03 November 2016

Streit bei den Grünen: Dürfen Proeuropäer die EU kritisieren?

An diesem europäischen Blumenbeet gibt es nun wirklich nichts auszusetzen.
Bei der Europäischen Grünen Partei (EGP) hing zuletzt der Haussegen ein wenig schief. Nicht nur, dass sie sich bereits seit fast zwei Jahren in einem Umfragetief befinden – vor zwei Wochen gab auch noch Rebecca Harms, die seit 2009 eine der beiden grünen Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament gewesen war, ihren Rücktritt bekannt. In einem Interview im Deutschlandfunk übte sie dabei einige Kritik an ihren Fraktionskollegen: Anders als in der Wahlperiode 2009-14 seien die Grünen heute nicht mehr „so bedingungslos pro Europäische Union, wie das in diesen Zeiten und dieser Auseinandersetzung gefragt ist“. Stattdessen gebe es „eine zu starke Ja-aber-Haltung“, manche sähen in der EU gar eine Bedrohung für die Demokratie.

Für die EU, aber kritisch in der Sache?

Wenige Tage später erwiderte darauf, ebenfalls im Deutschlandfunk, der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold. Zum einen komme Harms’ Rücktritt keineswegs überraschend. Intern sei schon lange geplant gewesen, dass sie den Fraktionsvorsitz nach der Hälfte der Wahlperiode an Ska Keller abgeben würde, die bei der Europawahl 2014 als EGP-Spitzenkandidatin angetreten war. Und zum anderen seien die Grünen allesamt „begeisterte Europäer“. Wenn sie Kritik übten, dann nur um sich „für ökologische und soziale Veränderung“ einzusetzen, etwa wenn „die EU Atomkraftwerks-Subventionen zulässt, […] täglich Menschen im Mittelmeer ersaufen, oder […] Steueroasen begünstigt werden“.

Für die EU, aber kritisch in der Sache: Tatsächlich scheint dies die Linie zu sein, zu der die europäischen Grünen wenigstens in ihrem öffentlichen Auftritt derzeit konvergieren. Schon kurz vor Harms’ Rücktrittsankündigung äußerte sich ganz ähnlich zum Beispiel auch Reinhard Bütikofer, Parteivorsitzender der EGP, in einem Interview auf EurActiv:
Unser Anspruch ist, unter den pro-europäischen Parteien die zu sein, die sich nicht scheut, auch Kritik zu formulieren, und unter den Kritikern diejenige Kraft zu sein, die verlässlich am europäischen Einigungsprojekt festhält.
Und Jan Philipp Albrecht fasste auf Twitter zusammen:

Loyale Opposition

Für eine Partei, die weder in der Europäischen Kommission noch im Europäischen Rat vertreten ist und auch im Europäischen Parlament oft überstimmt wird, scheint das erst einmal eine durchaus plausible Haltung zu sein. Letztlich entspricht sie der Idee einer „loyalen Opposition“, die sich zwar inhaltlich der regierenden Mehrheit entgegenstellt, dabei aber doch vorbehaltlos die Legitimität des politischen Systems anerkennt, aus dem die Regierung ihre Macht bezieht.

Nur: Ist das tatsächlich eine sinnvolle Haltung im Umgang mit der Europäischen Union? Funktionieren die europäischen Institutionen wirklich so gut, dass man sich nur noch auf Sachdebatten zu konzentrieren braucht? Mir scheint, die Grünen drohen es sich in dieser Frage gerade etwas zu einfach zu machen.

Demokratische Alternanz

Die Haltung einer loyalen Opposition ergibt vor allem dann Sinn, wenn man in einem System mit funktionierender demokratischer Alternanz lebt, in dem sich zwei oder mehr Parteien (oder Koalitionen von Parteien) je nach Wählergunst an der Regierung abwechseln. Die Minderheitsparteien erfüllen dann die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren und Bürgern, die mit der Regierung unzufrieden sind, eine Alternative zu bieten.

Dass Regierung und Opposition dauerhaft auf eine gemeinsame Linie kommen, ist in einem solchen System weder vorgesehen noch notwendig. Was sie eint, ist die Loyalität zu dem System selbst, das beiden Seiten bei jeder Wahl erneut eine faire Möglichkeit gibt, selbst eine Mehrheit zu erringen, um dann ihre jeweils eigene Politik umzusetzen. In der Sache aber müssen die Oppositionsparteien wenigstens teilweise andere Positionen vertreten als die Regierung – sonst wären sie als Wahlalternative nutzlos. Wenn sie Kritik an der Regierung üben und Vorschläge machen, wie man Dinge anders oder besser tun könnte, dann geht es ihnen also nicht wirklich darum, die Regierung selbst von diesen Alternativen zu überzeugen. Ihr eigentlicher Adressat sind vielmehr die Wähler, deren Unterstützung sie bei der nächsten Wahl gewinnen wollen.

Zwang zur großkoalitionären Zusammenarbeit

Im politischen System der Europäischen Union gibt es jedoch keine funktionierende Alternanz. Wie ich an anderer Stelle ausführlicher beschrieben habe, sind die Verfahren der EU eher auf Konsens ausgelegt – was de facto die drei größten europäischen Parteien, die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE und die liberale ALDE, zu einer permanenten großkoalitionären Zusammenarbeit zwingt.

Gleichzeitig bedeutet diese permanente Große Koalition aber auch, dass kleinere Parteien wie die Europäische Linke (EL), die nationalkonservative AKRE oder eben die Grünen strukturell einen deutlich geringeren Anteil an der Macht besitzen. Gewiss: Mit Alexis Tsipras (Syriza/EL), Theresa May (Cons./AKRE) und Beata Szydło (PiS/AKRE) stellen die kleinen Parteien derzeit drei Regierungschefs im Europäischen Rat. Auch in der Europäischen Kommission waren sie alle schon einmal vertreten und können das auch in Zukunft wieder sein. Im Europäischen Parlament können die kleinen Parteien sogar hier und da Einfluss auf die Formulierung eines Rechtsakts nehmen, und wenn im Rat Einstimmigkeit nötig ist, können sie einen Beschluss womöglich auch einmal ganz zu Fall bringen.

Es fehlt das zentrale Versprechen einer Opposition

Das zentrale Versprechen aber, das eine demokratische Opposition den Wählern bieten muss – „Bringt uns an die Regierung, damit sich etwas ändert!“ –, können die kleinen europäischen Parteien nicht abgeben: Denn konstruktiv entscheidungsfähig sind die EU-Institutionen in der Regel eben doch immer nur dann, wenn EVP und SPE zu einem Kompromiss finden. Am Ende ist deshalb die Große Koalition derzeit schlicht alternativlos – und zwar, um es noch einmal deutlich zu sagen, nicht nur aufgrund irgendeines Wahlergebnisses, sondern wegen der institutionellen Funktionsweise der EU.

Die Europäische Linke, noch mehr aber die AKRE und Rechtsaußenparteien wie ADDE und BENF ziehen daraus die naheliegende Schlussfolgerung, das System der EU selbst in Frage zu stellen. Zwar bietet ihr Nationalpopulismus in der Regel nur noch schlechtere Lösungen (der Brexit ist gerade das eindrucksvollste Beispiel dafür). Aber durch ihre Illoyalität zum politischen System der EU sind sie für die Wähler zumindest als echte Alternative zu erkennen.

Das EU-Demokratiedefizit ist real

Und die Grünen? Wenn sie sich darauf verlegen, nur noch in Sachthemen Kritik zu üben, dann stellt sich die Frage, wen sie mit ihren Argumenten eigentlich überzeugen wollen. EVP, SPE und ALDE benötigen sie nicht für die Mehrheitsbildung und können sie deshalb getrost überhören. Und solange sich an der permanenten Großen Koalition nichts ändert, macht es für die Wähler ebenfalls keinen großen Unterschied, ob die Grünen im Europäischen Parlament nun mit 30, 40 oder 50 Sitzen vertreten sind.

Nun könnte man die politische Strategie der Grünen natürlich einfach Sorge der Partei sein lassen. Doch auch demokratisch-normativ scheint mir der Ansatz, sich in der EU allein auf Sachdebatten zu beschränken, nicht zufriedenstellend. Denn hinter jenem institutionellen Konsenszwang, der die permanente Große Koalition bewirkt, steht ja ein wirkliches Demokratiedefizit, das letztlich den Einfluss der Wähler auf die europäische Politik vermindert. Die geringe Akzeptanz, unter der die EU heute leidet, ist nicht nur ein Kommunikationsproblem, sondern auch Ausdruck eines echten Mangels an demokratischer Legitimität.

Kann man „proeuropäisch“ sein und dennoch dieses Demokratiedefizit kritisieren? Ich denke, wenn man den Nationalpopulisten nicht das Feld überlassen will, führt daran kein Weg vorbei.

Freiheit, Gleichheit und Demokratie

Die europäische Integration ist kein Selbstzweck, sondern dient der Verwirklichung bestimmter übergeordneter politischer Ziele. Um welche Ziele es dabei geht, dazu kann man unterschiedliche Narrative entwickeln. Am überzeugendsten scheint mir ein Dreiklang aus Freiheit, Gleichheit und Demokratie: die Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, ohne von nationalen Grenzen gehindert zu werden; die Gleichheit, unabhängig von der Herkunft überall dieselben Bürgerrechte zu genießen; die Demokratie, gemeinsame politische Angelegenheiten in gemeinsam gewählten Institutionen zu entscheiden.

Das politische System der EU in ihrer heutigen Form erfüllt diese Ziele besser als jedes System unabhängiger Nationalstaaten und besser als jede andere heute existierende internationale Organisation. Aber vollkommen verwirklicht sind sie noch nicht, und so ist die EU bis heute ein eigenartiges Halbwesen, die europäische Integration ein nur teilweise eingelöstes Versprechen. Und solange das so bleibt, steht auch die Legitimität der EU auf wackeligen Füßen.

Kritik bleibt notwendig

Um den Zielen gerecht zu werden, für die sie existiert, muss die EU sich also weiterentwickeln: in Richtung von mehr grenzüberschreitender Freiheit, mehr bürgerlicher Gleichheit und mehr überstaatlicher Demokratie. Ich denke nicht, dass man dafür die EU zerstören und durch ein völlig neues Gebilde ersetzen müsste, wie das etwa Ulrike Guérot vor einigen Monaten in der ZEIT forderte. Aber nur den Status quo zu verteidigen, ist auch keine Lösung. Und deshalb bleibt Kritik an der EU notwendig – nicht nur an einzelnen Sachentscheidungen, sondern auch an ihrer institutionellen Funktionsweise selbst.

Den europäischen Grünen aber sei ein Blick in ihr Europawahlprogramm von 2014 empfohlen. Darin forderten sie nicht weniger als „eine demokratische Erneuerung der EU“ und „einen neuen demokratischen Konvent“ zur Ausarbeitung einer Vertragsreform. Auf konkrete Initiativen in diese Richtung warten wir seither vergebens.

Bild: Rock Cohen [CC BY-SA 2.0], via Flickr.

25 Oktober 2016

Ärger um Paul Magnette: Ist die wallonische CETA-Blockade undemokratisch?

Von diesen zwei Sozialdemokraten hat nur einer ein EU-Mandat.
Im Februar 2012 war Paul Magnette (PS/SPE) belgischer Minister für öffentliche Unternehmen, Wissenschaft und Entwicklungszusammenarbeit – und überhaupt nicht gut auf den europäischen Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ALDE) zu sprechen, der das Land mitten in der Wirtschaftskrise zum Abbau der Staatsausgaben drängte. In einem Interview erklärte Magnette, Haushaltsdisziplin seit zwar notwendig, die Europäische Kommission habe aber kein Recht, sich in die Details der belgischen Wirtschaftspolitik einzumischen. (Ich habe damals ausführlich über diesen Konflikt geschrieben.) Das Interview gipfelte in den Worten:
Wer kennt Olli Rehn? Wer hat jemals das Gesicht von Olli Rehn gesehen? Wer weiß, wo er herkommt und was er getan hat? Niemand. Und dabei sagt er uns, wie wir unsere Wirtschaftspolitik führen sollen. Europa hat keine demokratische Legitimation, dies zu tun.
Viereinhalb Jahre später ist Paul Magnette Präsident der Region Wallonie, und auf einmal scheinen seine Worte auf ihn selbst zuzutreffen. Denn natürlich ist auch er für den größten Teil der europäischen Bevölkerung ein völlig Unbekannter – oder war es wenigstens bis vor einigen Tagen. Sein Mandat verdankt er jedenfalls allein den rund 3,6 Millionen Wallonen, von denen rund 2,2 Millionen an der letzten Regionalwahl teilgenommen haben. Und dass Magnette vor seiner Zeit als aktiver Politiker Universitätsprofessor war und einige lesenswerte Bücher über die EU-Bürgerschaft und die europäische Demokratie geschrieben hat, wissen außerhalb akademischer Fachkreise wohl ebenfalls nur die wenigsten Europäer.

Kurz: Kaum jemand in Europa hat jemals das Gesicht von Paul Magnette gesehen. Und dennoch sagt er uns, ob wir mit Kanada ein Freihandelsabkommen abschließen dürfen oder nicht. Hat das wallonische Regionalparlament die demokratische Legitimation, dies zu tun?

Langjähriger Widerstand gegen CETA

Die Hintergründe sind rasch erzählt (und dieser Tage ohnehin in allen Zeitungen zu lesen): Seit Jahren haben die Europäische Kommission und die kanadische Regierung über das Freihandelsabkommen CETA verhandelt, das die wirtschaftliche Integration zwischen der EU und Kanada voranbringen soll. Da CETA nicht nur Zölle abbaut und bestimmte technische Standards harmonisiert, sondern auch umstrittene Regelungen zum Investitionsschutz und zur Marktliberalisierung enthält, regte sich auch schon früh Widerstand dagegen – etwa durch den Verein Campact, aber auch durch die Europäische Linke und die Grünen.

Aber auch bei den europäischen Sozialdemokraten, etwa der deutschen SPD, hatte CETA nicht nur Freunde. Und nicht zuletzt erklärte das wallonische Regionalparlament (mit einer Mehrheit aus Sozialisten, Christdemokraten und Grünen und gegen die Stimmen der Liberalen) bereits im vergangenen April, dass es das Abkommen ablehne und alles rechtlich in seiner Macht Stehende tun werde, um es zu stoppen.

Streit um die Beteiligung der nationalen Parlamente

Zum Knackpunkt wurde im Juli schließlich die Frage, welche Parlamente an der Ratifikation des Abkommens beteiligt werden sollen. Nach Art. 207 AEUV besitzt die Europäische Union nämlich die alleinige Zuständigkeit für die Außenhandelspolitik. Um in Kraft zu treten, müssen Freihandelsabkommen deshalb nur vom Europäischen Parlament und vom EU-Ministerrat ratifiziert werden – wobei im Ministerrat Einstimmigkeit erforderlich ist, wenn es in dem Abkommen (wie bei CETA) auch um Direktinvestitionen geht.

Dagegen wurde jedoch bald die Kritik laut, dass CETA inhaltlich weit über die bloße Handelspolitik hinausgehe. Es müsse deshalb als „gemischtes Abkommen“ behandelt werden, bei dem nicht nur Kanada und die EU, sondern auch alle 28 Mitgliedstaaten Vertragspartner sind und ein Ratifikationsrecht haben. Die Europäische Kommission widersetzte sich dieser Sichtweise zunächst und wurde dabei auch von der italienischen Regierung unterstützt. Verschiedene andere Regierungen, unter anderem die deutsche, beharrten jedoch auf einer Behandlung als gemischtes Abkommen.

Die Kommission gab dem Druck der Regierungen nach

Am Ende gab die Kommission nach und erklärte, sie betrachte CETA rechtlich zwar weiterhin als ein Abkommen, das unter die alleinige Zuständigkeit der EU falle. Angesichts der „politischen Lage im Ministerrat“ werde sie es jedoch als gemischtes Abkommen behandeln und damit den nationalen Parlamenten zur Ratifikation vorlegen.

Ich habe im Juli auf diesem Blog darüber geschrieben, weshalb ich diese Entscheidung der Kommission für einen Fehler halte. Tatsächlich hätte die Kommission (nach Art. 218 Abs. 11 AEUV) die Möglichkeit gehabt, zunächst ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs einzuholen, in dem dieser die Frage nach der alleinigen oder gemischten Zuständigkeit verbindlich geklärt hätte. Indem sie dem politischen Druck der Regierungen nachgab, zeigte sie sich in der Wahl des Verfahrens offen opportunistisch und schwächte damit das langfristige Vertrauen in die europäischen Institutionen.

Belgien kann nicht unterschreiben

Was aber brachte die Kommission zu ihrer Entscheidung? Ein wesentlicher Grund dürfte wohl der Zeitfaktor gewesen sein: Ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof kann sich leicht über einige Jahre hinziehen, und währenddessen wäre die gesamte CETA-Ratifikation in der Schwebe geblieben.

Stattdessen setzte die Kommission offenbar darauf, dass die nationalen Regierungen CETA als gemischtes Abkommen rasch unterschreiben und jenen Teil davon, der auch in ihren Augen unter die alleinige Zuständigkeit der EU fällt, zur „vorläufigen Anwendung“ freigeben würden. Dieser Teil wäre dann gleich nach der Ratifikation durch das Europäische Parlament in Kraft getreten; nur für den Rest des Abkommens wäre auch die Ratifikation der nationalen Parlamente nötig gewesen.

Was die Kommission dabei offenbar nicht bedacht (oder nicht erwartet) hat, ist, dass die belgische Regierung schon ihre Unterschrift für CETA nur leisten kann, wenn sie dafür auch die Unterstützung der Regionen des Landes hat. Und so wurde die Wallonie zum Stolperstein, über den nun das gesamte Abkommen scheitern könnte. Dass der Vertrag wie vorgesehen in den nächsten Tagen unterschrieben wird, erscheint derzeit jedenfalls ziemlich unwahrscheinlich.

Die Legitimation von Paul Magnette

Wie aber steht es nun um die demokratische Legitimation von Paul Magnette und seiner Wallonen? Auf den ersten Blick sieht ihr Vorgehen nicht allzu gut aus: Schließlich geht CETA nicht nur die Wallonen an, sondern alle 510 Millionen Europäer und 35 Millionen Kanadier; und eine Entscheidung, die alle betrifft, sollte von allen gemeinsam getroffen und nicht von einer kleinen Minderheit blockiert werden können. Selbst der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold – alles andere als ein Freund des Abkommens – beklagte jüngst, das wallonische Veto sei „ein Sieg für die CETA-Kritiker, aber eine Niederlage für Europas Handlungsfähigkeit“, und forderte „effizientere Entscheidungsprozesse“ für die EU.

Auf der anderen Seite sind diese effizienteren Entscheidungsprozesse im EU-Vertrag natürlich auch jetzt schon enthalten: eben jene Regelungen, die für Handelsverträge gelten, die unter die alleinige Zuständigkeit der EU fallen. In dem Augenblick, in dem die Kommission und der Ministerrat CETA als gemischtes Abkommen anerkannten, akzeptierten sie das mögliche Veto durch einen Mitgliedstaat – und damit auch durch eine Region, wo die nationale Verfassung des Mitgliedstaats das vorsieht. Das Nein der Wallonie als „anmaßenden Widerstand“ zu bezeichnen (wie jüngst im Spiegel zu lesen), unterschlägt, dass das Regionalparlament nur seine verfassungsmäßigen Rechte ausübte.

War die Wallonie zu einem Kompromiss verpflichtet?

Daneben gibt es allerdings noch ein weiteres Argument, das der Rechtswissenschaftler Franz Mayer auf dem Verfassungsblog jüngst mit erfreulicher Klarheit dargelegt hat. In seinen Augen war es politisch durchaus wünschenswert, dass CETA als gemischtes Abkommen behandelt wurde: Schließlich habe die Beteiligung der nationalen Parlamente in den letzten Monaten eine „sehr intensive Debatte“ erzeugt und „das Abkommen mit Kanada an verschiedenen Stellen letztlich entscheidend verbessert“:
So gesehen war CETA auf einem guten Weg zu einem Beispiel für einen intensiven und gelungenen, wenn auch sehr aufwändigen demokratischen Mehrebenenprozess. Bis die Wallonen kamen. Wenn es nicht mehr um Verbesserung geht, sondern um Blockade, dann ist der besagte demokratische Prozess am Ende und der demokratische Mehrwert gemischter Abkommen verpufft.
Diese Vorstellung, dass man die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten an Entscheidungen beteiligen müsse, diese sich der gemeinsamen Linie letztlich aber auch nicht widersetzen dürften, ist in der EU-Politik weit verbreitet. Dahinter steht oft ein Ideal deliberativer Kompromisssuche: der Wunsch, dass alle Akteure an einem gemeinsamen Strang ziehen und daher auch ihr Vetorecht letztlich nur nutzen werden, um Entscheidungen zu „verbessern“. Oder, wie es die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) bereits 2010 in einer Rede als „neue Unionsmethode“ formulierte: „jeder in seiner Zuständigkeit, alle für das gleiche Ziel“.

Ein Parlament ist dazu da, Entscheidungen zu treffen

Letztlich aber funktioniert parlamentarische Demokratie so eben nicht. Parlamente sind nicht nur dazu da, in einem deliberativen Verfahren ihre Meinung zu einem übergeordneten Ziel zu äußern. Vielmehr sollen sie (im Rahmen ihrer rechtlichen Kompetenzen) ihre eigenen Entscheidungen treffen, für die sie sich dann allein vor ihren Wählern verantworten müssen. Eine politische Verantwortung gegenüber Dritten haben sie allenfalls moralisch, aber nicht institutionell – und das ist auch gut so, da sonst das besondere Repräsentationsverhältnis zu ihren Wählern gefährdet wäre.

Eigene Entscheidungen zu treffen, bedeutet aber eben auch: Wenn man einem Parlament das Recht gibt, ein Abkommen mit einem Veto zu blockieren, dann muss man damit rechnen, dass es dieses Veto auch nutzt. Man mag diese Entscheidung für kurzsichtig halten, für egoistisch oder für dumm. Aber ein Nein ist nicht an sich weniger demokratisch als ein Ja – und am Ende sind es nur die wallonischen Bürger, die bei der nächsten Regionalwahl über die Entscheidungen ihres Parlament das Urteil zu treffen haben.

Paul Magnette und dem wallonischen Parlament ist aus demokratischer Sicht kein Vorwurf zu machen. Und gerade deshalb sollte es bei Entscheidungen, die die EU als Ganzes betreffen, keine nationalen Vetorechte geben.

Bild: European Union 2016 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

21 Oktober 2016

Weder Dämonisierung noch Normalisierung: Die Medien und der Rechtspopulismus

Guter Journalismus braucht Populisten nicht zu fürchten.
Für alle Kurzentschlossenen: Am morgigen Samstagabend, 22. Oktober, findet in Berlin eine öffentliche Podiumsdiskussion mit dem Titel Le Pen, Wilders, Farage: Wie sollen europäische Medien mit Rechtspopulismus umgehen? statt. Veranstalter ist der treffpunkteuropa, und diskutieren werden Andreas Bock von euro|topics, Chadi Bahouth von den Neuen Deutschen Medienmachern, Ralf Melzer von der Friedrich-Ebert-Stiftung und ich. Los geht es um 18 Uhr am Sitz der Jungen Europäischen Föderalisten in der Sophienstr. 28/29.

In Vorbereitung auf die Diskussion hier sieben Thesen zum Verhältnis zwischen Rechtspopulismus und Medien.

1. Rechtspopulismus entsteht nicht primär durch die Medien

Nicht nur in Europa, sondern auch in vielen anderen Industriestaaten sind Rechtspopulisten – genauer: Nationalpopulisten – derzeit erfolgreich. Diese Entwicklung hat im Kern erst einmal wenig mit den Medien zu tun und lässt sich am besten als eine Reaktion auf die Globalisierung verstehen: Seit den 1990er Jahren hat die grenzüberschreitende Verflechtung von Wirtschaft und Gesellschaft stark zugenommen, was sich nicht nur an gesteigerten Handelsströmen zeigt, sondern auch an Migrationsbewegungen und anderen Veränderungen, die sich im Alltagsleben der Menschen bemerkbar machen.

Diese Veränderungen erleben manche Menschen als Bereicherung, andere aber auch als Bedrohung. Die Globalisierung erzeugt also nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell Gewinner und Verlierer. An diese Globalisierungsverlierer richten sich die Nationalpopulisten – freilich weniger mit rationalen Argumenten, sondern mit einem vorurteilsbeladenen Diskurs, in dessen Mittelpunkt das Versprechen steht, durch die Ausgrenzung des Fremden den eigenen Lebensstil zu schützen.

2. Am besten helfen institutionelle Reformen

Dieses nationalpopulistische Potenzial wird noch verstärkt durch die unzureichende supranationale Demokratie. Wenn man die Globalisierung politisch gestalten will, ist das nur durch überstaatliche Politik möglich. Diese überstaatliche Politik findet derzeit jedoch oft in Institutionen statt, die keine oder nur sehr indirekte demokratische Legitimation besitzen.

Auch in der EU spielt das Fehlen einer demokratischen Opposition den Nationalpopulisten in die Hände. Da die Entscheidungsverfahren der EU faktisch eine permanente Zusammenarbeit der großen pro-europäischen Parteien notwendig machen, können Europagegner als einzige Alternative zu einer ansonsten „alternativlosen“ Politik auftreten. Dieses Problem der fehlenden Opposition hat auch eine mediale Dimension – schließlich geht es dabei nicht zuletzt um die Inszenierung von Parteiengegensätzen und politischen Handlungsoptionen.

Das Problem ist aber nur sehr begrenzt auf Ebene der Medien lösbar. Medien können versuchen, die existierenden Unterschiede zwischen den großen europäischen Parteien besser zu erläutern (und überhaupt die Existenz gesamteuropäischer Parteien besser in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern). Doch um wirklich eine lebhafte parteipolitische Debatte auf europäischer Ebene zu bekommen, müssen sich nicht die Medien ändern, sondern die EU.

3. Die Medienpluralisierung bietet auch Rechtspopulisten Raum

Es gibt aber auch einige reine Medieneffekte, die zur Ausbreitung rechtspopulistischer Ideen beitragen. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Internet, das die Kosten für die Veröffentlichung von Informationen drastisch gesenkt und dadurch das Medienangebot erweitert und pluralisiert hat. Das bietet einerseits zahlreiche Chancen, etwa für die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit (auch dieses Blog hier würde ohne das Internet nicht existieren).

Andererseits gibt diese Pluralisierung des Medienangebots natürlich auch einen Raum zur Verbreitung von Halbwahrheiten, Unwahrheiten und Verschwörungstheorien. Nicht erst seit dem Brexit-Referendum und der Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump sind die post-truth politics zu einem zentralen Schlagwort geworden. Medien wie Breitbart in den USA oder Politically Incorrect in Deutschland hätten als Zeitungen wohl kaum so schnell ein so großes Publikum gefunden, dass sich ihr Erscheinen finanziell rentiert hätte. Als Onlineportale waren ihre Startkosten hingegen deutlich geringer, und heute versorgen sie täglich hunderttausende Leser mit rechtspopulistischem Ideengut.

Bis heute ist das Internet, besonders die sozialen Medien, eine der wichtigsten Bühnen für Rechtspopulisten. Je mehr sich deren Aufschwung konsolidiert, desto einfacher wird es aber auch für gedruckte Medien, in diesem Milieu ein Publikum zu finden. So gibt es in Deutschland heute auch Zeitungen, Zeitschriften und Buchverlage, die genau diese Zielgruppe ansprechen.

4. Nötig ist mehr Medienkompetenz der Leser

Eine besondere Rolle spielen gerade im Internet technische und soziale Filterblasen: Medienkonsumenten werden – durch Personalisierungsalgorithmen in der Google-Suche, vor allem aber durch die Empfehlungen ihres Social-Media-Freundeskreises – hauptsächlich auf solche Nachrichten und Meinungstexte aufmerksam gemacht, die den Ansichten entsprechen, die sie ohnehin bereits haben. Im Extremfall können Menschen dadurch in einer Vorstellungswelt leben, die sich nahezu ausschließlich aus nationalpopulistischen Medien speist und mit der Welt der Qualitätsmedien nichts mehr zu tun hat. Das Aufeinanderprallen dieser Vorstellungswelten äußert sich nicht zuletzt im Schlagwort der „Lügenpresse“.

Da die Qualitätsmedien selbst nur wenig Chancen haben, in die nationalpopulistische Filterblase einzudringen, können sie auch die gegen sie erhobenen „Lügenpresse“-Vorwürfe nur schlecht ausräumen. Die Hoffnung liegt hier vielmehr auf einer höheren Medienkompetenz der Konsumenten selbst, die in der Lage sein müssten, selbst die Qualität der ihnen gebotenen Informationen einzuschätzen. Die Vermittlung dieser Medienkompetenz kann wiederum nur eine Institution übernehmen, die (anders als die Medien) Zugang zu allen jungen Menschen im Land hat: die Schule.

5. Ausgrenzung ist keine Lösung mehr

Trotzdem bleibt für die Medien die Frage, welcher Umgang mit Rechtspopulisten angemessen ist. In Deutschland und anderswo wurden Rechtsaußenpositionen im öffentlichen politischen Diskurs traditionell ausgegrenzt: Politiker der NPD (AFF) wurden nicht in Talkshows eingeladen, Zeitungen ignorierten ihre Äußerungen und boten ihnen auch in Gastkommentaren keine Bühne.

Der Rechtspopulismus scheint heute jedoch zu stark geworden zu sein, um diese Ausgrenzungsstrategie weiter durchzuhalten. Im Gegenteil kann sie Populisten helfen, um sich einen Opfermythos zu schaffen, mit dem sie gerade Protestwähler ansprechen. Außerdem erschwert die Ausgrenzung die direkte Auseinandersetzung: Wenn Rechtspopulisten nicht zu Wort kommen, ist es auch schwerer, ihnen zu widersprechen und ihre argumentativen Fehlschlüsse aufzudecken.

6. Normalisierung ist eine Gefahr

Auf der anderen Seite besteht aber auch die Gefahr, dass nationalpopulistische Thesen gerade durch die mediale Normalisierung gesellschaftsfähig werden. So verfolgt der französische FN (BENF) unter Marine Le Pen gezielt eine Strategie der „Entdämonisierung“, die ein möglichst breites Publikum anzusprechen versucht. Und beim Brexit-Referendum zeigte sich, dass das häufige und laute Wiederholen von Unwahrheiten durchaus dazu führen kann, dass eine Mehrheit der Bevölkerung ihnen folgt.

Gerade in angelsächsischen Qualitätsmedien, die die Trennung von Nachricht und Meinung und die Neutralität der Berichterstattung traditionell sehr ernst nehmen, ist deshalb die false equivalence – die unangemessene Gleichbehandlung von Politikern aus dem gesamten Spektrum – zu einem wichtigen Thema geworden. Entgegen ihren früheren Gepflogenheiten sind Zeitungen wie die New York Times dazu übergegangen, bestimmte Aussagen von Donald Trump rundheraus als „Lüge“ zu bezeichnen.

7. Guter Journalismus braucht Populisten nicht zu fürchten

Letztlich aber scheint mir die Wahl zwischen Ausgrenzung und Normalisierung wenigstens für den Qualitätsjournalismus ein falsches Dilemma zu sein. Relevant wird die false equivalence vor allem dann, wenn Journalismus sich auf das bloße Wiedergeben oder Nicht-Wiedergeben von Verlautbarungen beschränkt – oder wenn sich die politische Debatte auf bloße Schlagworte reduziert und man nur noch darüber diskutiert, ob eine bestimmte Partei nun als „rechtspopulistisch“, „rechtsextrem“ oder „reaktionär“ und eine bestimmte Aussage nur als „Unwahrheit“ oder schon als „Lüge“ zu bezeichnen ist.

Ein Journalismus, der sein Thema tatsächlich durchdringt, braucht hingegen die Auseinandersetzung mit dem Populismus nicht zu fürchten. Er muss die Ansichten der Populisten weder verdammen noch sich zu ihrem Sprachrohr machen – sondern sie erklären, hinterfragen, problematisieren und kontextualisieren. Das ist, zugegeben, eine oft mühevolle Arbeit, gerade wenn man es mit rabulistischen Verschwörungstheoretikern zu tun hat. Aber genau in dieser Arbeit besteht nun einmal guter Journalismus: dass er dem besseren Argument eine Chance gibt, um sich durchzusetzen.

Bild: By Judy Van der Velden [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

14 Oktober 2016

Doppelte Staatsbürgerschaft, oder: Die Rechte der mobilen Menschen

Wo darf ein Weltbürger Bürger sein?
Am Ende war die Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft, die die deutsche Öffentlichkeit vor einigen Monaten beschäftigte, wohl nichts weiter als die übliche Sommerlochdebatte; und wie jede gute Sommerlochdebatte wurde sie um einige Tonlagen aufgeregter geführt, als dem Thema gut tat. Auslöser war Ende Juli ein Artikel des Finanzstaatssekretärs Jens Spahn (CDU/EVP), in dem dieser Sympathiebekundungen von Deutschtürken für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (AKP/AKRE) kritisierte und dabei auch die doppelte Staatsangehörigkeit in Zweifel zog:
Grundsätzlich sind zwei Staatsbürgerschaften nicht per se von Schaden. […] Wenn sich aber die Interessen, Ziele und Prinzipien zweier Staaten immer stärker widersprechen und wenn sich gleichzeitig offensichtlich eine so große Gruppe wie die Deutschtürken nicht so recht entscheiden kann, welchem der beiden Staaten eigentlich ihre Loyalität gilt […], dann muss auch die Bundesrepublik Deutschland ihr Recht einfordern.
Ein Sommerloch-Thema

Wenig später wurde das Thema in einem gemeinsamen Papier der Innenminister der CDU/CSU (EVP) aufgegriffen. Im Entwurf für eine Erklärung zur inneren Sicherheit bezeichneten sie die doppelte Staatsbürgerschaft Anfang August als ein „großes Integrationshindernis“, das es abzuschaffen gelte. Vor allem der zu diesem Zeitpunkt wahlkämpfende Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU/EVP) zeigte sich als Scharfmacher und erhielt dafür Lob von der Rechtsaußenpartei AfD.

In den folgenden Tagen jagte das Thema einmal durch das politische Feuilleton. Die große Mehrheit der Kommentatoren (von der Zeit über den Tagesspiegel bis zur FAZ) kritisierte dabei den Vorstoß der CDU-Innenminister; andere, wie die islamkritische Soziologin Necla Kelek, unterstützten ihn hingegen. Und auch der linke Publizist Jakob Augstein sprach sich dafür aus, die doppelte Staatsbürgerschaft nur EU-Bürgern vorzubehalten. Für alle anderen hingegen sollte gelten: „Wer in Deutschland geboren wird, ist automatisch Deutscher. Und nur das.“

Debatte ohne Folgen, aber mit Aussicht auf Wiederbelebung

Beendet wurde die Debatte schließlich Ende August durch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP), die in einem Interview erklärte, man werde das erst 2014 gelockerte deutsche Staatsbürgerschaftsrecht nicht jetzt schon wieder ändern. Gleichzeitig wurde der entsprechende Passus in der Endfassung der Erklärung der CDU-Innenminister deutlich abgemildert: Übrig blieben nur die Formulierung, die „Vermeidung von Mehrstaatigkeit“ müsse „prägender Grundsatz im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht bleiben“, und eine Forderung, die 2014 beschlossene Lockerung in den nächsten Jahren zu „evaluieren“.

Eine Art Schlusswort sprach schließlich Michael Grosse-Bröhmer, der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: In einem Interview erklärte er, seine Partei bleibe zwar „Gegnerin eines generellen Rechts auf doppelte Staatsangehörigkeit“, da diese „zu Loyalitätsproblemen“ führe, doch die 2014 mit der SPD (SPE) erzielten Kompromisse würden wenigstens „in dieser Wahlperiode nicht rückgängig gemacht“. Und damit verschwand die Debatte von der Tagesordnung – ohne unmittelbare Folgen, aber mit der Aussicht auf eine Wiederbelebung im Bundestagswahlkampf nächstes Jahr.

Es kann daher nicht schaden, sich der Frage beizeiten noch einmal in Ruhe zu nähern. Was also ist von der Mehrfachstaatsbürgerschaft zu halten, wenn man Sommerloch, Wahlkampf und Recep Tayyip Erdoğan einmal beiseite lässt?

Schlüsselbegriff Loyalität

Das größte Problem an der jüngsten Debatte scheint mir zu sein, dass sie ein übermäßiges Gewicht auf Fragen der politischen Kultur und Mentalität legte. Der zentrale Schlüsselbegriff sowohl für die CDU-Innenpolitiker als auch für ihre Kritiker war „Loyalität“. Dabei lautet das zentrale Argument der Doppelpass-Gegner, dass Menschen sich entscheiden müssten, welchem Staat gegenüber sie loyal sein wollen, und dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck dieser Loyalität sein solle.

Dieses Argument allerdings ist gleich auf zwei Ebenen zweifelhaft. Erstens ist schon die Vorstellung einer alles dominierenden nationalen Loyalität ein weltanschauliches Relikt aus der schlechten alten Zeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in der man die Nation als eine Art Kampfgemeinschaft verstand, die sich notfalls mit Gewalt gegenüber anderen durchsetzen musste. In Zeiten einer immer enger verflochtenen und immer pluralistischeren Weltgesellschaft sollte klar sein, dass politische Loyalitäten in Wirklichkeit weitaus komplexer gestrickt sind.

Politische Überzeugungen hängen nicht am Pass

So verlaufen viele soziale Gegensätze völlig quer zu nationalen Grenzen – sodass es rationaler wäre, seine Loyalität auf transnationale Parteien zu richten als auf nationale Regierungen. Aber auch wenn man den Loyalitätsbegriff offener fasst und damit nur die Zustimmung zu einem bestimmten politischen System meint, ist der Nationalstaat kein besonders überzeugender Bezugspunkt dafür: Denn Demokratie, Menschenrechte und sozialer Frieden werden längst nicht mehr nur durch den nationalen Verfassungsrahmen geschützt, sondern auch und gerade durch überstaatliche Regime wie die EU, die Europäische Menschenrechtskonvention oder das UN-System.

Noch absurder ist es, zweitens, die Frage der Loyalität mit dem Besitz einer Staatsbürgerschaft zu verbinden. Denn weder die politischen Überzeugungen noch die kulturellen Verhaltensweisen eines Menschen hängen davon ab, welchen Pass er in der Schublade liegen hat: Es gibt deutsche IS-Apologeten und chinesische Demokraten, saudische Feministen und Franzosen, die gerne Schwarzbrot essen. Und wer eine Staatsbürgerschaft annimmt oder auf eine andere verzichtet, wechselt deshalb noch längst nicht seine Denkweise.

Staatsbürgerschaft ist ein Rechtsstatus

Das Einzige, was sich für einen Menschen durch die Annahme oder den Verlust einer Staatsbürgerschaft tatsächlich ändert, ist sein Rechtsstatus. Denn nichts anderes ist die Staatsangehörigkeit: ein Konvolut von Rechten und Pflichten, die ein Mensch gegenüber einem bestimmten Staat besitzt.

Über welche Rechte wir dabei genau sprechen, unterscheidet sich freilich bis heute je nach Land. Die Einteilung der Menschheit in Angehörige verschiedener Staaten hat sich zwar weltweit durchgesetzt und ist auch im Völkerrecht verankert. Was daraus folgt, bleibt den Staaten aber weitgehend selbst überlassen: So gestehen Demokratien ihren Bürgern mehr Rechte zu als Diktaturen, und manche Staaten lassen bestimmte Rechte für alle Einwohner (also auch Ausländer) gelten, die andere nur ihren eigenen Angehörigen zukommen lassen.

Welche Menschen sollten welche Rechte wo besitzen?

Dennoch lassen sich einige typische Rechte identifizieren, die meistens mit der Staatsbürgerschaft einhergehen:

● ein uneingeschränktes Einreise- und Aufenthaltsrecht,
● Schutz vor Auslieferung an andere Staaten und konsularischer Schutz im Ausland,
● das Recht zur politischen Teilhabe, insbesondere das Wahlrecht,
● bestimmte politische Freiheiten (in Deutschland etwa die Versammlungsfreiheit, die nach Art. 8 Grundgesetz nur für Deutsche gilt),
● bestimmte soziale Rechte, besonders der Anspruch auf Sozialhilfe.

Wenn über den Sinn der doppelten Staatsangehörigkeit diskutiert wird, sollten also nicht diffuse Vorstellungen von „Loyalität“ im Vordergrund stehen. Vielmehr müsste es um die Frage gehen, welche Menschen diese Rechte gerechterweise in welchem Staat besitzen sollten.

Weltbürgerrechte

Um sich einer Antwort anzunähern, kann es nützlich sein, sich diese Frage zunächst in einer idealen Welt vorzustellen – einer föderal geordneten Welt, in der nicht nur jedes Land in sich, sondern auch das globale politische System insgesamt so handlungsfähig und demokratisch wäre, dass es uns bestimmte Menschenrechte effektiv als Weltbürgerrechte garantieren könnte.

In einer solchen idealen Welt läge es nahe, zahlreiche der heutigen Staatsbürgerrechte auf die globale Ebene zu verlegen: Menschen in Bezug auf politische Freiheiten wie das Versammlungsrecht nicht überall gleich zu behandeln, würde in einer freiheitlich-demokratischen Weltordnung keinen Sinn ergeben. Auch ein globales Recht auf Freizügigkeit, mit dem alle Menschen ihren Wohnort frei wählen können, sollte in einem solchen System selbstverständlich sein. Und die Garantie eines sozialen Existenzminimums läge als Menschenrecht am sinnvollsten in der Hand eines globalen Sozialstaats.

An den Wohnsitz gebundene Rechte

Andere Rechte wären hingegen auch in einer idealen Welt weiterhin auf nationaler Ebene angesiedelt: Zum Beispiel gäbe es natürlich weiterhin nationale Parlamente und damit auch ein nationales Wahlrecht. Allerdings läge es in einem föderalen, demokratischen Weltsystem nahe, diese nationalen Rechte nicht an eine angeborene oder auf Lebenszeit erworbene Staatsangehörigkeit zu koppeln – sondern schlicht an den Wohnsitz, so wie das heute schon innerhalb von nationalen Föderalstaaten üblich ist.

Innerhalb Deutschlands etwa verliert ein Bremer, der nach Brandenburg zieht, sein Wahlrecht zur Bremer Bürgerschaft; dafür darf er sich (nach einer Übergangszeit von einem Monat) an der Brandenburger Landtagswahl beteiligen. Das ist aus demokratischer Sicht nur sinnvoll, schließlich ist er nach seinem Umzug nicht mehr von der Bremer, sondern von der Brandenburger Gesetzgebung betroffen.

Nicht-Staatsbürger sind erheblichen Nachteilen ausgesetzt

In einem idealen Weltsystem käme der Staatsangehörigkeit also eine ähnliche Bedeutung zu wie heute der Zugehörigkeit zu einer Region in einem Bundesstaat: Man hätte nur eine, könnte sie aber bei einem Umzug schnell wechseln – und für viele der wichtigsten Rechte würde sie ohnehin keine entscheidende Rolle spielen, da diese auf der höhergelegenen, globalen Ebene garantiert wären. Für das Ziel, Menschen möglichst gleiche politische und soziale Rechte zuzugestehen, wäre das zweifellos die beste Lösung.

In der Realität sind wir davon allerdings noch weit entfernt, und natürlich hat es auch kein Staat in der Hand, eine solche Weltordnung allein herbeizuführen. Kurzfristig stellt sich deshalb vor allem die Frage, wie man auf einzelstaatlicher Ebene eine möglichst gerechte Annäherung an dieses Ziel erreichen kann – in einer Zeit, in der die globale Gesellschaft zusammenwächst und grenzüberschreitende Migration immer mehr zu einer Normalität wird.

In dieser Welt sind Menschen, die in ein Land ziehen, dessen Staatsbürgerschaft sie nicht besitzen, erheblichen Nachteilen ausgesetzt. Der Wechsel der Staatsbürgerschaft setzt fast immer eine mehrjährige Wartezeit voraus, während derer die Betroffenen zahlreiche Rechte nicht ausüben können. Gerade für mobile Menschen, deren Leben sich in mehr als einem Nationalstaat abspielt und die deshalb womöglich mehrmals zwischen verschiedenen Ländern umziehen, sind Mehrfachstaatsbürgerschaften deshalb oft die einzig sinnvolle Lösung.

Doppelstaatler-Rechte bringen anderen kaum Nachteile

Auf der anderen Seite lässt sich auch gegen den Doppelpass ein Gerechtigkeitsargument formulieren: Da Doppelstaatler bestimmte Rechte in mehreren Ländern genießen, geht damit eine Bevorzugung gegenüber Menschen einher, die nur einen Pass besitzen. Auch im deutschen Föderalsystem kann schließlich niemand gleichzeitig in Bremen und in Brandenburg wahlberechtigt sein.

Doch dieses Argument kann kaum überzeugen, um Mehrfachstaatsbürgerschaften grundsätzlich abzulehnen. Denn zum einen ist das Gerechtigkeitsgefälle in diesem Fall deutlich kleiner: Dass Doppelstaatler auch in anderen Ländern Rechte ausüben können, bringt ihren Mitbürgern mit nur einer Staatsangehörigkeit kaum konkrete Nachteile. Es ließe sich sogar einwenden, dass mobile Menschen ja von der Gesetzgebung in mehreren Ländern betroffen sind, sodass es durchaus gute Gründe gibt, ihnen ein mehrfaches Wahlrecht zuzugestehen.

Und zum anderen wäre es durchaus möglich, ein mehrfaches Ausüben von Staatsbürgerrechten durch völkerrechtliche Abkommen einzuschränken – beispielsweise indem Staaten vereinbaren, das Wahlrecht von Mehrfachbürgern an deren Wohnort zu koppeln. Im Internationalen Privatrecht gibt es mit dem Konzept der „effektiven Staatsbürgerschaft“ schon jetzt entsprechende Ansätze. Es wäre verfassungsrechtlich nicht trivial, aber durchaus möglich, das auch auf das öffentliche Recht zu übertragen.

Die bestmögliche Annäherung

In einer idealen Welt würde die quasi lebenslange nationale Staatsbürgerschaft, wie wir sie heute kennen, keine relevante Rolle mehr spielen: Politische und soziale Rechte wären entweder unmittelbar an den Status als Mensch und Weltbürger oder an den Wohnort gebunden. In der realen, nicht-idealen Welt können wir uns dem am besten annähern, indem wir möglichst vielen Menschen den Zugang zu mehreren Staatsbürgerschaften erlauben, damit sie ihre Rechte jeweils dort ausüben können, wo sie sich tatsächlich aufhalten.

Ein Abschaffen der Mehrfachstaatsbürgerschaft hingegen ließe zuletzt die britische Premierministerin Theresa May (Cons./AKRE) Recht behalten, die in einer Parteitagsrede jüngst voll Verachtung erklärte: „Wenn du glaubst, du wärest ein Weltbürger, bist du ein Bürger von nirgendwo.“

Bild: By vxla [CC BY 2.0], via Flickr.

11 Oktober 2016

In anderen Medien: Auf #YourNextSG zum neuen Wahlverfahren für den UN-Generalsekretär

Auf dem Blog #YourNextSG schreibt Tim Richter für die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen über die Wahl des UN-Generalsekretärs. In einem Online-Hangout habe ich dort heute mit ihm über das neue Wahlverfahren gesprochen: Hat es die UN transparenter gemacht oder lief zuletzt doch alles auf eine Hinterzimmer-Entscheidung des Sicherheitsrats hinaus? 

Das Video ist hier zu finden.

04 Oktober 2016

Machtspiele statt Argumente: Bei der Wahl des UN-Generalsekretärs rückt die Entscheidung näher

Update, 5. Oktober 2016: António Guterres hat bei der sechsten Probeabstimmung keine Gegenstimmen erhalten. Der Sicherheitsrat wird ihn deshalb am morgigen Donnerstag offiziell als neuen Generalsekretär vorschlagen. Die vollständigen Ergebnisse der Abstimmung sind hier zu finden.

Gäbe es kein Vetorecht, stünde António Guterres wohl schon als nächster UN-Generalsekretär fest.
Die Entscheidung rückt näher: Am morgigen Mittwoch findet im UN-Sicherheitsrat die nächste Probeabstimmung über die Wahl des neuen Generalsekretärs statt, und die Erwartung ist hoch, dass danach nicht mehr allzu viele folgen werden. Zum einen drängt ein wenig die Zeit, da das Mandat des derzeitigen Amtsinhabers Ban Ki-moon zum 31. Dezember ausläuft und sein Nachfolger (oder seine Nachfolgerin) zuvor noch die Möglichkeit haben soll, sich einige Wochen auf das Amt vorzubereiten. Zum anderen hält Russland, bisher der größte Blockierer einer Einigung, im Oktober die monatlich rotierende Präsidentschaft im Sicherheitsrat. Man kann davon ausgehen, dass es die Verhandlungen nun von dieser Einflussposition aus zu Ende führen will, sodass noch in diesem Monat mit einem Ergebnis zu rechnen ist.

Vetodrohungen werden deutlich

Um zum neuen Generalsekretär gewählt zu werden, benötigt ein Kandidat die Stimmen von mindestens neun der fünfzehn Mitglieder des Sicherheitsrats; außerdem darf keines der fünf ständigen Mitglieder – USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – ein Veto einlegen. Zuvor finden aber noch sogenannte straw polls statt, also unverbindliche Probevoten, die die Stimmung im Sicherheitsrat ausloten sollen.

Die Abstimmung morgen ist bereits der sechste solche straw poll seit Ende Juli. Von den fünf bisherigen unterscheidet er sich jedoch dadurch, dass die Stimmzettel der fünf ständigen Mitglieder diesmal farblich gekennzeichnet sind. Dadurch wird deutlich, welchen Kandidaten ein Veto droht – oder ob einer von ihnen bereits die Unterstützung aller fünf Vetomächte genießt, die er für den offiziellen Wahlgang benötigt. (Für einen Überblick über das gesamte Verfahren und die Ergebnisse der bisherigen Probeabstimmungen siehe hier.)

Ohne Veto wäre der Sieger klar: António Guterres

Die bisherigen Probeabstimmungen zeigen ein buntes Kandidatenfeld mit einem klaren Spitzenreiter.
Ohne die Veto-Regelung freilich stünde der Sieger längst fest. Der frühere portugiesische Regierungschef und UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, António Guterres (PS/SI-PA), erreichte bei allen bisherigen Probeabstimmungen elf oder zwölf Unterstützungsstimmen und lag damit jeweils auf dem ersten Platz. Mehr noch: Bei dem letzten straw poll Ende September war er der einzige von allen Kandidaten, der auf die neun Stimmen kam, die für die Wahl notwendig sind. An seiner Fähigkeit, das Amt auszufüllen, gibt es keine ernsthaften Zweifel, und auch bei den UN-Mitarbeitern genießt er große Unterstützung. Nichts läge näher, als ihn möglichst bald auch offiziell zum neuen Generalsekretär zu wählen – wenn es das Vetorecht nicht gäbe.

Denn schon seit längerem hält sich das Gerücht, dass eine der beiden Gegenstimmen, die Guterres in den letzten straw polls erhielt, von der russischen Regierung stammt. Diese hat erst jüngst zum wiederholten Mal erklärt, dass sie als nächsten UN-Generalsekretär einen Osteuropäer sehen will. Begründet wird das damit, dass von den fünf UN-Regionalgruppen (Afrika, Asien, Lateinamerika, Osteuropa sowie Westeuropa und der Rest der Welt) nur Osteuropa noch niemals den Generalsekretär gestellt hat. Darüber hinaus wäre Guterres aber auch der erste Generalsekretär, der aus einem NATO-Mitgliedstaat stammt – für die russische Regierung zweifellos ein Grund mehr, ihn abzulehnen.

Russlands Favoriten

Schon eher nach dem russischen Geschmack wären der Serbe Vuk Jeremić (parteilos) und der Slowake Miroslav Lajčák (SMER/SI), die bei der letzten Probeabstimmung auf dem zweiten und dritten Rang landeten. Mit jeweils acht Unterstützerstimmen waren sie die einzigen Kandidaten neben Guterres, die im Sicherheitsrat insgesamt mehr Zustimmung als Ablehnung erhielten. Allzu gute Chancen dürften sie jedoch nicht haben. Denn sollte Guterres tatsächlich an einem russischen Veto scheitern, so dürften sich wohl die USA, Frankreich und Großbritannien dafür revanchieren, indem sie auch die russischen Favoriten durchfallen lassen.

Hinzu kommt, dass Jeremić und Lajčák jeweils auch persönlich einiges dazu beigetragen haben, um die westlichen Vetomächte zu verärgern. So wehrte sich Jeremić als serbischer Außenminister (2007-12) vehement gegen die Unabhängigkeit des Kosovo; während seiner Amtszeit als Präsident der UN-Generalversammlung 2012/13 verglich er die Kosovaren gar mit den mörderischen Orks aus der Hobbit-Sagenwelt. Auch wenn Jeremić sich zuletzt als entschlossener UN-Reformer präsentierte und sich damit auch die Unterstützung des Wall Street Journal sicherte, dürfte es ihm schwerfallen, diese verbalen Aggressionen wieder vergessen zu machen.

Ein slowakisch-russischer Deal

Der slowakische Außenminister Lajčák wiederum stand nach dem zweiten straw poll mit nur zwei Unterstützerstimmen schon einmal auf dem letzten Platz der Kandidatenliste – ehe sein Premierminister Robert Fico (SMER/SI) sich mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin (ER/–) traf und sich recht offen für ein Ende der Handelssanktionen aussprach, die die EU infolge der Ukraine-Krise gegen Russland verhängt hat.

Im Gegenzug sicherte Putin Fico öffentlich zu, dass er Lajčák unterstützen werde, was dann noch einige weitere Länder im Sicherheitsrat mitzog. Dass die USA, oder auch Frankreich und Großbritannien, sich auf diesen slowakisch-russischen Deal einlassen werden, darf man aber wohl getrost ausschließen. Selbst wenn Lajčák auf die notwendigen neun Stimmen kommen sollte, dürfte er deshalb am Nein der westlichen Vetomächte scheitern.

Bulgariens Kandidatinnenwechsel

Das große Thema der letzten Tage war aber ohnehin eine ganz andere Kandidatin: nämlich die Bulgarin Kristalina Georgieva (GERB/IDU), derzeit Vizepräsidentin der Europäischen Kommission. Anfang des Jahres war Georgieva noch daran gescheitert, für ihre Kandidatur die Unterstützung ihrer nationalen Regierung zu sichern. Stattdessen hatte Bulgarien die derzeitige UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokova (BSP/SI-PA) nominiert, die schon zuvor immer wieder als Favoritin für das UN-Generalsekretärsamt genannt worden war.

Allerdings stieß Bokova auf unerwartet heftigen Widerstand der USA, die ihr vorwerfen, 2011 den Beitritt Palästinas zur UNESCO unterstützt zu haben. Und auch in den ersten straw polls schnitt sie schlechter ab als erwartet: Zuletzt erreichte sie nur noch die Zustimmung von sechs Sicherheitsratsmitgliedern, während sieben sie ablehnten. Ende September wechselte die bulgarische Regierung daraufhin ihre Kandidatin aus und unterstützt nun offiziell Georgieva. Bokova bleibt zwar auf eigene Faust weiterhin im Rennen, dürfte aber keine realistische Chance mehr auf das Amt haben.

Kristalina Georgieva: ideale Kompromisskandidatin?

Doch die Nominierung Georgievas hatte noch eine weitere, etwas merkwürdige Vorgeschichte. Schon Anfang September hatte es nämlich Gerüchte gegeben, nach denen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/CDI-IDU) sich für Georgievas Kandidatur stark mache. Auf einem G20-Treffen in China habe sie in einem informellen Gespräch mit Vladimir Putin die Unterstützung der russischen Regierung gesichert. Außerdem seien Kroatien, Ungarn und Lettland bereit, Georgieva selbst zu nominieren, falls die bulgarische Regierung sich nicht zu einem Kandidatinnenwechsel entschließen würde.

Für kurze Zeit sah es deshalb so aus, als könnte Georgieva die ideale Kompromisskandidatin sein. Zum Teil wurde zwar kritisiert, dass sie bisher noch niemals ein Amt im UN-System innegehabt hat. An internationaler Erfahrung aber mangelt es ihr bestimmt nicht: Immerhin arbeitete sie von 1993 bis 2010 für die Weltbank und war seitdem Mitglied der Europäischen Kommission. Auch ihr aktueller Arbeitsschwerpunkt in der Kommission, wo sie für das Ressort Haushalt und Personal zuständig ist, ist ein Pluspunkt – ist doch die Personalpolitik des UN-Sekretariats eines der großen Themen für eine Reform der Vereinten Nationen.

Ein harsches Dementi

Dass Georgieva eine Frau ist und aus Osteuropa stammt, erfüllt zudem die Forderungen der starken Interessengruppen, die diese Merkmale als wichtigste Kriterien für die Generalsekretärswahl sehen. Könnte sie tatsächlich auf die Unterstützung Russlands zählen, so wäre sie sicherlich die stärkste Konkurrentin von António Guterres.

Doch ob sie diese Unterstützung hat, ist alles andere als sicher. Auf die Gerüchte Anfang September reagierte die russische Regierung jedenfalls mit einem ungewöhnlich harschen Dementi: Der deutsche Versuch, Bulgarien zu einem Kandidatinnenwechsel zu bewegen, sei „inakzeptabel“; die Behauptung, dass Russland das unterstützen würde, sei „gelogen“. Und auch als Bulgarien den Schritt vor wenigen Tagen schließlich vollzog, machte die russische Regierung ihre Unzufriedenheit deutlich.

Die wahrscheinlichste Lösung ist ein Kuhhandel

Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass bei der Probeabstimmung morgen kein einziger Bewerber ohne Vetodrohung davonkommt. Im Mittelpunkt steht dabei, ganz wie zu Zeiten des Kalten Krieges, ein West-Ost-Gegensatz: Die Kandidaten, die die USA, Großbritannien und Frankreich unterstützen, werden von Russland abgelehnt – während die Kandidaten, die für Russland akzeptabel wären, auf mindestens ein westliches Veto stoßen würden.

Zum Teil wird deshalb bereits spekuliert, dass die Suche nach einem neuen UN-Generalsekretär in die Nachspielzeit gehen und Ban Ki-moons Mandat bis in das Jahr 2017 ausgedehnt werden könnte. Sogar krasse Außenseiter machen sich noch Hoffnungen auf das Amt: etwa der frühere australische Premierminister Kevin Rudd (ALP/PA), der bislang noch überhaupt nicht als Kandidat in Erscheinung getreten war.

Wahrscheinlicher ist aber wohl immer noch, dass es zuletzt zu einer Einigung kommt, bei der Russland seinen Widerstand gegen Guterres (oder Georgieva) aufgibt und dafür an anderer Stelle Zugeständnisse erreicht – sei es bei der Besetzung anderer hochrangiger Ämter im UN-System oder bei der Formulierung der nächsten Syrien-Resolution. Dass Russland derzeit im Sicherheitsrat den Vorsitz hat, könnte, wie gesagt, einem solchen Kuhhandel durchaus förderlich sein.

Machtspiele der Veto-Staaten statt öffentlicher Argumente

Doch wie auch immer das Gerangel zwischen den Großmächten schließlich endet, ein Verlierer steht jetzt schon fest: Von der Hoffnung auf ein strukturierteres, transparenteres und letztlich auch gerechteres Verfahren, die mit dieser Generalsekretärswahl verbunden war, ist nicht viel übrig geblieben. Gewiss: Anders als in früheren Jahren stellten sich alle Kandidaten diesmal einer Anhörung in der Generalversammlung, bei der sie öffentlich ihre Visionen für die Zukunft der Vereinten Nationen präsentierten. Auch die nachnominierte Kristalina Georgieva kam nicht um diese Prozedur herum.

Am Ende aber hängt auch diese Wahl eben nicht an den öffentlich ausgetauschten Argumenten der Kandidaten, sondern am Veto der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Der transparente Teil des Verfahrens war spätestens nach der dritten Probeabstimmung vorüber, als eine klare Mehrheit für António Guterres deutlich wurde. Alles, was wir seitdem erleben, sind diplomatische Machtspiele, in denen die Veto-Staaten ihre nationalen Eigeninteressen verteidigen.

Aber vielleicht wird es ja 2021 besser.

Am kommenden Dienstag, 11. Oktober, diskutiere ich ab 11 Uhr in einem Online-Hangout mit Tim Richter über das neue Verfahren und aktuelle Entwicklungen bei der Generalsekretärswahl. Tim Richter betreibt für die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) das Blog #YourNextSG. Das Hangout wird dort erst live und später als Aufzeichnung zu sehen sein. Mehr Informationen hier.

Bild: By European Parliament/Pietro Naj-Oleari [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

26 September 2016

Hat die EU den Frieden in Europa gebracht? Oder ist es genau andersherum?

Zwölf Sterne statt tausenden Kreuzen: Seit es die EU gibt, gibt es keine Weltkriege mehr. Aber liegt die Sache wirklich so einfach?
Es ist das älteste Narrativ zur Begründung des europäischen Integrationsprozesses, und es wird bis heute immer wieder gern erzählt: Die Europäische Union hat uns den Frieden gebracht. Schon als am 9. Mai 1950 der französische Außenminister Robert Schuman die Gründung einer deutsch-französischen Montanunion vorschlug (der berühmte Schuman-Plan, der als Geburtsstunde der heutigen EU gilt), war sein zentrales Argument, dass durch die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion ein neuer Krieg zwischen den beiden Ländern „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ gemacht werden sollte.

Aber auch zwei Generationen und einen Nobelpreis später fehlt diese Idee in kaum einer europapolitischen Sonntagsrede. Von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) über Joachim Gauck bis hin zu David Cameron (Cons./AEKR) greifen Politiker jeder Couleur gern auf das Friedensargument zurück, es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel Pax Europaea, und in den sozialen Netzwerken kursiert seit einigen Monaten eine Grafik, in der auf einem schwarz-weißen Zeitstrahl markiert ist, wann die „ursprünglichen EU-Mitglieder“ (gemeint sind wohl Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxländer) untereinander „größere Konflikte“ ausgetragen haben und wann Frieden herrschte. Bis zum 19. Jahrhundert überwiegen die dunklen Anteile, Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es noch einmal zwei dicke schwarze Streifen für die beiden Weltkriege. Und dann: eine lange weiße Fläche, in der die Europafahne steckt.
 
Integration führt zu Frieden

Was aber ist von diesem Friedensnarrativ zu halten? Kritiker wenden gern dagegen ein, dass es ja auch in jüngerer Zeit noch eine ganze Reihe von Kriegen auf dem europäischen Kontinent gab – etwa im Jugoslawien der 1990er Jahre oder in der Ukraine heute. Indessen trägt dieser Einwand nicht so recht, denn all diese Kriege fanden außerhalb der Europäischen Union statt. Als Argument für die europäische Integration lässt sich sinnvollerweise nur feststellen, dass die EU Konflikte zwischen ihren Mitgliedstaaten verhindert. Und das trifft empirisch offensichtlich zu.

Mehr noch: Auch die Wirkmechanismen, durch die Integration zu Frieden führt, sind plausibel und nachvollziehbar. Wie Robert Schuman 1950 argumentierte, führt ein gemeinsamer Markt zu mehr zwischenstaatlicher Arbeitsteilung, sodass kein europäischer Staat mehr allein all die Güter produziert, die er zur Kriegführung gegen seine Nachbarn benötigen würde. Zugleich bekommen einflussreiche Wirtschaftsakteure ein Eigeninteresse daran, den Frieden zu wahren, um ihre Handelsbeziehungen nicht zu gefährden. Jenseits der rein wirtschaftlichen Integration bewirken die offenen Grenzen in Europa auch einen gesellschaftlichen Austausch, durch den nationalistische Vorurteile und Feindbilder abgebaut werden. Und natürlich helfen auch die EU-Institutionen, da sie einen Rahmen schaffen, um Konflikte zwischen Mitgliedstaaten friedlich und allein mit den Mitteln des Rechts beizulegen.

Demokratie führt zu Frieden

Und dennoch gibt es ein gravierendes Problem mit der These, dass wir den Frieden in Europa der EU zu verdanken hätten. Denn wie jeder Politikwissenschaftler weiß, genügt es für den Friedenserhalt zwischen zwei Staaten eigentlich schon, dass beide Demokratien sind. Wie dieser sogenannte „demokratische Frieden“ genau entsteht, ist bis heute unklar. Eine gängige These (die auf Immanuel Kants Zum ewigen Frieden zurückgeht) lautet, dass unter Kriegen vor allem die einfachen Bürger zu leiden haben. Wenn Entscheidungen nicht von einer kleinen Elite, sondern demokratisch getroffen werden, wird sich deshalb stets eine Mehrheit gegen den Krieg entscheiden – jedenfalls sofern auch das andere Land eine Demokratie ist und die Bürger deshalb erwarten können, dass es derselben Rationalität folgt.

Doch was auch immer seine genauen Wirkmechanismen sind: Auf jeden Fall ist der „demokratische Frieden“ eine der empirisch am besten belegten Theorien der Internationalen Beziehungen überhaupt. Seitdem es Staaten gibt, die man als Demokratien bezeichnen kann, haben diese so gut wie niemals untereinander Krieg geführt. Gegenbeispiele gibt es nur sehr wenige, und nur bei Ländern, deren demokratische Institutionen deutlich schwächer waren als die der heutigen EU-Mitgliedstaaten.

Der Frieden in Europa ist also überdeterminiert: Es gibt gleich mehrere Faktoren, die gut erklären können, warum es unter den EU-Mitgliedsländern seit 1945 keine Kriege mehr gegeben hat. Welchen Anteil die europäische Integration daran wirklich hatte, lässt sich deshalb nicht genau bestimmen. Aber man darf wohl annehmen, dass der entscheidende Grund doch eher die Ausbreitung der Demokratie war.

Integration führt zu (nationaler) Demokratie

Allerdings lohnt es sich, noch einige weitere Zusammenhänge in den Blick zu nehmen: Auch die Ausbreitung der Demokratie fiel schließlich nicht vom Himmel. Vielmehr dürfte neben verschiedenen anderen Faktoren die europäische Einigung selbst einigen Beitrag dazu geleistet haben, dass die Staaten Europas nach und nach zu einer demokratischen Regierungsform übergingen. Das gilt natürlich nicht für die Länder, die bereits vor 1945 Demokratien waren. Doch schon für Deutschland oder Italien war in der Nachkriegszeit die Einbindung in eine überstaatliche Struktur hilfreich, um die junge Demokratie zu stabilisieren.

Noch sehr viel deutlicher ist der Einfluss der EU auf die Demokratisierung von Ländern, die ihr noch nicht angehören, aber auf einen Beitritt hoffen: Griechenland, Spanien und Portugal in den 1970er Jahren, der ehemalige Ostblock in den 1990ern und der westliche Balkan bis heute. Die EU verspricht ihren Beitrittskandidaten Zugang zu einem enormen Binnenmarkt, fordert aber im Gegenzug, dass das Beitrittsland demokratisch wird und die Menschenrechte sowie Rechtsstaatsprinzipien achtet. Sie setzt damit einen machtvollen Anreiz für den Aufbau nationaler Demokratien in ganz Europa und trägt so indirekt auch dazu bei, dass der Kontinent den „demokratischen Frieden“ genießt.

Frieden führt zu wirtschaftlicher Integration

Aber was treibt eigentlich die europäische Integration an? Auch da gibt es natürlich eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren. Ein wichtiger Aspekt scheint jedoch zu sein, dass Staaten, die im Frieden miteinander leben (und erst recht, wenn es sich um Demokratien handelt), ganz allgemein dazu neigen, sich wirtschaftlich füreinander zu öffnen. Unternehmen, die auf die Erschließung neuer Absatzmärkte hoffen, und Verbraucher, für die eine Marktöffnung niedrigere Preise bringt, bilden eine starke Freihandelslobby, die sich politisch nicht immer, aber sehr häufig durchsetzt – jedenfalls solange ihr kein militärischer Konflikt in die Quere kommt.

Dies wird deutlich, wenn man sich mit der Geschichte der Globalisierung beschäftigt. Die lange Friedenszeit unter den europäischen Staaten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ging mit einem ersten großen Globalisierungsschub einher, der erst durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs jäh unterbrochen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die weltweite Wirtschaftsverflechtung dann zum zweiten Mal an Fahrt, blieb allerdings bis 1990 durch die Ost-West-Konfrontation gehemmt, bis sie nach dem Ende des Kalten Krieges auf ihr heutiges Ausmaß anstieg.

Eine Positivspirale?

So gesehen ist die Integration also nicht nur eine Ursache, sondern auch eine Folge des lang anhaltenden Friedens in Europa. Die stabile politische Ordnung Westeuropas nach 1945 erlaubte es, nach und nach wirtschaftliche Grenzen abzubauen, einen Binnenmarkt zu errichten und immer weiter zu vertiefen, ohne dass diese Entwicklung durch militärische Konflikte unterbrochen worden wäre. Fast könnte man das Verhältnis zwischen Integration, nationaler Demokratie und Frieden als einen circulus virtuosus beschreiben: eine Positivspirale, bei der alle drei Aspekte sich gegenseitig verstärken.

Allerdings nur fast. Denn der Effekt, dass friedliche Staaten zur Integration neigen, gilt zunächst einmal nur für die wirtschaftliche Integration. Wirtschaftliche Integration allein macht Staaten jedoch nicht demokratisch – und bietet deshalb auch keine Garantie für eine dauerhafte Stabilisierung des Friedens, wie das Beispiel der ersten Globalisierung mit dem darauffolgenden Weltkrieg zeigt.

Nur wirtschaftliche Integration schadet der Demokratie

Mehr noch: Das von Dani Rodrik beschriebene Globalisierungstrilemma (das regelmäßigen Lesern dieses Blogs bereits vertraut sein dürfte) verweist darauf, dass eine nur wirtschaftliche Integration der nationalen Demokratie sogar abträglich ist. Staaten, die wirtschaftlich eng miteinander verflochten sind, werden auch politisch voneinander abhängig. Der dadurch entstehende Verlust von Handlungsspielräumen kann die nationale Demokratie einschränken, bis sie nur noch eine Farce ist: Es gibt zwar weiterhin Wahlen, aber es stehen dabei keine realen Entscheidungsalternativen mehr zur Verfügung.

Ob aber unter diesen Umständen die Mechanismen des „demokratischen Friedens“ noch wirksam sind, ist mindestens zweifelhaft. Der oben beschriebene circulus virtuosus hat deshalb ein kaputtes Glied: Nationale Demokratie führt zu Frieden, Frieden führt zu wirtschaftlicher Integration – doch wenn die wirtschaftliche Integration die Demokratie aushöhlt, dann könnte zuletzt auch der Frieden wieder gefährdet sein.

Der Ausweg: politische Integration

Doch aus dem Rodrik-Trilemma gibt es einen Ausweg: Um den Verlust von nationalen Handlungsspielräumen zu kompensieren, muss die wirtschaftliche Integration von einer gleichwertigen politischen Integration begleitet werden. Wenn die Demokratie auf nationaler Ebene nicht mehr möglich ist, dann muss sie auf supranationaler Ebene neu errichtet werden.

Solche politischen Integrationsprozesse sind historisch eher selten, und anders als die wirtschaftliche Integration scheinen sie sich kaum je „von selbst“ zu ergeben. Der Aufbau der USA, bei dem die dreizehn demokratischen Gründungsstaaten in einer gemeinsamen demokratischen Union aufgingen, ist das eindrücklichste historische Beispiel (wobei auch die US-Demokratie zunächst so defizitär war, dass sie den amerikanischen Bürgerkrieg nicht verhindern konnte).

Das beste Modell für eine dauerhafte Friedensordnung

Was aber den Frieden in Europa betrifft, so dürfte gerade hier die größte Leistung der Europäischen Union liegen. Die EU war eben niemals ein rein wirtschaftliches Integrationsprojekt, sondern ging von Anfang an mit dem Aufbau supranationaler politischer Institutionen einher. Mit all ihren Schwächen und Defiziten bieten diese die beste Chance darauf, dass auch ein wirtschaftlich verflochtenes Europa weiterhin demokratisch sein kann – und somit auch in Zukunft der Zusammenhang zwischen Integration, Frieden und Demokratie erhalten bleibt.

Hat die EU den Frieden in Europa gebracht? Die Wirklichkeit ist natürlich viel zu komplex, um diese Frage mit einem einfachen Ja zu beantworten. Aber vieles spricht dafür, dass ein wirtschaftlich integriertes, demokratisches Mehrebenensystem das beste Modell für eine dauerhaft stabile Friedensordnung ist. Und ein solches Modell ist in Europa nur möglich im Rahmen der Europäischen Union.

Bild: By abejorro34 [CC BY-NC 2.0], via Flickr.