Bei der Bundestagswahl im kommenden September wählen die Deutschen nicht
nur ihre nationalen Abgeordneten, sondern auch ihre Vertreter in den
intergouvernementalen EU-Organen. Welche Alternativen stehen dabei
zur Auswahl? In einer Sommerserie vergleicht dieses Blog die
europapolitischen Vorschläge in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien –
CDU/CSU
(EVP), SPD
(SPE), FDP (ALDE), Grüne (EGP) und Linke (EL). Heute: Sozialpolitik. (Zum Anfang der Serie.)
Soziale
Fortschrittsklausel
- Alle gleich? Wenigstens auf europäischer Ebene unterscheidet sich die Sozialpolitik der deutschen Parteien.
Am vergangenen Wochenende wurden die ersten Wahlplakate aufgehängt –
und schon breitet sich im Bundestagswahlkampf die Langeweile aus.
Nicht wenige Medien fragen sich, welche
Unterschiede es denn überhaupt noch zwischen den deutschen Parteien
gibt: Sind sie nicht alle irgendwie für Wirtschaftswachstum,
Sicherheit, Familie und niedrige Mieten?
Auch
auf die Europapolitik bezogen, fallen einige solche Ähnlichkeiten
auf. Wie in den letzten Tagen in diesem Blog zu lesen war, wollen
fast alle deutschen Parteien Steuerflucht
und Steuerdumping bekämpfen und die Wirtschaftspolitik der
EU-Mitgliedstaaten besser
koordinieren (wenn auch mit einigen Unterschieden im Detail). Wenn es um Eurobonds
& Co. geht, teilen sich die Geister schon mehr. Doch der Themenbereich, an dem die europapolitischen
Unterschiede zwischen der Regierung und der Opposition in Deutschland
am deutlichsten werden, dürften die sozialen Grundrechte und
Mindeststandards sein. Während weder CDU/CSU noch FDP auch nur ein
Wort zu diesen Fragen verlieren, nehmen sie bei SPD, Grünen und
Linken einen gleichermaßen hohen Stellenwert ein – mit oft sehr
ähnlichen, teilweise genau übereinstimmenden Forderungen.
Eine
wichtige Signalfunktion hat dabei die „soziale
Fortschrittsklausel“, die alle drei Oppositionsparteien im
EU-Vertrag verankert sehen wollen. Sie greifen damit eine Forderung
auf, die vor allem der Europäische Gewerkschaftsbund seit einigen
Jahren vertritt. Die Idee dabei ist, dass bei der Auslegung
des Vertrags durch den Europäischen Gerichtshof künftig sozialen
Rechten größeres Gewicht gegenüber den wirtschaftlichen
Grundfreiheiten eingeräumt werden soll. (SPD und Linke wollen den
sozialen Rechten dabei grundsätzlich „Vorrang“ geben, die Grünen
nur eine „stärkere Balance“.)
Soziale
Mindeststandards
Welche konkreten rechtlichen Folgen eine solche Reform hätte, ist allerdings unklar: In der Praxis wird die Reichweite der europäischen Sozialpolitik ohnehin weniger durch die Grundrechte im EU-Vertrag als durch Sekundärrechtsakte bestimmt. Von größerer Bedeutung als die „soziale Fortschrittsklausel“ dürfte daher die Forderung
nach sozialen Mindeststandards sein, die das Europäische Parlament und der Rat als Richtlinien auf Grundlage von Art. 153 AEU-Vertrag (oder gegebenenfalls Art. 115
AEU-Vertrag) erlassen könnten. Inhaltlich sind sich auch hier alle drei deutschen
Oppositionsparteien im Wesentlichen einig, obwohl ihre Vorschläge im
Einzelnen unterschiedlich detailliert ausfallen.
So
will die Linke nur recht allgemein „Mindestregelungen
für ein europäisches Tarif- und Sozialsystem“, während die
Grünen etwas konkreter für „gemeinsame soziale
Mindeststandards, wie ein Mindestlohn und eine Grundsicherung“,
eintreten. Auch die SPD ist für „existenzsichernde Mindestlöhne
in allen EU-Mitgliedstaaten“ und fordert zudem, dass jeweils
„gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am
gleichen Ort“ gelten sollen (was praktisch auf eine Reform der
umstrittenen EU-Entsenderichtlinie
hinausliefe). Außerdem strebt sie einen „sozialen Stabilitätspakt“
an, der jeden Mitgliedstaat dazu verpflichtet, einen bestimmten
Mindestanteil seines Bruttoinlandsprodukts für Sozial- und
Bildungsausgaben auszugeben.
Ein
europaweit einheitliches Lohn- oder Sozialniveau strebt dabei
allerdings keine der Parteien an: Stattdessen sollen sich die von SPD
und Grünen geforderten Mindestlöhne ebenso wie der „soziale
Stabilitätspakt“ jeweils am nationalen Bruttoinlandsprodukt der
einzelnen Mitgliedstaaten orientieren. Explizit lehnt die SPD
außerdem eine „Vereinheitlichung der bewährten nationalen
Sozialsysteme“ ab. Auch die Sozialdemokraten verstehen die EU also
nicht in erster Linie als eine gesamteuropäische
Solidargemeinschaft, sondern wollen vor allem „Lohn- und
Sozialdumping“ im Binnenmarkt verhindern.
Europäische
Betriebsräte und öffentliche Daseinsvorsorge
Eine
weitere gemeinsame Forderung der Oppositionsparteien ist die Stärkung
der europäischen
Betriebsräte. Diese können bereits seit 1994 von den
Arbeitnehmern in grenzüberschreitend tätigen Unternehmen gegründet
werden. Allerdings beschränken sich ihre Befugnisse nach der
EU-Betriebsratsrichtlinie
bislang vor allem auf ein Informations- und Anhörungsrecht gegenüber
der Unternehmensleitung. SPD, Grüne und Linke wollen dies nun um ein
Mitbestimmungsrecht ergänzen und damit die europäische
Betriebsratsrichtlinie stärker an das deutsche
Betriebsverfassungsgesetz annähern.
Ebenfalls
im Programm aller drei Parteien findet sich die europaweite Stärkung
der Gewerkschaften, wobei allerdings meist unklar bleibt, ob damit
die nationalen Gewerkschaften in den einzelnen Ländern oder die
gesamteuropäischen Gewerkschaftsverbände gemeint sind. Nur die SPD
fordert explizit, den Sozialdialog
auf europäischer Ebene auszubauen, der zu gesamteuropäischen
Tarifverträgen führen könnte.
Und in noch einer Angelegenheit sind sich die Oppositionsparteien einig: Sie alle machen die
öffentliche Daseinsvorsorge zum Thema ihrer Wahlprogramme. Im Hintergrund steht dabei vor allem
der Streit um die europäische Konzessionsvergabe-Richtlinie im
vergangenen Winter. Vor allem in Deutschland war damals die Furcht
verbreitet, dass diese Richtlinie zu einer „Zwangsprivatisierung“
der kommunalen Wasserversorgung
führen würde. Obwohl
die Europäische Kommission inzwischen von ihren ursprünglichen Vorschlägen abgerückt ist, kommen SPD, Grüne und Linke nun auf
die damalige Kontroverse zurück. Alle drei Parteien sprechen sich in ihren Programmen einmütig gegen die Privatisierung und für mehr kommunale
Eigenständigkeit bei der Wasserversorgung und in anderen Bereichen
der öffentlichen Daseinsvorsorge aus. CDU/CSU und FDP äußern sich
hingegen auch zu diesem Thema nicht.
Recht
auf politische Streiks
Doch
auch wenn die Oppositionsparteien also in den meisten Bereichen der
europäischen Sozialpolitik große Übereinstimmungen zeigen, in
einer Frage steht die Linke alleine da: Als einzige Partei will
sie auch das „Recht auf politischen Streik“ in allen
EU-Mitgliedstaaten verankern. Das ist vor allem deshalb interessant,
weil Arbeitsniederlegungen mit politischen Zielsetzungen in vielen
EU-Staaten, etwa Frankreich, Italien oder Spanien, schon heute zum
Alltag gehören, während gerade in Deutschland Streiks bislang
lediglich im Arbeitskampf erlaubt sind.
Aussichten
auf Erfolg dürfte die Forderung der Linken allerdings kaum haben,
denn aus dem Geltungsbereich von Art. 153
AEU-Vertrag – auf dem der Hauptteil der EU-Rechtsetzung im
sozialpolitischen Bereich basiert – ist das Streikrecht explizit
ausgenommen, und auch Art. 115
AEU-Vertrag dürfte kaum einschlägig sein. Allerdings scheinen
der Partei bei der Verfolgung ihrer sozialpolitischen Ziele ohnehin
eher außerparlamentarische Methoden vorzuschweben: Die „Antwort
der europäischen Linken auf die Krise in Europa“ soll dem
Wahlprogramm zufolge jedenfalls nicht in erster Linie die Änderung
dieser oder jener Richtlinie, sondern der „gemeinsame Widerstand“ sein. An dieser Stelle dürften SPD und Grüne dann doch einen etwas weniger militanten Kurs bevorzugen.
Fazit
Wenn es um das „soziale Europa“ geht, zeigt sich eine klare Spaltung in der deutschen
Parteienlandschaft. SPD, Grüne und Linke haben hier
eine ganze Reihe gemeinsamer Forderungen, die von einer „sozialen
Fortschrittsklausel“ im EU-Vertrag über die Einführung
gesamteuropäischer Mindestlöhne und die Stärkung der europäischen
Betriebsräte und Gewerkschaften bis zu einer Garantie der
öffentlichen Daseinsvorsorge und der kommunalen Wasserversorgung
reichen. CDU/CSU und FDP hingegen äußern sich in ihren Programmen
zu keinem einzigen dieser Vorschläge. Eigentlich hätte die Opposition hier also ein
Wahlkampfthema, mit dem sie sich hervorragend gegenüber der Regierung
profilieren könnte. Bislang ist es ihr aber jedenfalls nicht gelungen, es in der breiten öffentlichen Debatte zu verankern – und wenn man sich den bisherigen Wahlkampf ansieht, gewinnt man auch nicht den Eindruck, dass sie sich dabei große Mühe geben würde.
Die Bundestagswahl und Europa – Überblick:
1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung
1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung
Bild: By Jowereit (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.
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