14 April 2017

Bleibt bei uns: Deutsche Demos zu Wahlen in Frankreich und den Niederlanden

Da die Niederländer ohnehin nichts Besseres vorhatten, sind sie einfach mal bei uns geblieben.
Ein neues Phänomen breitet sich in Deutschland aus: Demonstrationen, die das Ergebnis nationaler Wahlen in anderen Ländern beeinflussen sollen. Einen Vorläufer gab es bereits vor dem britischen Brexit-Referendum im vergangenen Juni, als unter anderem der Spiegel mit dem Appell „Bitte geht nicht!“ aufmachte und auf Twitter der Hashtag #staywithus erste Popularität erlangte. Vor der niederländischen Parlamentswahl im März rief dann Pulse of Europe dazu auf, „Liebesbekundungen“ gegenüber dem Nachbarland abzugeben, damit „die Menschen dort vor ihrer Entscheidung spüren, dass wir gemeinsam mit ihnen in der Europäischen Union verbunden bleiben wollen“. Und auf #blijfbijons folgte schließlich #restonsensemble: Auch für die französische Präsidentschaftswahl, die am 23. April und 7. Mai stattfinden wird, sind wieder zahlreiche Aktionen geplant, sowohl von Pulse of Europe als auch von The European Moment in Berlin.

Zusammenbleiben“ gegen rechte Nationalisten

Auffällig an diesen „Liebesbekundungen“ ist, dass sie zwar eine Wahl zum Thema haben, aber jede explizite Bezugnahme auf Parteien vermeiden. Es handelt sich also um etwas anderes als die grenzüberschreitende Wahlkampfhilfe zwischen Mitgliedern derselben europäischen Partei, wie sie schon seit langem üblich ist. So unterstützte etwa Angela Merkel (CDU/EVP) bei der letzten französischen Präsidentschaftswahl 2012 Nicolas Sarkozy (LR/EVP), während sich umgekehrt vor der deutschen Bundestagswahl 2013 François Hollande (PS/SPE) hinter Peer Steinbrück (SPD/SPE) stellte.

Die Demonstrationen von Pulse of Europe und The European Moment legen sich hingegen auf keinen spezifischen Kandidaten fest, dessen Unterstützung sie den Wählern im anderen Land ans Herz legen. Vielmehr steht hinter ihrer allgemein formulierten Botschaft des „Zusammenbleibens“ eine rein defensive Position: Wen auch immer die Niederländer und Franzosen an die Regierung bringen, es soll niemand sein, der sich für einen Austritt des Landes aus der EU einsetzt. Und natürlich ist klar, wer damit gemeint ist – nämlich die Rechtsnationalisten Geert Wilders (PVV/BENF) und Marine Le Pen (FN/BENF).

Ist es legitim, zu Wahlen in anderen Ländern zu demonstrieren?

Was ist davon zu halten? Ist es legitim zu demonstrieren, um Wahlen in anderen Ländern zu beeinflussen? Einem Anhänger des Prinzips der nationalen Souveränität stellen sich bei diesem Gedanken natürlich die Nackenhaare auf: Wie ein nationales Staatsvolk wählt, ist geradezu der Inbegriff von „innerer Angelegenheit“, in die sich Ausländer nach traditionellem Souveränitätsverständnis nicht einzumischen haben.

Hinzu kommt auch noch, dass die Demonstrationen ausgerechnet in Deutschland stattfinden – also jenem Land, das in den letzten Jahren immer mehr zur europäischen Hegemonialmacht aufgestiegen ist. Vor allem während der Eurokrise nutzte die Bundesregierung ihren Einfluss im Europäischen Rat aktiv, um ihre wirtschaftspolitischen Rezepte durchzusetzen. Und nachdem die Deutschen den übrigen EU-Ländern vorgeschrieben haben, wie sie ihre Sozialsysteme reformieren müssen, wollen sie ihnen nun auch noch erklären, wen sie wählen sollen?

Europäische Wahlen gehen uns alle an

Doch so einfach es ist, ein solches Argument zu konstruieren, so wenig überzeugend ist es. Denn angesichts der vielen grenzüberschreitenden Gesellschaftsverflechtungen ist ein striktes Nichteinmischungsprinzip schon auf globaler Ebene kaum zu halten. Wie etwa die US-amerikanischen Wahlen ausgehen, hat Auswirkungen auf die ganze Welt, und damit haben auch Menschen auf der ganzen Welt ein legitimes Interesse daran, ihre Meinung zu diesen Wahlen zu äußern. Umso mehr gilt das in der Europäischen Union: Schließlich hat das Ergebnis der niederländischen und französischen Wahlen auch unmittelbare Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Ministerrates – und damit auf die europaweit geltende Gesetzgebung. Europapolitik ist Innenpolitik, und europäische Wahlen gehen uns alle an.

Und auch, dass die Demonstrationen gerade in Deutschland stattfinden, ist natürlich kein Argument gegen ihre Legitimität. Die Aktivisten von Pulse of Europe und The European Moment sind ja keine Repräsentanten irgendeines Staates, sondern sprechen letztlich nur für sich selbst: als eine Gruppe von europäischen Bürgern, die sich zu einer Frage von europaweiter Bedeutung äußern.

Haben die Demonstrationen Wirkung?

Jenseits der bloßen Legitimität der Demonstrationen stellt sich aber auch die Frage nach ihrer Wirkung. Lässt sich wirklich ein Niederländer oder Franzose in seiner Wahlentscheidung dadurch beeindrucken, dass in einem anderen Land ein paar tausend Menschen auf die Straße gehen? War es also auch ein Erfolg von Pulse of Europe, dass bei der niederländischen Wahl Geert Wildersʼ PVV so weit hinter ihren Erwartungen zurückblieb?

Mit Sicherheit lässt sich diese Frage natürlich nicht beantworten, aber Zweifel sind jedenfalls angebracht. Denn erstens stand ein möglicher EU-Austritt in den Niederlanden ohnehin nicht im Mittelpunkt der Wahlkampfdebatte – was die Wähler bewegte, waren eher Gesundheitspolitik, der Sozialstaat, innere Sicherheit und Bildung. Zweitens haben wohl gar nicht so viele Niederländer überhaupt von den Demonstrationen erfahren: Einzelne Medien berichteten zwar darüber, doch in den großen Zeitungen wie De Volkskrant und De Telegraaf fand sich vor den niederländischen Wahlen kein einziger Artikel über Pulse of Europe.

Ein Beitrag zur grenzüberschreitenden Politisierung

Allerdings könnten diese skeptischen Einwände auch zu kurz gedacht sein. Denn selbst wenn die Demonstrationen keine unmittelbare Auswirkung auf einzelne Wahlergebnisse haben, ist der Einsatz für den Verbleib eines anderen Landes in der Europäischen Union auch ein Zeichen der grenzüberschreitenden Unterstützung für jene Menschen, die dort dieselben Ansichten vertreten. In den Niederlanden mag das – da der EU-Austritt ohnehin nicht ernsthaft zur Debatte stand – von untergeordneter Bedeutung gewesen sein. Viele britische Europafreunde, die derzeit um ihre Unionsbürgerschaft fürchten müssen, sind für Zeichen der Solidarität aus anderen Ländern hingegen durchaus dankbar.

Darüber hinaus können die Demonstrationen aber auch dazu beitragen, langfristig die Art der öffentlichen Debatte zu verändern. Indem sie zeigen, dass nationale Wahlen in der EU keine rein innere Angelegenheit sind, helfen sie mit, die europäische Gesellschaft grenzüberschreitend zu politisieren. Das intensive Interesse für das Wahlverhalten der Menschen in einem anderen europäischen Land könnte ein erster Schritt sein, damit auch die nächste Europawahl nicht mehr nur als eine Ansammlung von nationalen Teilwahlen, sondern als ein gemeinsamer, gesamteuropäischer Wahlakt verstanden wird.

Untergangsszenarien sind derzeit unwahrscheinlich

Werden die Wahl-Demonstrationen von Pulse of Europe und The European Moment also langfristige Wirkung zeigen? Was ihr Potenzial dazu am meisten einschränkt, scheint mir ihr starker Fokus allein auf die Abwehr der Rechtsaußenparteien zu sein. Gewiss: Wenn man wie die Organisatoren von Pulse of Europe den unmittelbaren Zerfall der Europäischen Union befürchtet, dann liegt es nahe, vor allem jene Politiker in den Blick zu nehmen, die öffentlich den Brexit bejubelt haben und mit einem EU-Austritt ihres eigenen Landes liebäugeln.

Tatsächlich aber sind diese Untergangsszenarien im Moment recht unwahrscheinlich. Denn die Rechtsnationalisten in Europa sind zwar stärker als je zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Von regierungsfähigen Mehrheiten aber sind sie in fast allen Mitgliedstaaten weit entfernt, und auch ihr langer Anstieg in den europaweiten Wahlumfragen hat seit dem Brexit-Referendum Mitte 2016 einige Dämpfer abbekommen.

Speziell in Frankreich scheint es derzeit nahezu sicher, dass Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl in die zweite Runde einzieht, aber nahezu unmöglich, dass sie dort gewinnt. Ihr wahrscheinlichster Gegner, Emmanuel Macron (EM/–) hat in den Umfragen seit Wochen einen stabilen Vorsprung von 20 bis 30 Prozentpunkten; die anderen Kandidaten François Fillon (LR/EVP) und Jean-Luc Mélenchon (PG/EL) stehen kaum schlechter da. Selbst wenn man in Kauf nimmt, dass die Demoskopen die Ergebnisse rechter Parteien bei den letzten Wahlen oft unterschätzten, bräuchte es schon ein größeres politisches Erdbeben, damit Le Pen diesen Rückstand noch aufholen könnte.

Nicht jeder, der nicht rechts außen ist, ist ein „Proeuropäer“

Sich nur auf die schlimmsten Nationalisten zu konzentrieren, bringt deshalb die Gefahr eines falschen Gefühls von Erfolg und Sicherheit mit sich. Insbesondere führt es dazu, dass alle Politiker der etablierten Parteien, die sich nicht offen für einen Austritt aus der EU einsetzen, plötzlich als „Proeuropäer“ gelten. So wurde nach der niederländischen Wahl von deutschen Politikern, aber auch im Pulse-of-Europe-Umfeld viel über das „proeuropäische Wahlergebnis“ gejubelt, weil die rechtsliberale VVD (ALDE) von Premierminister Mark Rutte deutlich vor Geert Wildersʼ PVV (BENF) gelandet war.

Dabei geht jedoch völlig unter, wie sehr sich auch die Parteien der Mitte bereits von europaskeptischen und nationalistischen Diskursen haben anstecken lassen. Wer Mark Rutte, der sich in den letzten Jahren gegen ein höheres EU-Budget und gegen das Spitzenkandidaten-Verfahren bei der Europawahl, gegen eine gemeinsame Sozial- oder Steuerpolitik und für die Rückübertragung europäischer Kompetenzen an die Nationalstaaten ausgesprochen hat, als „Proeuropäer“ bezeichnet, tut ihm mit Sicherheit zu viel der Ehre an.

Und auch in Frankreich wäre es verkehrt, alle Gegenkandidaten von Le Pen pauschal für Europafreunde zu halten. Während das auf Macron durchaus zutreffen mag, steht Fillon für die gaullistische Tradition der nationalen Souveränität und des Intergovernementalismus. Und Mélenchon will sogar eine Kündigung des EU-Vertrags nicht ausschließen, falls es ihm nicht gelingt, die Haushaltsregeln für Euro-Staaten neu zu verhandeln.

Die EU braucht strukturelle Reformen

Der Fokus allein auf die momentane Abwehr der Rechtsaußenparteien übersieht zudem die strukturellen Probleme der EU, durch die die Europaskeptiker erst so stark werden konnten: Ein institutioneller Zwang zur permanenten Großen Koalition und das Fehlen einer loyalen Opposition verhindert demokratische Alternanz und treibt unzufriedene Bürger in die Arme von Nationalpopulisten. Solange die EU dieses Problem nicht löst, werden die Europagegner nicht dauerhaft in die Schranken gewiesen werden können.

Ein bloßes #staywithus genügt also nicht, wenn es nicht außerdem zu einer Reform der EU-Institutionen kommt. Und für diese Reform müssen sich vor allem die Parteien der Mitte bewegen, die heute in fast allen Mitgliedstaaten an der Macht sind: Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale.

Auch die Parteien der Mitte in den Blick nehmen

Es ist richtig, sich auch als Deutscher für die Wahlen in anderen europäischen Ländern zu interessieren, denn was dort geschieht, geht uns alle an. Wenn Pulse of Europe und The European Moment langfristig etwas bewegen wollen, dürfen sie aber nicht nur auf die Rechtsaußenpolitiker fixiert sein, sondern müssen auch die Parteien der Mitte kritisch in den Blick nehmen, die sich seit Jahren zu wenig für die Demokratisierung der EU einsetzen.

Und das nicht nur in Frankreich und den Niederlanden, sondern auch in Deutschland selbst.

Die Demonstrationen von Pulse of Europe finden jeweils sonntags um 14 Uhr in zahlreichen deutschen und europäischen Städten statt. Ein Überblick über alle Orte findet sich hier.
The European Moment, AEGEE Berlin und die Junge Europäische Bewegung demonstrieren anlässlich der französischen Wahlen am 29. April ab 16 Uhr am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Mehr Informationen dazu sind hier zu finden.

Bilder: Why Europe [CC 0], Pulse of Europe, The European Moment.

3 Kommentare:

  1. Hey Manuel,

    Du schreibst: „Ist es legitim zu demonstrieren, um Wahlen in anderen Ländern zu beeinflussen? Einem Anhänger des Prinzips der nationalen Souveränität stellen sich bei diesem Gedanken natürlich die Nackenhaare auf.“

    Habe das Gefühl, dass in dem Begriff der nationalen Souveränität (und dem des nationalen Staatsvolks) zwei Vorstellungen stecken, die bei deiner Aussage vermischt werden. Solange nicht die offiziellen Behörden (Regierung, Parlament) eines anderen Staates versuchen, in den Wahlkampf einzugreifen, wird hier nicht an der staatlichen Souveränität gerüttelt – auch nicht, wenn das die (unabhängige) Justiz eines anderen Staates täte.

    Insofern ist das aus der Perspektive der völkerrechtlichen Nichteinmischung völlig in Ordnung, auch ein republikanischer Demokratietheoretiker wird eine solche „Einmischung“ für unproblematisch halten. Man sollte m.E. diese Vorstellung von einer ethnonationalistisch verbrämten Autarkie-Illusion trennen… deshalb halte ich deinen Begriff der nationalen Souveränität (und des nationalen Staatsvolkes) in dem Zusammenhang auch für unglücklich.

    Frohe Restostern!
    Wulf

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    1. Hallo Wulf,

      fair point. Das Argument, dass die Demonstranten keine staatlichen Repräsentanten sind, mache ich oben ja selbst. Indessen habe ich mir auch den Nichteinmischungseinwand nicht selbst ausgedacht, sondern ihn verschiedentlich in Diskussionen zu dem Thema vorgefunden. Die "ethnonationalistische Autarkie-Illusion" scheint sich also wenigstens in einem breiteren öffentlichen Diskurs nicht so einfach vom Begriff der Souveränität lösen zu lassen.

      Und ganz abwegig finde ich das auch nicht, denn staatliche Souveränität im Sinne eines einheitlichen obersten Entscheidungszentrums (im Gegensatz zu einem Mehrebenensystem) kann ja nur dann demokratisch sein, wenn man davon ausgeht, dass die Entscheidungen einer souveränen Einheit keinen nennenswerten Auswirkungen auf die anderen souveränen Einheiten haben. Wenn nun aber die Bürger der Einheit A Entscheidungen in Einheit B beeinflussen vollen, stellt sich durchaus die Frage, was sie das überhaupt angeht. Und die Antwort ist eben, dass die Entscheidungen von B eben durchaus Auswirkungen auf A haben - und damit das ganze Konstrukt eines bloßen Nebeneinanders souveräner Einheiten demokratisch nicht haltbar ist.

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    2. Ich würde das empirische Betroffenheitsargument von einem normativen trennen. Nur, weil ich von einer Entscheidung betroffen bin, heißt das (normativ) nicht, dass ich hier in jedem Fall Mitsprache haben sollte, auch wenn mich das Thema vermutlich (deskriptiv) interessiert.

      Umgekehrt kann Kritik (normativ) zulässig sein, ganz egal ob man betroffen ist oder nicht. Auch wenn ich selbst nicht betroffen bin, kann ich die Handlungen anderer als moralisch falsch, politisch unklug oder instrumentell irrational kritisieren. Im Gegenteil, je weniger ich selbst betroffen bin, desto eher wird mein Urteil ausgewogen und unparteiisch ausfallen.

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