12 Februar 2018

Was bedeutet „Bürgernähe“? Über europäische Wahllisten und die europäische Demokratie

Der Weg zur europäischen Demokratie führt nicht über einzelne Europaabgeordnete, sondern über starke europäische Parteien.
Am vergangenen Mittwoch stimmte das Europäische Parlament mehrheitlich gegen gesamteuropäische Europawahllisten – also gegen einen Vorschlag, den ich auf diesem Blog vor einem Dreivierteljahr als einen der „besten Hebel, um langfristig die demokratische Legitimität und gesellschaftliche Akzeptanz der EU zu stärken“, bezeichnet habe. Mit dieser Abstimmung dürfte der Vorschlag wenigstens für die Europawahl 2019 gestorben sein. Zwar will die Europäische Kommission in den nächsten Tagen ein Papier mit Vorschlägen für institutionelle Reformen vorlegen, in denen sie möglicherweise erneut ihre Unterstützung für transnationale Listen erklären wird. Und auch bei dem informellen Treffen des Europäischen Rats am 23. Februar könnte diese Idee, die unter anderem von den Regierungen Frankreichs, Italiens und Spaniens befürwortet wird, noch einmal Thema sein.

Doch ohne die Zustimmung des Parlaments kann das Europawahlrecht nicht reformiert werden – und auch auf symbolischer Ebene ist die Ablehnung ausgerechnet jener Institution, der doch am meisten an einer Demokratisierung der EU gelegen sein sollte, natürlich fatal.

Dagegen: Christdemokraten, Nationalkonservative, Rechte

Dass damit die Debatte über gesamteuropäische Listen für alle Zeiten erledigt wäre, ist allerdings auch nicht zu erwarten. Ausschlaggebend für die Ablehnung im Parlament war eine Allianz aus Christdemokraten, nationalkonservativen und rechten Parteien, während die Linksfraktion gespalten war und Sozialdemokraten, Liberale und Grüne mehrheitlich für den Vorschlag stimmten. (Eine detaillierte Analyse des Abstimmungsverhaltens ist hier zu finden.)

Wenn bei der nächsten Europawahl – wie die aktuellen Umfragen erwarten lassen – die christdemokratische EVP-Fraktion deutlich an Sitzen verliert, während europafreundliche Liberale wie Emmanuel Macrons LREM oder die spanischen Ciudadanos dazugewinnen, könnten sich die Mehrheitsverhältnisse deshalb wieder zugunsten der gesamteuropäischen Listen verschieben.

Zehn Argumente der EVP

Und in einer Hinsicht hatte die Abstimmung womöglich auch ihr Gutes: Zum ersten Mal in der langen Debatte über gesamteuropäische Listen machten sich deren Gegner die Mühe, ihre Argumente ausdrücklich zu formulieren. Als 2012 schon einmal ein ähnlicher Vorschlag am Widerstand der Christdemokraten gescheitert war, hatten diese noch jede öffentliche Stellungnahme vermieden. Diesmal hingegen veröffentlichte die EVP vor der Abstimmung ein Facebook-Video mit zehn Argumenten gegen die Reform.

Dadurch besteht nun immerhin eine Möglichkeit, sich inhaltlich mit der Haltung der EVP auseinanderzusetzen. Sowohl die Union Europäischer Föderalisten als auch eine fraktionenübergreifende Gruppe von Europaabgeordneten um Jo Leinen (SPD/SPE) und Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) haben das in den Tagen vor dem Votum getan und auf jedes einzelne der zehn EVP-Argumente geantwortet.

Mir selbst scheinen solche Eins-zu-eins-Repliken allerdings eine etwas fruchtlose Mühe zu sein: Einige der Argumente, die die EVP anführt, sind kaum verständlich – etwa die Behauptung, dass gesamteuropäische Listen „ein elitärer Top-Down-Ansatz“ wären oder dass es „unklar wäre, welchen Bürgern die auf diesen Listen gewählten Abgeordneten eigentlich verantwortlich sind“. Andere entbehren jeder Evidenz – etwa dass populistische Bewegungen durch gesamteuropäische Listen größere Sichtbarkeit gewinnen und sogar die größte Fraktion im Europäischen Parlament werden könnten. Solange die Gegner gesamteuropäischer Listen hierzu keine besseren Begründungen liefern, lohnt es sich kaum, sich mit solchen Scheinargumenten auseinanderzusetzen.

Es geht darum, wie europäische Demokratie überhaupt funktioniert

Ich will mich hier deshalb auf zwei spezifische Argumente konzentrieren, die beide in der Debatte zuletzt sehr häufig zu hören waren. Das erste dieser Argumente (Nr. 1 auf der EVP-Liste) betrifft die Behauptung, gesamteuropäische Listen seien „bürgerferner“ als die bestehenden nationalen Sitzkontingente und würden die Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten schwächen. Das zweite (Nr. 10 der EVP) verweist darauf, dass es auch in nationalen Bundesstaaten wie Deutschland meist keine gesamtstaatlichen Wahllisten gibt; es gebe deshalb keinen Grund, entsprechende Verfahren nun auf europäischer Ebene einzuführen.

Diese beiden Argumente scheinen mir vor allem deshalb interessant, weil sie – auch über den spezifischen Konflikt um die gesamteuropäischen Listen hinaus – die Frage berühren, wie eine europäische Demokratie überhaupt funktionieren und politische Legitimität gewinnen kann. Tatsächlich scheint mir, dass die EVP hier einem gravierenden Irrtum über die Bedingungen moderner politischer Öffentlichkeit unterliegt. Sie verkennt deshalb die eigentlichen Herausforderungen, vor denen die EU als überstaatliche Demokratie heute steht.

Sind gesamteuropäische Listen „bürgerferner“ als nationale?

Aber der Reihe nach: Die Grundannahme hinter dem ersten Argument ist offenbar der Gedanke, dass kleinere geografische Einheiten stets näher am Einzelnen sind als größere. Die Region ist nach dieser Vorstellung „bürgernäher“ als der Nationalstaat, der Nationalstaat „bürgernäher“ als die EU – woraus nach dem Subsidiaritätsprinzip folgt, dass politische Entscheidungen stets auf einer möglichst niedrigen Ebene getroffen werden sollten.

Die EVP überträgt diesen Gedanken nun auch auf das Wahlsystem: Ein Kandidat auf einer nationalen Liste repräsentiert eine kleinere geografische Einheit als ein Kandidat auf einer gesamteuropäischen Liste. Ist es deshalb nicht naheliegend, dass die gesamteuropäischen Kandidaten „bürgerferner“ wären? Was fängt ein schwedischer Wähler mit einem französischen Kandidaten an, mit dem er womöglich nicht einmal eine gemeinsame Sprache teilt? Und beschädigt es nicht die Legitimität des Europäischen Parlaments, wenn auf diese Weise die direkte Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten geschwächt wird?

Moderne Demokratie beruht nicht auf direkten Kontakten

Was dieses Argument allerdings übersieht, ist, dass diese direkte persönliche Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten zur Legitimierung des politischen Systems in heutigen Demokratien nur noch eine sehr untergeordnete Rolle spielt. In den frühen Demokratien des 18. und 19. Jahrhunderts war das noch anders: Abgeordnete wurden damals meist auf lokaler Ebene gewählt (oft von einer kleinen Gruppe wohlhabender Männer, die untereinander auch persönlich bekannt waren) und repräsentierten ihren Wahlkreis dann in der fernen Hauptstadt, wo sie für ihre Wähler zugleich als Sprachrohr und als Informationsquelle dienten.

Mit der Ausweitung des Wahlrechts auf größere Bevölkerungsschichten und dem Aufkommen der modernen Parteien sowie der Massenmedien änderte sich dieser Mechanismus jedoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass Abgeordnete ihre Wähler persönlich kennen, nahm drastisch ab (ausgenommen auf kommunaler Ebene, wo persönliche Kontakte bis heute oft eine entscheidende Rolle spielen). Stattdessen bilden Wähler sich ihre politische Meinung über die Medien, in denen allerdings nicht einzelne Abgeordnete, sondern die unterschiedlichen Parteien und deren Spitzenpersonal die wichtigsten Protagonisten sind.

Nationale Parteichefs sind meist „näher“ als lokale Abgeordnete

Gegensätze zwischen Parteien sind deshalb der wichtigste Deutungsrahmen in nahezu allen politischen Auseinandersetzungen in modernen Demokratien, und zwar sowohl in der konkreten parlamentarischen Arbeitsweise als auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Tatsächlich gibt es in den meisten Nationalstaaten viele Abgeordnete, die gute Arbeit als Fachleute für ein bestimmtes Politikfeld leisten, im Wahlkampf aber weitgehend anonym bleiben.

Der Legitimität des politischen Systems schadet das nicht, da die meisten Bürger bei ihrer Wahlentscheidung ohnehin nicht an Einzelabgeordneten interessiert sind – sondern an dem Eindruck, den sie sich von der Gesamtpartei machen, und das heißt vor allem: von deren Spitzenpersonal. Den meisten Menschen sind deshalb die nationalen Parteichefs, die allabendlich über die Fernsehnachrichten ins Wohnzimmer kommen, „näher“ als ihr lokaler Abgeordneter, den sie oft nur vom Namen her kennen.

Europäische Parteien und europäische Öffentlichkeit stärken

Diese gesellschaftliche Integrationsleistung der Parteien und der Massenmedien ist für Demokratien ab einer bestimmten Größe schon deshalb unverzichtbar, weil mit wachsender Bevölkerung die Möglichkeit zum direkten persönlichen Austausch zwischen Wählern und Gewählten abnimmt. Um das an einem Zahlenbeispiel zu verdeutlichen: Das Europäische Parlament umfasst heute 751 Mitglieder, was bei rund 500 Millionen EU-Bürgern einer Quote von etwa 650.000 Bürgern pro Abgeordnetem entspricht. Selbst wenn jeder Europaparlamentarier Tag und Nacht nichts anderes täte als Bürger zu treffen, könnte jeder Bürger in der fünfjährigen Wahlperiode des Parlaments nicht einmal fünf Minuten allein mit einem Abgeordneten verbringen.

Die Vorstellung, man könnte die demokratische Legitimation der Europaabgeordneten über direkte persönliche Kontakte entscheidend verbessern, führt also auf einen verfassungspolitischen Irrweg. Worauf es ankommt, ist vielmehr die Stärkung jener intermediären Strukturen, ohne die moderne Demokratien auch auf nationaler Ebene nicht funktionieren würden: die politischen Parteien und die Medien, die die politische Öffentlichkeit herstellen. Sie sind es, die der Parlamentswahl – für den größten Teil der Bevölkerung das mit Abstand wichtigste Instrument politischer Teilhabe – ihre Bedeutung geben. Und damit sind sie auch die eigentlichen Garanten für die „Bürgernähe“ des politischen Systems.

Nationalstaaten haben integrierte Parteien und Medien – die EU nicht

An dieser Stelle kommt nun das zweite Argument der EVP ins Spiel: Warum sollte man auf EU-Ebene gesamteuropäische Listen brauchen, wenn doch auch die meisten Nationalstaaten ohne sie auskommen? Die Antwort auf diese Frage lautet einfach: Weil es in den meisten Nationalstaaten bereits ein etabliertes gesamtstaatliches Parteiensystem und eine nationale Medienöffentlichkeit gibt, während beides in der EU noch in den Kinderschuhen steckt.

Wenn also die deutsche Bundestagswahl über regionale Landeslisten erfolgt, so ändert das nichts daran, dass die meisten Menschen sich darüber in nationalen Medien informieren und den Wahlkampf als eine Auseinandersetzung zwischen nationalen Parteien erleben. Wer genau diese oder jene Landesliste anführt, interessiert kaum einen Wähler. Im Vordergrund stehen vielmehr nationale Spitzenpolitiker (die Kanzlerkandidaten der Parteien, gegebenenfalls noch einige Minister oder Fraktionschefs) und Themen, die Deutschland als Ganzes betreffen.

Europäische Listen wären ein geeignetes Instrument

Wenn hingegen die Europawahl über nationale Listen ausgetragen wird, so liegt es für die nationalen Medien nahe, im Wahlkampf auch nur über die nationalen Parteien zu berichten – wodurch die europäischen Spitzenpolitiker außerhalb ihres jeweiligen Herkunftslandes kaum Sichtbarkeit gewinnen können und auch gesamteuropäische Themen oft auf der Strecke bleiben. Will man das ändern, so hat es keinen Sinn, auf die Medien zu schimpfen, die nur der Logik des Nachrichtenwerts folgen.

Wer eine gesamteuropäische politische Öffentlichkeit erzeugen will, der muss vielmehr die europäischen Parteien stärken: Nur sie könnten einen genuin gesamteuropäischen Europawahlkampf führen, der auch für die Medien interessant ist. Gesamteuropäische Listen, durch die sich die Macht über die Kandidatenauswahl teilweise von den nationalen auf die europäischen Parteien verschoben hätte, wären ein geeignetes Instrument dafür – ein Instrument, das in integrierten Nationalstaaten nicht notwendig ist, in der EU mit ihrem national fragmentierten Mediensystem hingegen schon.

(Und nebenbei gesagt: In Wirklichkeit haben durchaus mehrere EU-Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene gesamtstaatliche Wahllisten, zum Beispiel Polen, Österreich oder Griechenland. Allerdings haben Wähler hier meist nur eine Stimme, mit der sie gleichzeitig eine regionale und eine nationale Liste derselben Partei wählen. Die nationale Liste dient dabei zum gesamtstaatlichen Verhältnisausgleich, ähnlich wie ich das hier auch für die EU vorgeschlagen habe.)

Die Debatte ist zu wichtig für simplistische Schlagwörter

Mit dem Votum am vergangenen Mittwoch hat die christdemokratisch-nationalkonservativ-rechtspopulistische Mehrheit im Europäischen Parlament der Idee gesamteuropäischer Listen einen schweren Schlag versetzt. Doch die Auseinandersetzung wird weitergehen, künftig hoffentlich auf einem höheren argumentativen Niveau.

Denn die Debatte über die europäische Demokratie ist zu wichtig, um sie mit simplistischen Schlagwörtern wie „Bürgernähe“ zu führen. Wir müssen uns vielmehr Gedanken darüber machen, auf welche Weise wir die existierenden nationalstaatlichen Mechanismen sinnvoll auf die europäische Ebene übertragen können, wo die besonderen europäischen Herausforderungen liegen und wie sie sich meistern lassen. Ein bloßes Verteidigen des Status quo ist dabei keine Lösung. Nur durch kluge Innovationen wie die gesamteuropäischen Listen wird die Europäische Union die demokratische Legitimität gewinnen können, die sie für ihren Fortbestand braucht.

Bild: Eigenes Foto.

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