Der aktuelle Beitrag von Katrin Böttger und Nicolas Butylin erscheint auf diesem Blog in deutscher Übersetzung. Das englischsprachige Original ist hier zu finden.
- „Die EU benötigt eine Strategie, die Sanktionen gegen das Regime mit einer Zusammenarbeit mit Akteur:innen der Zivilgesellschaft kombiniert.“
Am 9. August 2020 brach in Belarus eine politische Krise aus, ausgelöst durch die gefälschten Präsidentschaftswahlen und anschließende Gewalt gegen eine friedliche Demokratiebewegung. Die eskalierende Konfrontation zwischen Präsident Alexander Lukaschenko und dem oppositionellen Koordinierungsrat unter Führung der Präsidentschaftskandidatin Svetlana Tichanovskaya stand in vielen europäischen Hauptstädten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Seit der Wahl hat Tichanovskaya mehr Staats- und Regierungschefs der EU getroffen als Lukaschenko in seinen 27 Amtsjahren.
Während sich die Lage in Belarus im Gegensatz zu den Protestmärschen im vergangenen Sommer und Herbst beruhigt hat, nehmen die Repressalien des Regimes gegen politisch Andersdenkende stetig zu. Die Ereignisse der letzten Monate zeigen, wie weit sich das Regime in Belarus vom gemeinsamen europäischen Werterahmen entfernt hat. Diplomatische und zivilgesellschaftliche Kanäle werden zunehmend abgeschnitten: die geforderte Ausweisung des EU-Botschafters in Belarus, der erzwungene Personalabbau der diplomatischen Vertretungen Lettlands, Litauens und Polens sowie die Schließung des Goethe-Instituts und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Belarus verringerten Kapazitäten von extern unterstützten Kulturaktivitäten im Land.
Die Verbesserung der Beziehungen zwischen der EU und Belarus zwischen 2015 und 2020, einschließlich der Aufhebung der Sanktionen vor sechs Jahren und der Zusammenarbeit im Rahmen der Östlichen Partnerschaft, haben nicht zu einer Demokratisierung in Belarus geführt. Heute benötigt die EU eine alternative Strategie, die Sanktionen gegen das Regime mit einer verstärkten Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen innerhalb und außerhalb von Belarus kombiniert.
EU-Maßnahmen seit August 2020
Seit den Präsidentschaftswahlen im August 2020 hat die EU eine Vielzahl an Maßnahmen gegen Belarus ergriffen. In den Wochen nach der Wahl brachten die Staats- und Regierungschefs der EU ihre Besorgnis über die politische Lage zum Ausdruck und forderten ein Ende der staatlich organisierten Gewalt gegen die Demokratiebewegung und die Freilassung politischer Gefangener. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben das offizielle Wahlergebnis nicht anerkannt. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) empfand die Wahlen als weder frei noch fair.
Estland, Lettland und Litauen verhängten im August 2020 die ersten Sanktionen gegen Belarus, während im Oktober 2020 ein erstes gemeinsames EU-Sanktionspaket folgte, welches Reiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten beinhaltete. Im November 2020 verabschiedete der Europäische Rat ein zweites Sanktionspaket, das gegen Lukaschenko, seinen Sohn und nationalen Sicherheitsberater Viktor Lukaschenko und 15 weitere Mitglieder der belarussischen Behörden gerichtet war.
Die verschärfte Unterdrückung der Demokratiebewegung, einschließlich der gezielten Verfolgung von Journalist:innen, führte zu einem dritten EU-Sanktionspaket, welches im Dezember 2020 ratifiziert wurde. Erstmals wurden auch Akteure der belarussischen Wirtschaft einbezogen, die nicht speziell mit den Wahlen in Verbindung standen, jedoch vom Regime profitieren oder es aktiv unterstützen.
Sanktionen und Anreize
Im Mai 2021 legte die Europäische Kommission ein Unterstützungspaket in Höhe von 3 Milliarden Euro für ein demokratisches Belarus vor. Schlüsselelemente sind die finanzielle Unterstützung für den wirtschaftlichen Aufschwung, die Verbesserung der Konnektivität zwischen der EU und Belarus sowie die Unterstützung der belarussischen IT-Industrie und Umweltprojekte. Das Paket ist jedoch vom demokratischen Fortschritt abhängig und soll als Anreiz für Reformen verstanden werden.
Die Aufmerksamkeit für Belarus kam im Juni 2021 zurück, als die Behörden die Landung einer Ryanair-Passagiermaschine von Athen nach Vilnius erzwangen, um den oppositionellen Blogger Raman Protasevič und seine Freundin Sofia Sapega festzunehmen. Nach diesem beispiellosen Vorfall reagierte der Europäische Rat unverzüglich und beschloss das vierte und bisher größte Sanktionspaket, welches in erster Linie den Finanzsektor der Wirtschaft (Kalium, Tabak und Erdölerzeugnisse) betrifft.
Ein Regime, das Demokratie zutiefst missachtet
Die politische Krise in Belarus ist von großer Bedeutung für die EU und Deutschland. Die EU hat eine fast 1300 km lange Grenze mit Belarus, die in den letzten Wochen aufgrund der Rekordzahlen an Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika, die von Belarus in die EU gelangen, hohe Aufmerksamkeit gewann. Noch im Januar 2020 hatten die EU und Belarus ein Visaerleichterungs- und Rückübernahmeabkommen unterzeichnet, das die Rückkehr von Geflüchteten vorsah, wodurch der Weg über Belarus in die EU weniger attraktiv wurde. Nach dem vierten EU-Sanktionspaket hat Minsk das Rückübernahmeabkommen ausgesetzt, um Druck auf die benachbarten EU-Mitglieder Lettland, Litauen und Polen auszuüben.
Die Lösung der Konfrontation mit der Regierung in Minsk hat nach wie vor hohe Priorität. Aus Sicht der EU und ihrer Mitgliedstaaten stellt die Situation in Belarus auch einen Test für die außenpolitische und geopolitische Handlungsfähigkeit der EU dar. Vor allem steht die EU einem Regime gegenüber, welches Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und universelle Werte zutiefst missachtet – wobei es auch um die mögliche Nachahmung von Lukaschenkos Politik in und außerhalb Europas geht.
Deutschlands Rolle
Der deutsche Ansatz zur Bewältigung der politischen Krise in Belarus steht im Einklang mit den Schritten der EU. So wurden die bisher verhängten EU-Sanktionen in Berlin nicht in Frage gestellt. Allerdings ist die Bundesregierung vorsichtiger als ihre osteuropäischen und baltischen Partner, wenn es darum geht, zusätzliche Maßnahmen zur Krisenbewältigung zu ergreifen.
Die Rolle Deutschlands bei der Formulierung einer EU-Strategie gegenüber Belarus hängt auch mit dem Verhältnis zu Russland zusammen. Dies wurde etwa durch die Erklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel deutlich, sie wolle erst mit Präsident Wladimir Putin über den Ryanair-Vorfall sprechen, bevor direkte Maßnahmen gegen Belarus ergriffen würden. Wie im Ukraine-Konflikt versuchte Deutschland, zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu vermitteln, Sanktionen zu unterstützen, aber auch Eskalationsmöglichkeiten für mögliche zukünftige Umstände bereitzuhalten.
Massive Verschlechterung der bilateralen Beziehungen
Die deutsch-belarussischen Beziehungen haben sich nach dem Aufschwung seit 2015 in den letzten zwölf Monaten massiv verschlechtert. Die Strategische Beratergruppe, die sich 2019 anlässlich des Deutschlandbesuchs des belarussischen Außenministers Vladimir Makei konstituierte, wurde unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl 2020 eingestellt. Bis dahin hatten zwei Treffen mit Vertreter:innen der jeweiligen Regierungen, der Wirtschaft und der Wissenschaft stattgefunden, die einen Austausch auf höchster diplomatischer Ebene ermöglicht hatten.
Auch die Deutsch-Belarussische Geschichtskommission, die im Februar 2020 ins Leben gerufen wurde, hat eine unklare Zukunft, nachdem die Verträge der Mitglieder des Historischen Instituts der Akademie der Wissenschaften in Minsk von der belarussischen Regierung wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen nicht verlängert wurden.
„Eine Schande“
Die zahlreichen Berlin-Besuche von Svetlana Tichanovskaya in den vergangenen zwölf Monaten haben die Bedeutung Deutschlands für die Lösung der Belarus-Krise unterstrichen. Sie traf sich mit Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sowie mit führenden Politikern von CDU, SPD, Grünen und FDP, um zu erörtern, wie Deutschland die belarussische Demokratiebewegung und Zivilgesellschaft unterstützen könnte. Auch dank der aktiven belarussischen Diaspora, die nach der Präsidentschaftswahl in mehreren deutschen Städten Solidaritätsdemonstrationen organisierte, ist Belarus weiterhin auf der deutschen Agenda präsent.
Am deutlichsten war die deutsche Regierung bei der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine in Minsk, in welcher auch vier deutsche Staatsbürger:innen saßen. Die Bundesregierung verurteilte dieses Vorgehen der belarussischen Behörden sowie die offensichtliche Misshandlung von Protasevič, die Regierungssprecher Steffen Seibert als „eine Schande“ bezeichnete. Der Botschafter von Belarus, Denis Sidorenko, wurde daraufhin zum zweiten Mal seit der Wahl 2020 ins Auswärtige Amt einbestellt.
Was können Deutschland und die EU tun?
Während die anhaltenden Maßnahmen der belarussischen Behörden gegen ihre Bürger:innen wahrscheinlich zu einem fünften EU-Sanktionspaket führen werden, haben die EU und Deutschland bisher wenig erreicht, um die Situation im Land zu verändern. Dabei liegt es im Interesse der EU, Belarus weiterhin ganz oben auf der politischen Tagesordnung zu halten und den Druck auf Lukaschenko zu erhöhen, politische Gefangene freizulassen und neue, freie und faire Wahlen auszurufen – auch mit Blick auf den „großen Bruder“ in Moskau.
Die folgenden Handlungsempfehlungen beruhen auf zwei Säulen. Die erste besteht in der Ausweitung von Sanktionen, anhaltenden Forderungen und positiven Anreizen gegenüber der Regierung in Minsk. Die zweite betrifft Schritte im Zusammenhang mit Akteuren der Zivilgesellschaft in Belarus.
1. Kontinuierliche Forderung nach Freilassung politischer Gefangener
Die EU sollte weiterhin die Freilassung der politischen Gefangenen fordern (von denen es am 2. September 2021 noch 652 gibt) und den belarussischen Behörden Angebote machen, wenn sie diesbezüglich „guten Willen“ zeigen – etwa die Aufhebung der Sanktionen gegen die nationale Fluggesellschaft Belavia.
2. Freie und faire Präsidentschaftswahlen
Die EU und andere internationale Institutionen sollten an ihrer Forderung festhalten, freie und faire Präsidentschaftswahlen unter internationaler Beobachtung durch die OSZE, der auch Belarus angehört, abzuhalten.
3. Neue Position eine:r EU-Sonderbeauftragten für Belarus
Die EU würde von der Einsetzung eine:r EU-Sonderbeauftragten für Belarus profitieren. Dies würde erneut verdeutlichen, wie wichtig die Situation für die europäisch-belarussischen Beziehungen ist, und die EU im Umgang mit dem Land handlungs- und widerstandsfähiger machen. Der oder die Sonderbeauftragte könnte die politischen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten besser koordinieren, einschließlich „Track-II-Maßnahmen“ wie der Nutzung inoffizieller Kanäle.
4. Visaerleichterungen für Belarus:innen
Ein wichtiger Schritt wäre die Einführung vorübergehender Visaerleichterungen für Belarus:innen im Schengen-Raum, um sie vor Gewalt und Gesetzeslosigkeit in ihrem Land zu schützen. Diesbezüglich besteht jedoch kein Konsens unter den EU-Mitgliedstaaten. Nachdem Länder wie Litauen und Polen die Visabestimmungen gelockert haben, sollten vor allem Deutschland und Frankreich dasselbe tun, um sicherzustellen, dass belarussische Bürger:innen nicht der Repressionen des Lukaschenko-Regimes ausgesetzt sind.
5. Strafrechtliche Ermittlungen
Die EU sollte dem Beispiel von Deutschland und Litauen folgen und Strafverfahren gegen Lukaschenko und die Verantwortlichen für staatliche Folter an friedlichen Demonstrant:innen einleiten. Dies entspräche dem Grundsatz der universellen Gerichtsbarkeit, nach dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch aus dem Ausland strafrechtlich verfolgt werden können.
6. Belarus von internationalen Finanzströmen abschneiden
Ein schwerer Schlag für das Lukaschenko-Regime wäre eine Entkopplung vom internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT, durch die belarussische Banken von internationalen Finanzströmen abgeschnitten würden. Dies würde exportorientierte, staatseigene Unternehmen stark treffen, wie es auch im Iran infolge ähnlicher Maßnahmen der Fall war.
In Abstimmung mit den Vereinigten Staaten, Kanada und dem Vereinigten Königreich sowie Ländern Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens wäre dieser Schritt der EU noch wirkungsvoller. Allerdings hätte er auch Auswirkungen auf die Menschen in Belarus, da Zahlungen und Überweisungen im und aus dem Land nicht mehr möglich wären und über Drittstaaten oder Kuriere erfolgen müssten.
7. EU-Belarus-Gipfel
Die von Tichanovskaya geforderte Perspektive eines EU-Belarus-Gipfels zwischen Minsker Regierungsvertreter:innen, Mitgliedern des Koordinierungsrates sowie Vertreter:innen der EU und Russlands erscheint derzeit sehr unrealistisch. Allerdings könnte ein zivilgesellschaftliches Forum nach dem Vorbild des deutsch-russischen Petersburger Dialogs ein erster Schritt in Richtung eines gesamtbelarussischen Meinungsaustauschs sein.
8. Unterstützung der belarussischen Diaspora
Die belarussische Diaspora in der EU spielt eine entscheidende Rolle bei der internationalen Verbreitung von Informationen über die Entwicklungen in Belarus. Zusätzlich zu den Subventionen für belarussische Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Medien, die im Unterstützungspaket der Europäischen Kommission enthalten sind, sollte deshalb auch die Diaspora finanziell unterstützt werden.
Deutsche und weitere europäische Sicherheitsdienste müssen zudem Bedrohungen gegenüber Exil-Belarus:innen durch die belarussischen Sicherheitsbehörden noch genauer nachgehen. Nicht nur die Verhaftung von Protasevič, sondern auch die Tatsache, dass sich die belarussische Olympionikin Kristina Timanovskaya aus Angst vor Unterdrückung weigerte, nach Belarus zurückzukehren, sowie der mysteriöse Tod von Vitali Shyshov in Kiew, welcher derzeit noch untersucht wird, haben dies verdeutlicht. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um dieser Bedrohung in den EU-Ländern entgegenzuwirken und den Betroffenen Schutz zu bieten.
9. Gründung einer Osteuropa-Universität
Wie mehrere Expert:innen in einem Schreiben an die Europäische Kommission gefordert haben, sollte die EU erwägen, eine osteuropäische Universität auf dem Gebiet der EU zu gründen. Eine Universität mit integrativem Ansatz und kostenloser Bildung wäre wichtig, um der jungen Generation in Belarus (und anderen autokratischen Ländern der ehemaligen Sowjetunion) zu helfen. Darüber hinaus sollten Programme im Rahmen von Erasmus+ sowie Stipendien für belarussische Studierende ausgeweitet werden. Dies würde die kulturellen Kontakte zwischen der EU und Belarus über viele Jahrzehnte hinweg fördern.
Spielraum für weitere Maßnahmen
Ein Jahr nach Beginn der politischen Krise in Belarus hat die EU Spielraum für weitere Maßnahmen, um den politischen Druck auf Lukaschenko zu erhöhen, damit dieser Neuwahlen ansetzt, die Gewalt gegen friedliche Demonstrant:innen beendet und politische Gefangene freilässt.
Angesichts der vorübergehenden Schließung von Kultur- und Verwaltungseinrichtungen in Belarus sollte die EU ihre Zusammenarbeit mit der belarussischen Zivilgesellschaft im Rahmen der Östlichen Partnerschaft fortsetzen. Die EU und Deutschland sollten insbesondere mit Nichtregierungsorganisationen, unabhängigen Medienschaffenden und kleinen und mittleren Unternehmen in Belarus zusammenarbeiten, um Kontakte zwischen den Menschen weiter zu vertiefen. Sollte sich die humanitäre Lage in Belarus weiter verschlechtern, muss sich die Unterstützung der EU vor allem auf die Diaspora konzentrieren. Eine engere Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren innerhalb von Belarus erscheint unter den derzeitigen Umständen unrealistisch, da demokratische Akteur:innen in Belarus bei einer Zusammenarbeit mit der EU gefährdet wären.
Und schließlich sollte die EU nicht den Fehler begehen, minimale Demokratisierungsmaßnahmen innerhalb des Lukaschenko-Apparats zum Anlass für ein Ede des politischen Drucks zu nehmen.
Dr. Katrin Böttger ist eine der beiden Direktorinnen des Instituts für Europäische Politik Berlin.
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Nicolas Butylin ist studentischer Mitarbeiter am Institut für Europäische Politik Berlin.
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