird es uns gelungen sein, die Aufgabe des politischen Europas zu lösen und in ein System föderalen Typs einzutreten. Ich hoffe, dass dieser Tag kommt, denn das wird bedeuten, dass wir unsere nationalen Egoismen und Beharrungskräfte überwunden haben. Es wird darüber hinaus bedeuten, dass wir einen institutionellen Rahmen mit einer subsidiären und gerechten Kompetenzverteilung geschaffen haben. Es wird schließlich auch bedeuten, dass wir die größte politische Herausforderung der Menschheitsgeschichte gemeistert haben, nämlich unterschiedliche Völker so weit zu vereinen, dass wir ihnen eine gemeinsame demokratische und funktionale Repräsentation gegeben haben. Wenn wir also dorthin gelangen, könnte ich nur eines sagen: „Hut ab!“

Gabriel Richard-Molard ist Sprecher der SPE-Aktivisten Deutschland sowie europapolitischer Beauftragter des Auslandsverbands des französischen Parti Socialiste. Derzeit beendet er seine Doktorarbeit über die interkommunale grenzüberschreitende Justizzusammenarbeit. Gabriel Richard-Molard hat beim Bundestag, bei der Assemblée Nationale und beim Europäischen Parlament gearbeitet.

Dieses Interview wurde im Februar 2016 per E-Mail geführt.

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Bild: Gabriel Richard-Molard.
Übersetzung aus dem Französischen: Manuel Müller.

« Il est naïf de penser que seules les directions de partis peuvent faire évoluer le débat vers plus d’Europe » : Une interview avec Gabriel Richard-Molard

PPE, PSE, ALDE et les autres : Les partis européens (pour une liste complète, voir ici) pourraient être la clé d’une démocratie représentative au niveau européen, mais jusqu’à présent, ils ne sont guère présents dans le débat public. Quel rôle devraient-ils jouer dans l’UE à l’avenir, et qu’est-ce qui est nécessaire pour atteindre cet objectif ? Dans une série d’articles invités, des représentants de la politique et de la science répondent ici à cette question. Aujourd’hui : Gabriel Richard-Molard. (Au début de la série).


Gabriel Richard-Molard.
D(e)F : Vous êtes l’un des fondateurs des « militants du PSE » (PES activists), une organisation de base du Parti Socialiste Européen, et le porte-parole de sa section allemande. Qui sont les « militants du PSE » ? Quelle était la motivation pour les créer et quelle est sa fonction dans le PSE aujourd’hui ?

Gabriel Richard-Molard : Les militants du PSE ont été fondés en 2005 suite au congrès de Madrid et à l’initiative alors de Philip Cordery, secrétaire général du PSE, et de Poul Nyrup Rasmussen, alors président du PSE. L’idée développée par ces deux socialistes était de créer rien de moins qu’une nouvelle génération de militants socialistes qui ne soient plus intégralement dans le schéma politique national traditionnel mais bien des militants européens avant toute chose, dévoués à la cause européenne et surtout vecteurs d’une européanisation des partis nationaux, membres du PSE.

Avec le recul, je suis convaincu de la justesse et de la pertinence de l’initiative. Les Partis membres du PSE ne peuvent évoluer par le haut avec une direction qui serait soudainement extrêmement pro-européenne et donc prête à tout bouleverser pour prendre le chemin de l’intégration politique européenne. Un parti national est élu par des citoyens des États-membres et non par ceux du pays d’à coté.

De fait, il est naïf de penser que seules les directions de partis peuvent faire évoluer le débat vers plus d’Europe dans les États-membres. Non, en fait, un parti est influencé par ses militants qui sont les mandataires politiques de demain. Ce sont ces militants que le mouvement des militants du PSE veut toucher. En leur montrant que nos thématiques socialistes traditionnelles sont intimement imbriquées dans notre capacité collective en Europe de faire avancer une politique sociale, nous créons une base militante pro-européenne qui fait cruellement défaut aujourd’hui.

Bilan mitigé

Le bilan que nous devons tirer après 10 ans d’existence de ce mouvement est mitigé. Cela pour plusieurs raisons. Deux m’apparaissent comme les plus évidentes. La première est la réticence des militants à s’engager dans un mouvement uniquement tourné vers l’Europe. Pour beaucoup, la politique reste locale avant d’être nationale et européenne. Ceci explique que les structures locales du PSE restent encore relativement confidentielles.

La seconde raison est la réticence des Partis nationaux mais également du PSE lui-même à trop « indépendentiser » le mouvement des militants du PSE. Ce mouvement en effet n’a pas statutairement vocation à devenir une force politique à part entière (soit un autre parti). Il doit rester lié au PSE mais surtout aux partis membres puisque chaque militant du PSE doit être d’abord un militant d’un parti national. Ce lien fort avec le fait d’être membre d’un parti national limite considérablement l’action des militants du PSE qui restent assujettis à la volonté des partis membres du PSE au sein de son directoire.

Apporter des solutions sociales à l’échelle continentale

La troisième raison est le manque de militants. Nos partis sociaux-démocrates et socialistes traversent une crise de confiance considérable. Les messages traditionnels vers la classe moyenne et pauvre ne passent plus aussi bien que par le passé car vraisemblablement la social-démocratie n’a pas réussi à saisir les aspirations sociales de ces populations. En laissant le champ libre, non pas par choix mais plutôt par impuissance collective, nous avons laissé spécifiquement la thématique européenne devenir l’avatar de toute la peur concentrée autour de la globalisation et de ses conséquences sociales terribles.

La génération des baby-boomers politisés ayant vécu l’Europe comme une clé majeur de compréhension et d’action pour le monde et pour le continent est en train de se retirer de la vie politique. La génération suivante et la mienne n’ont plus cette flamme européenne. Elle n’est pas morte pour autant mais doit être ravivée et surtout l’on doit lui trouver du carburant. Ce carburant, c’est clairement les solutions sociales à l’échelle continentale que nous pouvons apporter.

Les militants, aiguillon politique auprès des leaders du parti

C’est notre rôle au sein du PSE où nos militants de tous les États-membres de l’Union continuent de jouer un rôle important d’aiguillon politique auprès des leaders du parti et des partis nationaux. Nous sommes ceux également qui font les campagnes européennes et de ce fait agissons comme les « meinungsbilder » européens au sein de nos partis nationaux. Cela n’est cependant pas assez et nous nous battons maintenant depuis quelques années avec la présidence du Parti pour pouvoir obtenir des droits de vote aux différents congrès. En effet, les militants n’ont toujours pas le droit de voter le programme du Parti, ce qui est laissé aux partis membres. Cette situation est démocratiquement très discutable et ce d’autant plus que le mouvement des militants du PSE est en expansion.

C’est le cas notamment en Allemagne où nos 30 groupes locaux regroupent plusieurs centaines de militants. Notre action est localement d’animer le débat européen mais aussi de servir d’aiguillon à la direction du Parti sur les sujets européens. Notre principale revendication est par exemple que la SPD crée un groupe de travail Europe officiel et ouvert aux militants afin que nous puissions ouvertement échanger et parler d’Europe. On peut effectivement s’étonner qu’à coté des très nombreuses AG et AK que la SPD ait en son sein, aucun groupe de réflexion public sur l’Europe n’existe. C’est notre combat. Faire de l’Europe un sujet transversal, compréhensible et assimilable par toutes et tous est notre raison d’exister au sein de la SPD et bien sûr du PSE. 

Le PSE n’est pas comparable à un parti national

D(e)F : Vous avez mentionné que les militants du PSE demandent un droit de vote aux congrès du parti. En effet, c’est un problème qui n’affecte pas seulement le PSE, mais d’une manière ou d’une autre tous les partis européens : bien qu’ils aient réussi de connecter les dirigeants des différents partis nationaux, les simples membres du parti n’ont presque pas de place au niveau européen. Selon vous, qu’est-ce qu’on peut faire pour mieux impliquer les bases dans les décisions du parti ?

Richard-Molard : Pour répondre à cette question, il faut redéfinir de quoi nous parlons et comment nous en parlons. En effet, nous parlons ici d’une organisation qui regroupe des Partis-membres et dont les militants ne le sont qu’uniquement du fait de leur prime appartenance à un mouvement politique au niveau national. Bien qu’il s’appelle Parti, le Parti Socialiste Européen n’est aucunement comparable à un parti national. En effet, dans un parti classique, ses membres sont des personnes privés exerçant un droit politique qui est celui à titre individuel ou collectif de défendre des idées dans le cadre de motions ou de regroupements.

Les membres du PSE sont d’abord les partis membres qui exercent leurs droits au sein de la présidence du PSE et qui par leurs actions et leurs revendications infléchissent la direction du Parti dans un sens ou l’autre. Ceci est le constat quasiment institutionnel que l’on peut dresser. Il est pour des fédéralistes ou à tout le moins des supporters de l’intégration politique européenne, notoirement insuffisant, voire complètement décourageant au regard des objectifs de cette intégration européenne.

Une machine politique qui ne peut plus être arrêtée

Il faut néanmoins considérablement tempérer ce constat un peu dur, pour bien considérer que le PSE du fait de la création du mouvement des militants du PSE est le seul mouvement pan-Européen qui a officiellement engagé et soutenu un mouvement militant transeuropéen. Ni les verts pourtant si européens, ni aucun autre parti, ne peut se réclamer d’avoir autant de militants répartis sur l’ensemble du territoire de l’Union. Ces derniers néanmoins, même s’ils sont nombreux, ne sont pas les uniques militants du PSE, ils le sont par procuration, du fait de l’appartenance de leur parti au PSE.

Cet état est transitoire et est assurément frustrant pour ces militants du PSE qui toujours plus nombreux voient et vivent politiquement la nécessité de projeter l’action politique du local à l’européen sans passer par le national. Le PSE en 2005 en créant les militants à lancé une machine politique dont la locomotive (qui est représentée par les militants) ne peut plus être arrêtée.

Un droit de vote au sein de la direction du PSE

Notre revendication qui est celle d’obtenir un droit de vote au sein de la direction du PSE est dans ce contexte complètement légitime et logique. Elle pose néanmoins des questions structurelles et institutionnelles importantes. Si cela devait être possible, le mouvement des militants du PSE devrait se découpler de l’obligation d’être militant d’un parti membre du PSE et de ce fait le parti perdrait un lien important avec les organes qui dans l’étape actuelle de la construction politique européenne le font vivre.

Nous devons donc envisager de créer un mécanisme transitoire qui permette aux militants actuels d’élire leurs instances dirigeantes et ainsi de pouvoir se faire représenter à la présidence et pendant les congrès du PSE. Cela évitera l’écueil d’une indépendantisation politique nécessaire mais prématurée compte tenu de l’absence relative de conscience politique européenne. Cette conscience existe, est faible et doit continuer à se développer, nous, les militants du PSE, sommes les principaux artisans de ce mouvement.

L’Europe politique en est à ses balbutiements

D(e)F : Au fil du temps, le PSE (comme les autres partis européens) a réussi à développer des programmes politiques toujours plus substantiels. Néanmoins, dans les moments les plus critiques, il semble de manquer encore de l’unité. Par exemple, dans la crise grecque de l’année passée, Sigmar Gabriel, contrairement à la plupart du PSE, ne voulait pas exclure la possibilité d’un « Grexit ». Et dans la crise des réfugiés actuelle, les gouvernements social-démocrates de la Slovaquie et la République tchèque sont entre les plus réticents à une solution solidaire européenne.

Il est clair que ces cavaliers seuls répondent surtout à des considérations nationales, et c’est compréhensible, parce qu’ils sont élus par ses citoyens nationaux. Mais au même temps ils compliquent aussi une solution efficace européenne, ce qui peut favoriser les partis eurosceptiques et nuire aux partis socialistes dans les autres pays. Partagez-vous ce diagnostic ? Et si c’est le cas, ça veut dire que la direction du PSE devrait avoir plus de pouvoirs pour imposer des positions communes aux partis-membres nationaux ?

Richard-Molard : Le Parti Socialiste Européen est une alliance de partis. Comme je l’écrivais précédemment, nous ne sommes malheureusement pas à l’heure actuelle dans une étape de l’intégration politique européenne où des partis, animés et alimentés par des citoyens européens, indépendamment de leur nationalité agissent. L’Europe politique en est à ses balbutiements et le PSE malgré cela est en pointe. Car il s’agit du seul parti avec un embryon de conscience pan-Européenne, c’est par exemple celui qui a très largement soutenu, dans une campagne pan-Européenne, l’initiative de l’UEF du Spitzenkandidat avec le projet « Who is your candidate ? », mais également et bien sûr avec la création officielle du mouvement des militants du PSE qui préfigure et précède les futurs grands mouvements politiques paneuropéens que nous connaîtrons, espérons-le dans quelques décennies. 

La division du parti naît de la manque de compétences claires de l’UE

Sur la base de ce constat, il faut bien comprendre que les partis membres du PSE ont d’une part une culture politique différente les uns des autres et d’autre part évoluent dans un contexte politique qui reste national avant tout. Par voie de conséquence, des positions différenciés et parfois diamétralement opposées sont automatiques et viennent chahuter la cohésion au sein du PSE et du groupe socialiste au Parlement européen. Il n’y a pas de solution évidente pour contrer ces divisions qui existeront toujours tant que la question des compétences ne sera pas posée.

La division ne naît pas en effet tant de la difficulté du dialogue inter-culturel qui est une évidence mais plus du fait que pour une compétence donnée appartenant à moitié au niveau national et pour l’autre moitié au niveau européen, les politiques des États-membres vont instrumentaliser ces questions à des fins nationales. Tant que la responsabilité politique est partagée et donc inexistante, ces opinions divergentes existeront car elles permettent de se défausser de ses responsabilités.

Pas de coercition sur les partis nationaux

La coercition et le fait de donner plus de pouvoir au PSE afin que ce dernier puisse exclure ou inclure selon une ligne politique ne fait aucun sens. Premièrement car le PSE est une alliance de bonnes volontés et non une entité politique monolithique. Deuxièmement, cela ne servirait à rien car tant que les compétences européennes ne sont pas intégralement transférées au niveau européen, la question de la responsabilité restera posée et avec elle le fait que si le pouvoir n’est pas véritablement au niveau européen, alors le centre de gravité du pouvoir politique restera au niveau des états-membres. Troisièmement et enfin, notre famille politique et particulièrement celle-là, possède une réelle culture du dialogue et de la divergence d’opinion. Aller contre ces différences signifierait nier la source principale de notre richesse politique. 

Aucune position commune ne pourra être imposée tant que le centre de gravité politique du niveau supérieur ne sera pas au niveau européen. Amener ces pouvoirs à s’organiser de manière subsidiaire en laissant au niveau local décider de son avenir et au niveau européen prendre les décisions pour tous que lui seul peut prendre, voilà en tous cas le mouvement que les militants du PSE soutiennent. 

Le plus grand challenge politique de l’Histoire de l’humanité

D(e)F : Un jour viendra où les électeurs social-démocrates en Europe ne diront plus « Dans ces élections, j’ai voté pour la SPD, le PS, le Labour Party », mais : « … j’ai voté pour le PSE » ?

Richard-Molard : Si ce jour vient, c’est que nous aurons réussi le pari de l’Europe politique et donc de rentrer dans un système de type fédéral. J’espère que ce jour viendra car cela signifiera que nous aurons réussi à désamorcer nos égoïsmes nationaux et nos conservatismes. Cela signifiera au-delà de cela que nous avons réussi à créer un cadre institutionnel avec une répartition subsidiaire et juste des compétences. Cela signifiera enfin que nous aurions remporté le plus grand challenge politique de l’Histoire de l’humanité et qui serait d’avoir réussi à unifier des peuples différents au point de leur donner une représentation démocratique et fonctionnelle commune. Si nous en arrivons donc là, je n’aurais qu’une chose à dire : « Chapeau » !

Gabriel Richard-Molard est le coordinateur des militants du PSE pour l’Allemagne. Il est également en charge des questions européennes pour la Fédération du Parti Socialiste français à l’étranger. Il termine actuellement sa thèse de doctorat sur la coopération juridique intercommunale en contexte transfrontalier. Gabriel a travaillé au Bundestag, à l’Assemblée nationale et au Parlement européen.

Cette interview a été réalisée en février 2016 par e-mail.

Le futur des partis européens

1: Serienauftakt [DE]
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk [DE] ● Reinhard Bütikofer
3: Europarties: up and growing or in decline? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: On the Future Role of Europarties [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls [DE] ● Joseph Daul
6: Cocktail party or political party? On the future of the Pan-European parties [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: « Il est naïf de penser que seules les directions de partis peuvent faire évoluer le débat vers plus d’Europe » [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Los partidos europeos y los límites y potenciales de Europa [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europarties – plentiful under-researched diamonds in the rough [DE / EN] ● Michael Kaeding et Niko Switek
10: Fédéraliser les partis d’une même famille politique [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Image: Gabriel Richard-Molard.

17 März 2016

Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien

EVP, SPE, ALDE & Co.: Die europäischen Parteien (hier eine Übersicht) könnten der Schlüssel zu einer repräsentativen Demokratie auf europäischer Ebene sein, doch bislang hört man in der Öffentlichkeit nur selten von ihnen. Welche Rolle sollen sie in der EU in Zukunft spielen, und was ist nötig, um das zu erreichen? In einer Serie von Gastartikeln antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft auf diese Frage. Heute: Julie Cantalou. (Zum Anfang der Serie.)

„Der erste Schritt, um von bloßen Cocktailpartys zu echten politischen Parteien zu werden, ist eine Mitgliederbasis aufzubauen.“
In einem Kontext der Politikverdrossenheit und der allgemeinen Kritik am europäischen Projekt über die Zukunft gesamteuropäischer Parteien zu sprechen, mag als ein müßiges Unterfangen gesehen werden. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch. Warum also nicht die Zukunft der europäischen Parteien und damit auch der Europäischen Union diskutieren? Vielleicht werden die wirtschaftliche, politische und soziale Krise notwendige Änderungen sowohl des Systems als auch seiner Akteure auslösen. Vielleicht auch nicht. Ich überlasse diese Frage der Geschichte; aber darum geht es hier nicht.

Cocktail-Party oder Partei?

Die gesamteuropäischen Parteien haben in der Entwicklung der Europäischen Union bis jetzt keine signifikante Rolle gespielt. Die Mitgliedstaaten, und damit die nationalen Regierungen und Parteien, haben die aufeinander folgenden Änderungen an Verträgen und Institutionen eingeleitet, ausgehandelt und verabschiedet, einschließlich der Schaffung der gesamteuropäische Parteien. Um es ganz unverblümt zu sagen: Europäische Parteien ähneln eher einer Cocktail-Party als einer politischen Partei. Sie treten nicht zu Wahlen an, sie entwickeln nur selten Politikvorschläge und sie sind nicht mitgliederbasiert. Vor allem im Fall der großen politischen Familien wie den Christdemokraten und Sozialdemokraten dienen sie eher als Treffpunkt für Spitzenpolitiker, um Medienaufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Deals auszuhandeln.

Die kleineren politischen Familien sind bis zu einem gewissen Grad über die Organisation von Cocktailpartys hinausgegangen, um gemeinsame Positionen und Wahlmanifeste zu entwickeln. Aber bis heute hat keine der gesamteuropäischen Parteien mit der wachsenden Rolle und Einfluss der Fraktionen im Europäischen Parlament Schritt gehalten. Der hauptsächliche Druck für Veränderung in der Funktionsweise und den Institutionen der EU kam vom Europäischen Parlament, das seine eigene Rolle zur Geltung brachte. Zum größten Teil hat das Parlament die Rolle übernommen, die traditionell von politischen Parteien ausgeübt wurde: Politik zu betreiben und die Wünsche der Menschen in Politikvorschläge umzusetzen. Auf EU-Ebene sind die Fraktionschefs oft besser bekannt und mit ihren Meinungen zu den Herausforderungen und Lösungen für das europäische Projekt präsenter als die Vorsitzenden ihrer entsprechenden Parteien. Das kommt in der nationalen Politik nur selten vor.

Was war zuerst da: die Henne oder das Ei?

Woran liegt es, dass die europäischen Parteien nicht auf die gleiche Weise arbeiten wie nationale Parteien und auch nicht die gleiche Rolle dabei spielen, die Meinungen der Bürger in Politikvorschläge umzusetzen? Um es ganz einfach zu sagen: Ich nehme an, dass sie weder den Raum noch die Anreize haben, das zu tun. Der wichtigste Mechanismus, den politische Parteien benutzen, um Politikvorschläge zu entwickeln, zu testen und zu verwirklichen, ist die Teilnahme an Wahlen. Ohne Wahlen gibt es keine echte Parteipolitik.

Politische Parteien auf europäischer Ebene wären ein wichtiger Schritt, um eine europäische „Polity“ zu errichten. Europäische Parteien könnten, wenn es gesamteuropäische Wahlen gäbe, ein großartiger Weg sein, um die Bürger zu animieren, eine echte europäische Debatte über Politikoptionen zu schaffen und Menschen zu mobilisieren, sich in die Politik auf EU-Ebene einzumischen. Gesamteuropäische Parteien zu stärken wäre auch von großem Vorteil, um der Macht der Mitgliedstaaten etwas entgegenzusetzen, um die Transparenz der Europapolitik zu erhöhen und letztlich von der bloßen Politikverwaltung zu einer wirklichen Debatte über Ideen zu gelangen.

Oder ist es doch andersherum? Sollten wir zuerst „echte“ gesamteuropäische Parteien aufbauen und erst dann mit ihnen zu gesamteuropäischen Wahlen antreten? Oder sollten wir erst die Institutionen und Verfahren ändern, um den europäischen Parteien einen politischen Handlungsraum zu geben? Ich denke, die Antwort ist: Beides zugleich. Wir müssen uns weiterhin für gesamteuropäische Wahlen einsetzen, für wenigstens einen Teil der Mitglieder des Europäischen Parlaments, während wir zugleich am Aufbau echter gesamteuropäischer Parteien arbeiten. Und wie sollten diese Parteien aussehen?

Alle Macht dem Volke

Sie mögen sich fragen, warum ich überhaupt einen Artikel über die Zukunft der europäischen Parteien schreibe, wenn mein Bild von ihnen so düster ist. Nun, das Schöne daran, etwas neues zu errichten, ist die Chance, von anderer Menschen Fehler zu lernen. Im derzeitigen Klima politischer Apathie, Verdrossenheit und vor allem wachsender (und oft berechtigter) Kritik an politischen Parteien in vielen Teilen der EU ist es nicht einfach, eine Parteistruktur aufzubauen. Jeder, der mit Parteipolitik zu tun hat, sollte sich selbst fragen: Wie kann ich eine Partei schaffen, die nicht in diese Falle tappt?

Der erste Schritt, um die europäischen Parteien von bloßen Cocktailpartys zu „echten“ politischen Parteien werden zu lassen, ist eine Mitgliederbasis aufzubauen. Die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE-Partei) war die erste gesamteuropäische Partei, die diesen Schritt getan hat und 2011 einen Status für Individualmitglieder eingeführt hat. Seitdem sind fast 2000 Menschen von Portugal bis Estland Direktmitglieder der ALDE-Partei geworden. Über vierzig Koordinatoren mobilisieren auf dem ganzen Kontinent unsere Ideen, Initiativen und Expertise unter Führung eines Leitungskomitees (Steering Committee), dem ich seit 2014 vorsitze.

Die ALDE ist auf dem Weg zu einer wirklich gesamteuropäischen Partei noch einen Schritt weiter gegangen, als sie auf dem Parteikongress im letzten November den Delegierten der Individualmitglieder das Stimmrecht gab. Die Einrichtung und Stärkung der Individualmitgliedschaft ist ein neuartiger Weg für Bürger, sich direkt an der europäischen Politik zu beteiligen, indem wir gemeinsame Politiken entwickeln und unsere Vertreter ernennen.

In der Politik der Postmoderne ändern sich die Rolle, die Funktionsweise und die Form politischer Parteien. Jüngere Generationen suchen Parteien, die eher Graswurzelbewegungen ähneln und sich für einzelne Anliegen und Themen einsetzen statt für Ideologien. Viele enttäuschte Bürger wünschen sich, dass die Parteien transparenter wären, demokratischer und auf jeden Fall weniger hierarchisch. Lasst und nicht diese Fehler wiederholen, sondern Parteien schaffen, die den Erwartungen der Bürger entsprechen. Das ist nicht nur notwendig, um Mitglieder und Wähler zu gewinnen, es ist auch gut und richtig.

Julie Cantalou ist Vorsitzende des Leitungskomitees (Steering Committee) der Individualmitglieder der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE).

Die Zukunft der europäischen Parteien

1: Serienauftakt
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk ● Reinhard Bütikofer
3: Europäische Parteien: im Kommen oder im Niedergang? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: Zur künftigen Rolle der europäischen Parteien [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls ● Joseph Daul
6: Cocktail-Party oder politische Partei? Zur Zukunft der gesamteuropäischen Parteien [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: „Es ist naiv zu denken, dass die Parteispitzen allein die Debatte in Richtung mehr Europa lenken könnten“ [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Die europäischen Parteien und die Grenzen und Potenziale Europas [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europäische Parteien – reichlich untererforschte Rohdiamanten [DE / EN] ● Michael Kaeding und Niko Switek
10: Parteien derselben politischen Familie föderalisieren [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Bilder: Nathan Forget [CC BY 2.0], via Flickr; Julie Cantalou.
Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller

Cocktail party or political party? On the future of the Pan-European parties

EPP, PES, ALDE and the others: The European parties (for a complete list see here) could be the key for a representative democracy on the European level, but up to now they are hardly present in the public debate. Which role should they play in the EU in future, and what is necessary to achieve this? In a series of guest articles, representatives from politics and science answer here to this question. Today: Julie Cantalou. (To the start of the series.)

“In order to change from a mere cocktail party into a ‘real’ political party, the first step is to create a membership base.”
Discussing the future of pan-European political parties in a context of general criticism of the European project and apathy towards politics may seem a futile exercise. But, to paraphrase Plato, necessity may be the mother of innovation. Thus, why not discuss the future of European political parties and by extension of the European Union? Maybe the economic, political and social crisis will trigger necessary changes of both the system and its actors. Maybe not. Only history will be able to tell, but that is not the issue at hand.

Cocktail party or political party?

Pan-European parties have not played a significant role in the development of the European Union up until now. Member states, and consequently national governments and parties, have triggered, negotiated and approved subsequent changes of the treaties and institutions, including the creation of pan-European parties. To be very blunt, European parties resemble more a cocktail party than a political party: they do not run in elections, they rarely develop policies and they are not membership based. Especially in the case of big political families such as the Christian democrats and Social democrats, they serve as gathering for high-profile politicians to attract media attention and broker deals.

Smaller political families have gone beyond organising cocktail parties to some extent to develop common positions and electoral manifestos. But, to this day, none of the pan-European parties have kept up with the increasing role and influence of the political groups in the European Parliament. The main push for change in the functioning and institutions of the EU has come from the European Parliament asserting its role. To a large extend, the parliament has taken the role traditionally held by political parties: to make politics and translate people’s demands into policies. At EU level, the leaders of the parliamentary groups are often better known and more vocal on their views about the challenges and solutions for the European project than the leaders of their corresponding parties, which is rarely the case in national politics.

Which comes first, the egg or the chicken?

So, if European political parties do not work in the same ways as national political parties and do not have the same role of translating citizens’ views into policies, why is that so? Well, to keep it very simple, I guess they have no space and no incentives to do so. The major mechanism political parties use to develop, test and implement policies is to run in elections. No elections, no real political parties.

Political parties at the European level would be an important step in building a European polity. European parties, if we were to have pan-European elections, could be a fantastic way to galvanize citizens, create a real European debate on policies and mobilise people to participate in politics at EU level. Strengthening Pan-European parties would also be a significant asset in counterbalancing the power of member states and to increase transparency of European politics, and would certainly be of great help to move away from the administration of things to a real debate on ideas.

Or is it the other way round? Should we first build ‘real’ pan-European political parties and only then have them run in pan-European elections? Or should we start by changing the institutions and procedures, to give European parties a space for political action? I guess the answer is: both at the same time. We need to continue advocating for pan-European elections, of at least a part of the members of the European Parliament, while working on building true pan-European parties. What should these parties look like?

Power to the people

You may ask yourself, why writing an article about the future of pan-European political parties if my view on them is so grim? Well, because, the fantastic thing about building something new is to have the chance to learn from others’ mistakes. In the current climate of political apathy, disaffection and especially the growing (and often justified) criticism towards political parties in many parts of the EU it is not an easy task to develop a party structure. Anyone involved in party politics would ask him or herself: how do I build a party that does not fall into this trap?

For the European political parties to change from being a mere cocktail party into a ‘real’ political party, the first step is to create a membership base. The Alliance of Liberals and Democrats for Europe Party (ALDE Party) has been the first pan-European party to take this step and create the status of individual membership in 2011. Since then, close to 2000 members have become a direct member of the ALDE Party from Portugal to Estonia. Over 40 coordinators mobilise our ideas, initiative and expertise across the continent under the leadership of the Steering Committee, which I chair since 2014.

ALDE Party took a step further in the direction of becoming a truly pan-European party when granting voting rights to individual members’ delegates at the Party Congress last November. The creation and empowerment of individual membership is a novel route for citizens to participate directly in European politics, in developing common policies and choosing our representatives.

In post-modern politics, the role, functioning and shapes of political parties are changing. Younger generations are looking for parties that resemble grassroots movements, advocating causes and issues rather than ideology. Many disaffected citizens wish parties were more transparent, more democratic and certainly less hierarchical. Let us not repeat these mistakes and create parties that respond to citizens’ expectations. It is not only a necessity if we want to secure membership and votes, it is also the right thing to do.

Julie Cantalou is chair of the Steering Committee of Individual Members of the Alliance of Liberals and Democrats for Europe (ALDE Party).

The Future of the European Parties

1: Serienauftakt [DE]
2: Europäische Parteien: Von der Radnabe zum Netzwerk [DE] ● Reinhard Bütikofer
3: Europarties: up and growing or in decline? [DE / EN] ● Isabelle Hertner
4: On the Future Role of Europarties [DE / EN] ● Sir Graham Watson
5: Die europäischen Parteien als Verteidiger des europäischen Gemeinwohls [DE] ● Joseph Daul
6: Cocktail party or political party? On the future of the Pan-European parties [DE / EN] ● Julie Cantalou
7: « Il est naïf de penser que seules les directions de partis peuvent faire évoluer le débat vers plus d’Europe » [DE / FR] ● Gabriel Richard-Molard
8: Los partidos europeos y los límites y potenciales de Europa [DE / ES] ● Mar Garcia Sanz
9: Europarties – plentiful under-researched diamonds in the rough [DE / EN] ● Michael Kaeding and Niko Switek
10: Fédéraliser les partis d’une même famille politique [DE / FR] ● Pierre Jouvenat

Pictures: Nathan Forget [CC BY 2.0], via Flickr; Julie Cantalou.