- Haushaltskommissar Janusz Lewandowski will, dass der EU 2014-2020 deutlich mehr Geld zur Verfügung steht. Vorläufig wäre es schon erfreulich, wenn sie wenigstens 2012 all ihre Programme finanzieren könnte.
Die
Haushaltspolitik zählt in allen demokratischen Staaten zu den am
meisten diskutierten politischen Themen überhaupt. In den
halb-parlamentarischen Systemen des 19. Jahrhunderts war das
Budgetrecht häufig der wichtigste Hebelpunkt der gewählten
Abgeordneten gegen die monarchische Exekutive; und bis heute ist eine
Regierung, die im Parlament keine Mehrheit für ihren Haushaltsplan
findet, so gut wie handlungsunfähig. Auf europäischer Ebene
funktioniert einiges anders als im nationalen Rahmen: Erstens
entscheidet hier nicht das Parlament allein, sondern Parlament und
Rat zusammen über den Haushalt. Zweitens kann die EU keine eigenen
Steuern erheben, sondern finanziert sich in erster Linie über
Beiträge der Mitgliedstaaten, die sich an deren jeweiligen
Bruttoinlandsprodukt orientieren. Drittens darf die EU, anders als
ihre Mitgliedstaaten, keine Schulden aufnehmen. Und viertens ist der
europäische Haushalt im Vergleich zu den nationalen Etats
außerordentlich klein: Derzeit macht er nur wenig mehr als ein
Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union aus –
insgesamt knapp 150 Milliarden Euro, was pro Kopf weniger als ein
Zehntel des Etats der Bundesrepublik Deutschland ist.
Dennoch
ist auch in Brüssel die Verhandlung eines neuen Haushaltsplans jedes
Mal Anlass scharfer Debatten, die in der Vergangenheit wiederholt zu
Blockaden zwischen Parlament und Rat führten. Seit den 1980er Jahren
gibt es deshalb die sogenannten „mehrjährigen Finanzrahmen“
(MFR), mit denen die Grundlinien des europäischen Haushalts jeweils
für sieben Jahre im Voraus abgesteckt werden (wer sich für Details
interessiert: Wikipedia hat einen guten Artikel über die Funktionsweise des EU-Haushalts).
Allerdings führt dies nur dazu, dass alle sieben Jahre umso heftiger
diskutiert wird – und da in Kürze der neue Finanzrahmen für den
Zeitraum 2014-2020 verabschiedet werden soll, steht der Union ein
spannender Herbst bevor.
Die
beiden meistdiskutierten Punkte sind dabei die Einnahmequellen und
die Höhe des Haushalts. In ihrem im Juni vorgelegten MFR-Entwurf
sprach sich die Europäische Kommission sowohl für die Einführung
spezieller EU-Steuern als auch für eine Erhöhung des Etats um fünf
Prozent aus. Beides ist heftig umstritten, sollte aber nicht
miteinander in einen Topf geworfen werden. Eine Umstellung von
nationalen Beiträgen zu einer europäischen Steuer bedeutet nicht
notwendigerweise einen Anstieg des Gesamtbudgets und umgekehrt. Im
Folgenden soll es deshalb nur um die zweite Frage gehen (zur EU-Steuer bei Gelegenheit mehr): Ist ein höherer Etat für die EU
sinnvoll und wünschenswert?
Institutionelle
Interessen
Mehr
Geld ist in der Politik oft gleichbedeutend mit mehr Macht: Wer ein
größeres Budget zu verteilen hat, kann mehr gestalten und gewinnt
auch an öffentlicher Aufmerksamkeit. Es ist deshalb wenig
verwunderlich, dass die Diskussionen über den EU-Etat im politischen
System oft entlang einer sehr klaren Grenze verlaufen: Die
supranationalen Institutionen, also Europäische Kommission und
Europäisches Parlament, setzen sich für eine Ausweitung des europäischen Budgets ein, um ihre eigenen
Handlungsspielräume zu vergrößern – die nationalen Regierungen
hingegen wollen die EU eher an der kurzen Leine halten, um selbst die
finanziell mächtigsten staatlichen Organe auf dem Kontinent zu
bleiben. Allerdings ist die Haltung des Rates auch nicht ganz eindeutig: Der EU-Haushalt, speziell die Struktur-
und Regionalfonds, bildet nämlich auch den wichtigsten Mechanismus für
finanzielle Transfers zwischen den reicheren und den ärmeren
Mitgliedstaaten. Infolgedessen sind die wirtschaftlich schwächeren
Länder in Süd- und Osteuropa zuletzt größtenteils doch für einen Anstieg des Etats – während es die wohlhabenden
Nettozahlerstaaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Finnland
und Niederlande waren, die sich Ende 2010 in einem gemeinsamen Brief für ein Einfrieren des Haushalts aussprachen. (Seit Margaret Thatcher
1984 den sogenannten Britenrabatt aushandelte, sind zudem nationale
Sonderermäßigungen zu einer populären Forderung geworden. Obwohl
das Europäische Parlament regelmäßig deren vollständige
Abschaffung verlangt, erhalten derzeit außer Großbritannien auch
Deutschland, die Niederlande, Schweden und Österreich nationale
Beitragsrabatte in unterschiedlicher Höhe. Und die dänische
Regierung gab jüngst unter Veto-Drohungen bekannt, dass sie ab 2014 auch einen haben will.)
All
diese Positionen sind aus der Logik der jeweiligen Institutionen
vollauf verständlich. Institutionelle Machtinteressen sind jedoch
noch keine politischen Argumente: Für die europäischen Bürger ist
es zunächst einmal belanglos, wer ihre
Steuergelder ausgibt – wichtig ist vielmehr, wofür
sie ausgegeben werden. Wenn man sich eine Meinung über den EU-Etat
bilden will, sollte man sich deshalb zunächst bewusst machen, welche
Funktionen ein solcher öffentlicher Haushalt überhaupt erfüllt. Im
Wesentlichen sind dies zwei: zum einen die Finanzierung der
Staatsaufgaben, zum anderen die makroökonomische Stabilisierung. Und
beide Punkte sprechen für einen Anstieg des europäischen Budgets.
Erstens:
Finanzierung der Staatsaufgaben
Dass
der öffentliche Haushalt zur Finanzierung der Staatsaufgaben dient,
ist nahezu eine Trivialität. Als Bürger haben wir bestimmte
Erwartungen an staatliche Organe: Sie sollen die Müllabfuhr
organisieren, Eisenbahnen bauen, Naturkatastrophen bekämpfen,
Schulen betreiben, Banken beaufsichtigen, Kulturgüter
subventionieren, Stromleitungen legen, sozialen Ausgleich schaffen,
Spitzenforschung ermöglichen, den Frieden sichern und über die
schädlichen Folgen von Alkoholkonsum und ungeschütztem Sex
aufklären. All diese Tätigkeiten kosten Geld, für das die Bürger
als Steuerzahler aufkommen müssen. Die Frage, welche Aufgaben der
Staat genau hat, ist natürlich immer umstritten. Aber wenn wir uns
demokratisch darauf geeinigt haben, dass er dies oder jenes tun soll,
dann müssen wir ihm wohl oder übel auch die finanziellen Mittel
dafür geben.
Im
Laufe der letzten Jahrzehnte nun wurden die Zuständigkeiten der
europäischen Ebene nach und nach immer mehr erweitert. Der Grund
dafür ist schlicht, dass unsere Gesellschaft enger vernetzt ist als
früher. Je mehr sich dank neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel
der Aktionsradius der Menschen vergrößert, desto mehr Aufgaben
können nur staatenübergreifend erfüllt werden. Vor einigen
Jahrzehnten etwa spielten transeuropäische Eisenbahn- und
Energienetze noch kaum eine Rolle – heutzutage ist das ein
bedeutender Tätigkeitsbereich der EU, ohne den die Mitgliedstaaten
ihre klimapolitischen Ziele kaum erfüllen könnten. In einem fremden
Land zu studieren, war lange Zeit ein extravagantes Vergnügen –
heute ist Auslandserfahrung für viele Berufe zu einer zentralen
Schlüsselqualifikation geworden. Dass wir ohne eine gemeinsame
Finanzmarktaufsicht nicht mehr auskommen, hat die Eurokrise
eindrucksvoll bewiesen. Und je häufiger wir uns beruflich oder
privat in anderen europäischen Ländern aufhalten, desto mehr
springen uns auch die ungleichen Lebensverhältnisse zwischen ihnen
als unerträgliche Ungerechtigkeit ins Auge.
Hinzu
kommt, dass es oft schlicht effizienter ist, Ausgaben nur einmal auf
europäischer Ebene zu treffen als 27 Mal in jedem Mitgliedstaat. Die
Länder der EU werden niemals wieder Krieg gegeneinander führen –
warum sollten sie also 27 getrennte Rüstungsprogramme
betreiben statt einem gemeinsamen? In den meisten Staaten der Welt
verfolgen die Europäer gemeinsame Interessen – warum sollte es
dann 27 nationale Botschaften geben statt einer gemeinsamen
EU-Vertretung? Und manches nützliche Projekt in der
Grundlagenforschung ist so teuer, dass kein einzelner Mitgliedstaat
es sich allein würde leisten wollen – während sich über das
gemeinsame Forschungsrahmenprogramm genügend Mittel dafür
auftreiben lassen.
An der finanziellen Schmerzgrenze
Während
aber die Aufgaben der Europäischen Union immer weiter gewachsen
sind, stieg das Budget nicht in gleichem Tempo. Insbesondere die
neuen Zuständigkeiten, die sich aus dem Vertrag von Lissabon
ergaben, führten die EU deshalb immer wieder an die finanzielle
Schmerzgrenze: 2010 etwa waren die Einführung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der EU-Finanzaufsicht aus Haushaltsgründen gefährdet, dieses Jahr
werden unter anderem für das Stipendienprogramm Erasmus, für den Europäischen Sozialfonds, für den europäischen Forschungsrat und für die humanitäre Hilfe die Mittel knapp. In dieser Situation ein Einfrieren des europäischen Budgets zu
verlangen, läuft effektiv darauf hinaus, dass die EU den ihr
übertragenen Aufgaben nicht wird gerecht werden kann – was die
europäischen Bürger am Ende womöglich sogar teurer zu stehen kommen wird,
wenn nämlich deshalb die weniger effizienten nationalen Programme
fortgesetzt werden müssen.
Natürlich heißt das nicht, dass im Umkehrschluss alle derzeitigen Ausgaben der EU sinnvoll und wünschenswert wären. Im Gegenteil, einer der wichtigsten Posten, die Gemeinsame Agrarpolitik, ist überaus ineffizient und kontraproduktiv. Aber die richtige Methode, um das zu ändern, wäre, die notwendige politische Mehrheit für eine Agrarreform zu organisieren. Bei den Forderungen, den europäischen Etat einzufrieren, geht es hingegen nicht darum, einzelne Politikfelder besser auszugestalten, sondern um eine grundsätzliche Beschränkung der Ausgaben, die völlig unabhängig von den Erfordernissen der konkreten Tätigkeitsbereiche gelten soll.
Natürlich heißt das nicht, dass im Umkehrschluss alle derzeitigen Ausgaben der EU sinnvoll und wünschenswert wären. Im Gegenteil, einer der wichtigsten Posten, die Gemeinsame Agrarpolitik, ist überaus ineffizient und kontraproduktiv. Aber die richtige Methode, um das zu ändern, wäre, die notwendige politische Mehrheit für eine Agrarreform zu organisieren. Bei den Forderungen, den europäischen Etat einzufrieren, geht es hingegen nicht darum, einzelne Politikfelder besser auszugestalten, sondern um eine grundsätzliche Beschränkung der Ausgaben, die völlig unabhängig von den Erfordernissen der konkreten Tätigkeitsbereiche gelten soll.
Zweitens:
Makroökonomische Stabilisierung
Außer der Finanzierung der Staatsaufgaben hat der öffentliche Haushalt jedoch noch eine zweite Funktion, die auf
nationaler Ebene oft als selbstverständlich vorausgesetzt wird, in
der EU aber eine besondere Relevanz besitzt: Er dient innerhalb einer
Volkswirtschaft als „automatischer Stabilisator“ gegen
ökonomische Schocks. Dabei sind auf nationaler Ebene vor allem zwei
Effekte relevant: Zum einen federt er konjunkturelle Schwankungen
über
die Zeit ab.
In einem Abschwung sinken die Steuereinnahmen, während die
(Sozial-)Ausgaben steigen, was die Nachfrage belebt und damit dem Land aus der
Krise hilft (umgekehrt wird im Boom durch steigende
Steuereinnahmen und sinkende Ausgaben das Wachstum gebremst und eine
Überhitzung verhindert). Zum anderen balanciert er
Ungleichgewichte zwischen
Regionen
aus. Wenn ein Schock eine Region härter trifft als die anderen, so
sinken dort die Steuereinnahmen, während die staatlichen Ausgaben
steigen, was der Krisenregion hilft, wieder zum Rest der
Volkswirtschaft aufzuschließen. Der öffentliche Haushalt trägt also dazu bei, das Wirtschaftssystem stabil zu halten – bis zu einem gewissen Grad sogar unabhängig davon, wofür genau das Geld eigentlich ausgegeben wird.
Der erste dieser beiden Effekte basiert darauf, dass sich der Staat in der Krise verschulden kann. Der Haushalt der EU, der nach Art. 310 AEU-Vertrag immer auszugleichen ist, wird diese Funktion deshalb nicht übernehmen können. Für die interregionale Stabilisierung hingegen kommt es vor allem auf das Volumen des Budgets an. Regelmäßige Leser dieses Blogs wissen, dass ich die Einführung eines hinreichend großen gemeinsamen Haushalts deshalb auch für die geeignetste Lösung der Euro-Krise halte, die in erster Linie auf einen asymmetrischen Schock zurückgeht, von dem die südeuropäischen Staaten und Irland stärker betroffen waren als die nord- und mitteleuropäischen. Natürlich bleiben die derzeit für den mehrjährigen Finanzrahmen diskutierten Erhöhungen weit hinter dem zurück, was hierfür notwendig wäre (die Kommission schlägt eine Steigerung von fünf Prozent vor – eine Verfünffachung des heutigen Budgets käme den Bedürfnissen der Eurozone wohl näher). So oder so wird jeder zusätzliche Euro im Etat der EU helfen, Wirtschaftskrisen wie die jetzige in Zukunft zu vermeiden.
Der erste dieser beiden Effekte basiert darauf, dass sich der Staat in der Krise verschulden kann. Der Haushalt der EU, der nach Art. 310 AEU-Vertrag immer auszugleichen ist, wird diese Funktion deshalb nicht übernehmen können. Für die interregionale Stabilisierung hingegen kommt es vor allem auf das Volumen des Budgets an. Regelmäßige Leser dieses Blogs wissen, dass ich die Einführung eines hinreichend großen gemeinsamen Haushalts deshalb auch für die geeignetste Lösung der Euro-Krise halte, die in erster Linie auf einen asymmetrischen Schock zurückgeht, von dem die südeuropäischen Staaten und Irland stärker betroffen waren als die nord- und mitteleuropäischen. Natürlich bleiben die derzeit für den mehrjährigen Finanzrahmen diskutierten Erhöhungen weit hinter dem zurück, was hierfür notwendig wäre (die Kommission schlägt eine Steigerung von fünf Prozent vor – eine Verfünffachung des heutigen Budgets käme den Bedürfnissen der Eurozone wohl näher). So oder so wird jeder zusätzliche Euro im Etat der EU helfen, Wirtschaftskrisen wie die jetzige in Zukunft zu vermeiden.
Gerade
angesichts der Euro-Krise
Unter
diesem Aspekt ist auch ein Argument hinfällig, das in der Debatte
immer wieder zu hören war – zuletzt etwa von dem britischen
Premierminister David Cameron (Cons./AECR), als er damit drohte,
gegen jede Erhöhung des EU-Haushalts ein Veto einlegen zu wollen. Dieses Argument besagt, dass
es nicht richtig sein könne, das Budget auf europäischer
Ebene ausgerechnet in einer Zeit auszuweiten, in der auf nationaler
Ebene immer neue Sparpakete geschnürt werden. Tatsächlich stimmt
das Gegenteil: Es ist ein elementarer Grundsatz antizyklischer
Wirtschaftspolitik, dass Staaten in einer Krise ihre Etats gerade
nicht reduzieren sollten. Dass die südeuropäischen Länder dennoch
einen strikten Austeritätskurs fuhren, lag (außer an eklatanten ökonomischen Fehleinschätzungen) vor allem daran, dass sie auf
nationaler Ebene
finanziell überfordert waren. Die Europäische Union insgesamt
könnte hingegen sehr wohl die nötigen konjunkturpolitischen
Maßnahmen treffen. Nur fehlt den reichen nördlichen Mitgliedstaaten
dafür der politische Wille – und den supranationalen Organen das
Budget.
Gerade
angesichts der derzeitigen Krise liegt es also im Interesse der
europäischen Bürger, die Europäische Union langfristig mit höheren
finanziellen Mitteln auszustatten: Am Ende wird es uns schlichtweg
billiger kommen. Es bleibt nur zu hoffen, dass das auch die nationalen Regierungen so sehen, wenn es im November zum Showdown zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat kommt.
Bild: By Piotr Drabik (Flickr: Janusz Lewandowski) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.