- Würden Sie diesem Mann (oder irgendeinem anderen Regierungschef) ein Vetorecht bei der Reform Ihres EU-Vertrags geben?
Der neue Fiskalpakt, den der Europäische Rat vergangene Woche beschlossen hat, erweist sich immer mehr als Fiasko. Nicht nur, dass er ökonomisch keinerlei Lösung für die akute Staatsschulden- und Wirtschaftskrise in der Eurozone bietet: auch rechtlich zieht seine Konstruktion einen Rattenschwanz von Problemen nach sich. Da eine reguläre Reform des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht möglich war, ist der Fiskalpakt als ein eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag von 26 Mitgliedstaaten konzipiert. Allerdings soll der Vertrag verschiedenen EU-Organen neue Aufgaben übertragen – und er soll ein neues Verfahren für Sanktionen gegen Staaten mit übermäßigen Defiziten festlegen, das die Regelungen in Art. 126 AEUV hinfällig machen würde. Damit wird der Fiskalpakt zur AEUV-Änderung durch die Hintertür, ohne dass die Bedingungen eingehalten würden, die laut Art. 48 EU-Vertrag für eine solche Vertragsänderung eigentlich notwendig sind, darunter zum Beispiel ein Mitwirkungsrecht des Europäischen Parlaments, das deutlich über den Beobachterstatus hinausgeht, der ihm jetzt für die Ausarbeitung des Fiskalpakts eingeräumt wurde. Außerdem ist es sehr strittig, ob der Pakt mit der europarechtlichen Vorschrift vereinbar ist, derzufolge von den EU-Mitgliedstaaten abgeschlossene völkerrechtliche Verträge nicht gegen das Recht der Union verstoßen dürfen. Im Verfassungsblog begann dazu in der letzten Woche eine interessante Debatte mit Gastkommentaren mehrerer Europarechtler. Und der sozialdemokratische Europaabgeordnete Hannes Swoboda, einer der Kandidaten für die Nachfolge von Martin Schulz als S&D-Fraktionsvorsitzender, kündigt schon einmal an, das Europaparlament müsse sich „überlegen, ob wir nicht dagegen klagen“.
Nun sollte man der deutschen und französischen Regierung, den Hauptförderern des Fiskalpakts, zugutehalten, dass sie sich nicht aktiv für den Gang durch die Hintertür entschieden haben, sondern eigentlich eine ganz reguläre Änderung des AEUV planten. Ausgelöst wurde der ganze Ärger erst durch die Verweigerung des britischen Premierministers David Cameron gegenüber einer solchen Vertragsreform. Unabhängig davon, welche Lösung in diesem konkreten Fall gefunden wird, stellt sich damit die grundsätzliche Frage, ob es eigentlich überhaupt noch angemessen ist, bei einer Reform der EU-Verträge jedem einzelnen Mitgliedstaat ein Vetorecht zuzugestehen.
Das nationale Vetorecht muss nicht sein
Da sich die Welt und damit der rechtliche Regelungsbedarf ständig verändern, muss die Europäische Union wie jedes politische Gemeinwesen in der Lage sein, ihre Verfassung – also EU- und AEU-Vertrag – immer wieder zu reformieren, zu überarbeiten und den Anforderungen der Gegenwart anzupassen. Solche Vertragsänderungen hat es auch schon mehrfach gegeben: beginnend mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 über die Verträge von Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und Nizza 2001 bis zum Vertrag von Lissabon 2007. Je mehr Mitgliedstaaten der EU beitraten, desto länger dauerte es jedoch, die Reformen auszuhandeln, immer öfter drohten sie an einzelnen Ländern zu scheitern, und nach dem Gezerre um den Vertrag von Lissabon haben inzwischen viele europäische Politiker eine fast panische Angst davor, sich noch einmal auf ein solches Unterfangen einzulassen.
Nun sollte man der deutschen und französischen Regierung, den Hauptförderern des Fiskalpakts, zugutehalten, dass sie sich nicht aktiv für den Gang durch die Hintertür entschieden haben, sondern eigentlich eine ganz reguläre Änderung des AEUV planten. Ausgelöst wurde der ganze Ärger erst durch die Verweigerung des britischen Premierministers David Cameron gegenüber einer solchen Vertragsreform. Unabhängig davon, welche Lösung in diesem konkreten Fall gefunden wird, stellt sich damit die grundsätzliche Frage, ob es eigentlich überhaupt noch angemessen ist, bei einer Reform der EU-Verträge jedem einzelnen Mitgliedstaat ein Vetorecht zuzugestehen.
Das nationale Vetorecht muss nicht sein
Da sich die Welt und damit der rechtliche Regelungsbedarf ständig verändern, muss die Europäische Union wie jedes politische Gemeinwesen in der Lage sein, ihre Verfassung – also EU- und AEU-Vertrag – immer wieder zu reformieren, zu überarbeiten und den Anforderungen der Gegenwart anzupassen. Solche Vertragsänderungen hat es auch schon mehrfach gegeben: beginnend mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 über die Verträge von Maastricht 1992, Amsterdam 1997 und Nizza 2001 bis zum Vertrag von Lissabon 2007. Je mehr Mitgliedstaaten der EU beitraten, desto länger dauerte es jedoch, die Reformen auszuhandeln, immer öfter drohten sie an einzelnen Ländern zu scheitern, und nach dem Gezerre um den Vertrag von Lissabon haben inzwischen viele europäische Politiker eine fast panische Angst davor, sich noch einmal auf ein solches Unterfangen einzulassen.
Im Vergleich mit anderen föderalen Systemen fällt auf, dass die Hürden für eine Verfassungsänderung in der EU weitaus höher sind als etwa in Bundesstaaten wie den USA oder der Bundesrepublik Deutschland. Während in der EU eine Ratifikation der Reform durch alle Mitgliedstaaten notwendig ist, genügt dort für eine Verfassungsänderung nämlich jeweils eine qualifizierte Mehrheit im Parlament (dem US-Kongress und dem Deutschen Bundestag) und eine qualifizierte Mehrheit der Gliedstaaten (in Deutschland eine Zweidrittelmehrheit der im Bundesrat vertretenen Länderregierungen, in den USA die Parlamente von drei Vierteln der Staaten). Ein Veto einzelner Gliedstaaten ist mit gutem Grund nicht vorgesehen, da man eben nicht das gesamte politische Gemeinwesen der Blockade einzelner seiner Teile ausliefern möchte.
Auch der UNO genügt eine Zweidrittelmehrheit
Nun ließe sich argumentieren, dass der EU-Vertrag formal natürlich keine Staatsverfassung, sondern ein Vertrag ist und deshalb seine Legitimität nur aus der Zustimmung der Mitgliedstaaten beziehe. Deshalb sei auch bei einer Vertragsreform das Einverständnis jedes einzelnen Mitgliedstaats notwendig, da diese sonst ja keine Kompetenz-Kompetenz mehr besäßen; das Vetorecht bei der Vertragsreform sei der letzte Ausdruck der nationalen Souveränität. Doch davon abgesehen, dass die nationale Souveränität natürlich alles andere als ein Wert an sich ist, lässt dieses Argument außer Acht, dass es keineswegs einem unumstößlichen Standard entspricht, dass der Gründungsvertrag einer internationalen Organisation nur einstimmig geändert werden kann. So haben zum Beispiel bei einer Änderung der Charta der Vereinten Nationen allein die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder ein Vetorecht; ansonsten ist nur eine Zweidrittelmehrheit der Mitgliedstaaten notwendig. Und das, obwohl in den Vereinten Nationen ja kaum weniger gravierende Fragen verhandelt werden als in der EU.
Hinzu kommt außerdem, dass die Europäische Union, anders als die Vereinten Nationen oder jede andere internationale Organisation, auch noch ein eigenes Parlament hat, das direkt von den Bürgern gewählt wurde. Mit dieser europäischen Volksvertretung besitzt die EU eine demokratische Legitimationsquelle, wie man sie sonst nur aus Nationalstaaten kennt: Die Bürger werden auf europäischer Ebene eben nicht nur durch ihre nationale Regierung repräsentiert, sondern auch durch die von ihnen gewählte Partei im Europäischen Parlament. Wenn man dessen Rolle im Vertragsreformprozess weiter aufwerten würde (etwa durch eine Regelung, nach der eine Vertragsänderung erst vom Europäischen Parlament mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden muss, bevor sie den nationalen Parlamenten zur Ratifizierung vorgelegt wird), wäre ein Verzicht auf nationale Vetorechte auch aus demokratischer Sicht nicht mehr problematisch.
Es fehlt am politischen Willen
Aber was sinnvoll ist, ist deshalb natürlich noch lange nicht einfach. Dass für eine Änderung von Artikel 48 EUV, durch die das deutsche Vetorecht gegen künftige EU-Vertragsreformen abgeschafft würde, nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein neues Grundgesetz nötig wäre, versteht sich von selbst (aber das brauchen wir wohl sowieso, wenn wir halbwegs unbeschadet aus der Euro-Krise wieder herauskommen wollen). Außerdem kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass David Cameron einen derartigen Vorschlag rundheraus ablehnen würde – und Angela Merkel oder Nicolas Sarkozy, aller Rhetorik des „überzeugten Europäertums“ zu Trotz, wahrscheinlich ebenso. Man sollte sich deshalb keinen Illusionen darüber hingeben, dass uns das nationale Vetorecht bei EU-Vertragsreformen noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird.
Doch man sollte wenigstens daran erinnern, dass dies der Grund dafür ist, dass ordentliche Reformen des europäischen Verfassungsrechts immer mehr zu einem Ding der Unmöglichkeit werden. Und dass das wiederum zur Folge hat, dass EU- und AEU-Vertrag so anfällig gegenüber informellen Änderungen sind – sei es durch eine allzu extensive Auslegung der bestehenden Regeln oder eben durch rechtlich obskure „Nebenverträge“ wie den neuen Fiskalpakt. Es hilft alles nichts: Wenn wir das politische System der Europäischen Union handlungsfähig und demokratisch machen wollen, dann müssen wir dafür als Erstes nationale Regierungen wählen, die auch den notwendigen politischen Willen dazu haben.
Auch der UNO genügt eine Zweidrittelmehrheit
Nun ließe sich argumentieren, dass der EU-Vertrag formal natürlich keine Staatsverfassung, sondern ein Vertrag ist und deshalb seine Legitimität nur aus der Zustimmung der Mitgliedstaaten beziehe. Deshalb sei auch bei einer Vertragsreform das Einverständnis jedes einzelnen Mitgliedstaats notwendig, da diese sonst ja keine Kompetenz-Kompetenz mehr besäßen; das Vetorecht bei der Vertragsreform sei der letzte Ausdruck der nationalen Souveränität. Doch davon abgesehen, dass die nationale Souveränität natürlich alles andere als ein Wert an sich ist, lässt dieses Argument außer Acht, dass es keineswegs einem unumstößlichen Standard entspricht, dass der Gründungsvertrag einer internationalen Organisation nur einstimmig geändert werden kann. So haben zum Beispiel bei einer Änderung der Charta der Vereinten Nationen allein die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder ein Vetorecht; ansonsten ist nur eine Zweidrittelmehrheit der Mitgliedstaaten notwendig. Und das, obwohl in den Vereinten Nationen ja kaum weniger gravierende Fragen verhandelt werden als in der EU.
Hinzu kommt außerdem, dass die Europäische Union, anders als die Vereinten Nationen oder jede andere internationale Organisation, auch noch ein eigenes Parlament hat, das direkt von den Bürgern gewählt wurde. Mit dieser europäischen Volksvertretung besitzt die EU eine demokratische Legitimationsquelle, wie man sie sonst nur aus Nationalstaaten kennt: Die Bürger werden auf europäischer Ebene eben nicht nur durch ihre nationale Regierung repräsentiert, sondern auch durch die von ihnen gewählte Partei im Europäischen Parlament. Wenn man dessen Rolle im Vertragsreformprozess weiter aufwerten würde (etwa durch eine Regelung, nach der eine Vertragsänderung erst vom Europäischen Parlament mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden muss, bevor sie den nationalen Parlamenten zur Ratifizierung vorgelegt wird), wäre ein Verzicht auf nationale Vetorechte auch aus demokratischer Sicht nicht mehr problematisch.
Es fehlt am politischen Willen
Aber was sinnvoll ist, ist deshalb natürlich noch lange nicht einfach. Dass für eine Änderung von Artikel 48 EUV, durch die das deutsche Vetorecht gegen künftige EU-Vertragsreformen abgeschafft würde, nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein neues Grundgesetz nötig wäre, versteht sich von selbst (aber das brauchen wir wohl sowieso, wenn wir halbwegs unbeschadet aus der Euro-Krise wieder herauskommen wollen). Außerdem kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass David Cameron einen derartigen Vorschlag rundheraus ablehnen würde – und Angela Merkel oder Nicolas Sarkozy, aller Rhetorik des „überzeugten Europäertums“ zu Trotz, wahrscheinlich ebenso. Man sollte sich deshalb keinen Illusionen darüber hingeben, dass uns das nationale Vetorecht bei EU-Vertragsreformen noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird.
Doch man sollte wenigstens daran erinnern, dass dies der Grund dafür ist, dass ordentliche Reformen des europäischen Verfassungsrechts immer mehr zu einem Ding der Unmöglichkeit werden. Und dass das wiederum zur Folge hat, dass EU- und AEU-Vertrag so anfällig gegenüber informellen Änderungen sind – sei es durch eine allzu extensive Auslegung der bestehenden Regeln oder eben durch rechtlich obskure „Nebenverträge“ wie den neuen Fiskalpakt. Es hilft alles nichts: Wenn wir das politische System der Europäischen Union handlungsfähig und demokratisch machen wollen, dann müssen wir dafür als Erstes nationale Regierungen wählen, die auch den notwendigen politischen Willen dazu haben.
Bild: User:Land of Hope and Glory [Public domain], via Wikimedia Commons.
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