Der Beitrag von Vittoria Meißner erscheint auf diesem Blog in einer etwas erweiterten und aktualisierten deutschen Fassung. Das englischsprachige Original ist auf der IEP-Homepage zu finden.
- „Auch Deutschland kann mehr tun, um Migrant:innen zu schützen und damit die Werte des europäischen Projekts zu bewahren.“
Asyl als internationale Verpflichtung ist einer der Grundwerte, zu denen sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet haben. Auch wenn sich die Kontexte unterscheiden, erfordern die Migrationsströme aus der Ukraine seit März 2022 sowie aus Afrika und dem Nahen Osten über Belarus seit August 2021 die gleiche wertebasierte Antwort der EU. Eine dysfunktionale EU-Migrations- und Asylpolitik sowie doppelte Standards der Mitgliedstaaten haben jedoch zu ganz unterschiedlichen Antworten geführt: Beispielloser Solidarität im ukrainischen Fall steht eine unmenschliche Reaktion im Fall von Belarus gegenüber.
Um Menschen auf der Flucht aus der Ukraine zu unterstützen, haben die Mitgliedstaaten und Institutionen der EU unerwartet schnell und unbürokratisch gehandelt. Einstimmig beschlossen sie am 3. März 2022, erstmals die Richtlinie 2001/55/EG des Rates über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen zu aktivieren.
Unterstützung für ukrainische Geflüchtete
Bereits seit 2017 konnten Ukrainer:innen für bis zu 90 Tage visumfrei in Länder des Schengen-Raums reisen. Die Anwendung der Richtlinie garantiert einen vorübergehenden Schutz für bis zu drei Jahre ohne individuelle Prüfung für Ukrainer:innen oder Drittstaatsangehörige, die eine gültige Aufenthaltserlaubnis in der Ukraine haben. Diese Solidarität der EU ist richtig und notwendig.
Dass die EU die Richtlinie nicht aktiviert hat, als 2015-2016 Menschen aus Syrien vor dem Krieg in ihrem Land flohen, zeigt allerdings, dass die EU-Asyl- und Migrationspolitik von mehreren Faktoren abhängig ist. Der Fall der Ukraine macht vier davon deutlich: einen zeitlichen (eine extrem schnelle Fluchtwelle von einer Million Menschen nach nur einer Woche Krieg), einen geographischen (Nähe zur EU), einen rechtlichen (Status der Visaerleichterung) und einen kulturell-religiösen Faktor (ähnliche kulturelle Identität und ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl zur westlichen Welt).
Vorhölle an der belarussischen Grenze
Seit März 2022 sind Millionen von Migrant:innen aus der Ukraine in die EU gekommen. Sie wurden mit offenen Armen empfangen, auch von Ländern wie Polen, die lange eine starke Anti-Migrationspolitik betrieben hatten. Gleichzeitig zeigt sich weiter nördlich eine ganz andere Realität: In einem drei Kilometer langen Gebiet in Polen an der Grenze zu Belarus sitzen Tausende von Migrant:innen fest – ohne Nahrung, Unterkunft oder die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Seit August 2021 versuchen sie, in die EU einzureisen.
Dies ist das Ergebnis eines, wie die EU es nennt, „hybriden Angriffs“, den der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko im Sommer 2021 auf Kosten von Migrant:innen aus Afrika und dem Nahen Osten startete (Hauptherkunftsland war der Irak, gefolgt von Afghanistan, Syrien und der Republik Kongo). Lukaschenko ermutigte Menschen aus diesen beiden Regionen aktiv dazu, nach Belarus zu kommen und versprach ihnen eine einfache Einreise in die EU über die Grenze zu Polen. Diese Instrumentalisierung gefährdeter Menschen war eine Vergeltung für die EU-Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime aufgrund massiver Menschenrechtsverletzungen im Land.
Polen betrachtete diese Situation jedoch nicht als humanitäre Notlage wie die ukrainische, sondern als „Invasion“. Dementsprechend schloss die polnische Regierung die Grenze zu Belarus, setzte militärische Truppen ein – die wiederum Wasserwerfer und Tränengas gegen unbewaffnete Menschen einsetzten – und ignorierte rechtmäßige Asylanträge. Tausende von Frauen, Kindern und Männern saßen in dieser Vorhölle fest, da sie weder nach Minsk zurückkehren noch in das EU-Gebiet einreisen durften. Mehr als zwanzig von ihnen sind seit August 2021 ums Leben gekommen.
Polen verstößt gegen das EU-Asylrecht
Viele Politiker:innen haben sich dafür ausgesprochen, dass die EU Lukaschenkos Erpressung nicht nachgeben sollte. Doch die Antwort Polens ist nicht zu rechtfertigen. Die Behörden haben sich geweigert, Asylanträge zu bearbeiten und humanitären Organisationen sowie EU-Beobachter:innen den Zutritt zum Grenzgebiet zu gestatten. Dies verstößt gegen EU- und Völkerrecht – insbesondere gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und das geltende EU-Asylrecht.
Statt die EU um Unterstützung zu bitten, wie es Lettland und Litauen in der gleichen Notsituation taten, verweigerte Polen jegliche Hilfe der beiden Agenturen, die für die Unterstützung der Mitgliedstaaten in Grenz- und Asylfragen zuständig sind, nämlich die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) und das ehemalige Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, das seit Januar 2022 durch die Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) ersetzt wurde. Während das Land mehr als zwei Millionen Menschen aus der Ukraine aufnimmt, verstößt Polens nationalistische Regierungspartei PiS (EKR), die seit langem Anti-EU- und Anti-Migrant:innen-Stimmungen schürt, gegen EU-Werte, wenn es um andere Geflüchtete geht.
Das Migrations- und Asylpaket der EU-Kommission
Der EU fehlt es noch immer an einer gemeinsamen Position zum Thema Migration. Die Reformvorschläge des Migrations- und Asylpakets, das die Europäische Kommission 2020 vorlegte, verfehlen ihr Ziel, die Solidarität gegenüber allen Migrant:innen und die Verantwortung der Mitgliedstaaten zu stärken. Die Vorschläge halten am umstrittenen Dublin-System fest – wonach das Land der Ersteinreise für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig ist – und vermeiden verbindliche Umverteilungsquoten. Die Mitgliedstaaten können wählen, ob sie Asylbewerber:innen aufnehmen (Umverteilung) oder ob sie sich verpflichten, irreguläre Migrant:innen aus dem EU-Ersteinreiseland in ihr Herkunftsland zurückzuschicken.
Dieser Silo-Ansatz, in dem jeder Mitgliedstaat selbst über die Form seiner „Solidarität“ entscheidet, soll Flexibilität erlauben. Er kann aber auch zu einer Abwärtsspirale von mehr Spaltung und ungleicher Verantwortungsverteilung führen, wenn sich die Mehrheit der Mitgliedstaaten dafür entscheidet, Rückführungen durchzuführen, statt Asylsuchende aufzunehmen. Der ukrainische Fall bleibt eine Ausnahme. Und auch hier könnte sich die Aufnahmepolitik der Mitgliedstaaten schnell ändern, wenn sie nicht mehr nur mit Kriegsgeflüchteten, sondern auch mit einer zunehmenden Zahl von Wirtschaftsmigrant:innen infolge des Krieges in der Ukraine konfrontiert sind.
Gute Absichten, aber noch viel zu tun
Vor dem Hintergrund der polnischen Doppelmoral und der seit langem bestehenden Dysfunktionalität der EU-Migrations- und Asylpolitik müssen einflussreiche Mitgliedstaaten eine starke Haltung einnehmen. Auch Deutschland kann mehr tun, um Migrant:innen zu schützen und damit die Werte des europäischen Projekts zu bewahren.
Im Januar 2022, auf dem Höhepunkt der tragischen humanitären Situation an der Grenze zwischen der EU und Belarus, unterstützte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser die Initiative Frankreichs und der Europäischen Kommission, ein gemeinsames, funktionierendes EU-Asylsystem zu schaffen. Dieser Ansatz sieht vor, dass eine Koalition von Mitgliedstaaten bereit ist, über Ad-hoc-Vereinbarungen hinaus in Notfallsituationen Geflüchtete aufzunehmen. Hinsichtlich der Grenzkrise zu Belarus kündigte Faeser an, sie wolle eine „Koalition aufnahmebereiter Staaten“ bilden, die Asylbewerber:innen aufnimmt und die Defizite der EU-Asyl- und Migrationspolitik behebt.
Eine solche Koalition würde den Schutz von Migrant:innen und Menschenrechten garantieren. Doch obwohl Faeser zufolge die ersten Gespräche mit Frankreich und Italien zu diesem Thema vielversprechend ausfielen, zeichnen sich noch langwierige und herausfordernde Verhandlungen dazu ab.
Dysfunktionalität und Doppelmoral
Die Gegenüberstellung des ukrainischen und des belarussischen Falles hat einmal mehr die Dysfunktionalität der Migrations- und Asylpolitik der EU offenbart. Während bei der Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine Konsens herrscht, ist es unwahrscheinlich, dass es bei der Bearbeitung von Asylanträgen und der Umverteilung von Geflüchteten aus Afrika oder dem Nahen Osten eine EU-weite Einigung geben wird.
Auch die neuesten Ereignisse in der spanischen Nordafrika-Exklave Melilla, an der Grenze zwischen Spanien und Marokko, untermauern diese Vermutung. Als ca. 2000 Migrant:innen am 24. Juni 2022 versuchten, über den Grenzzaun von Marokko in die EU zu gelangen, griffen sowohl spanische als auch marokkanische Sicherheitskräfte ein. Dabei starben 37 Menschen. Menschenrechtler:innen werfen den marokkanischen Behörden den Tod dieser Menschen vor. Spaniens sozialistischer Ministerpräsident Pedro Sánchez hingegen befürwortete die Arbeit der Sicherheitskräfte, da sie einen „gewaltsamen Angriff auf die territoriale Integrität Spaniens“ verhindert hätten.
Diese Worte stellen allerdings selbst einen Angriff dar, und zwar auf die Werte der EU. Erneut wurde eine unverhältnismäßige Kriegsterminologie für eine Migrationstragödie an den Außengrenzen der EU angewendet. Obwohl die spanische Justiz einige Tage später ein Ermittlungsverfahren zur Todesursache von mindestens 23 Migrant:innen in Melilla eröffnete, erschüttert die Doppelmoral mehrerer politischer Figuren, wenn es um Migration und Asyl in der EU geht.
Was Deutschland tun kann
Deutschland kann auf vielfältige Weise dazu beitragen, dieser Doppelmoral entgegenzuwirken und die Abwärtsspirale der EU-Migrations- und Asylpolitik zu durchbrechen, die durch die ungleiche Verteilung von Verantwortung entstanden ist und zu Verstößen gegen die Werte der EU geführt hat.
● Erstens ist Faesers Vorschlag für eine Koalition aufnahmebereiter Mitgliedstaaten der richtige Weg, um kurzfristig humanitäre Lösungen und somit auch den Schutz der EU-Werte zu gewährleisten. Das deutsche Innenministerium sollte seine Gespräche mit anderen Mitgliedstaaten vorantreiben, um eine solche Vereinbarung zu erreichen. Es sollte dies insbesondere mit Frankreich und Italien tun, die beide stark von der Migration betroffen sind, sowie mit Schweden, das auf die Krise der Migrationssteuerung 2015-2016 umgehend mit der Aufnahme tausender Migrant:innen reagierte. Diese Vereinbarung würde rechtlich außerhalb der EU-Verträge geschlossen werden und müsste einen offenen Charakter haben. Jeder Mitgliedstaat könnte einer solchen Koalition zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft beitreten.
Deutschland zeigt sich solidarisch mit den ukrainischen Geflüchteten und hat bereits mehr als 300.000 von ihnen aufgenommen. Außerdem hat es 2015 und 2016 zahlreiche Asylbewerber:innen aufgenommen und ihnen ihr Recht gewährt. Deutschland sollte daher in der EU weiterhin mit gutem Beispiel vorangehen, um einen wertebasierten Gesamtansatz für alle Migrant:innen und Asylbewerber:innen zu erreichen.
Unterstützungsfonds für aufnahmebereite Gemeinden
● Am 7. April 2022 beschloss die Bundesregierung, den Bundesländern zwei Milliarden Euro für die Unterstützung und Integration von Geflüchteten bereitzustellen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. Sie könnte zusätzlich einen allgemeinen Unterstützungsmechanismus für lokale Einwanderungsbehörden in Städten und Gemeinden entwickeln, die bereit sind, Migrant:innen aufzunehmen.
● Um migrationsfeindlichen Stimmungen unter europaskeptischen politischen Akteur:innen und Bürger:innen entgegenzuwirken, sollte die ungenaue und unverhältnismäßige „Kriegs“-Terminologie, die in Deutschland und anderen EU-Ländern während des Grenzkonflikts zwischen der EU und Belarus und anlässlich der Ereignisse in Melilla verwendet wurde, fallen gelassen werden. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat gezeigt, was „Krieg“ tatsächlich bedeutet. Hier werden Begriffe wie Angriff, Invasion und Krieg zu Recht verwendet. Hingegen sollten schutzbedürftige, unbewaffnete Menschen, die versuchen, die EU-Grenze zu passieren, nicht als ein Fall von „hybrider Kriegsführung“ oder „Angriff“ bezeichnet werden.
Auf Rechtsverstöße reagieren
● Schließlich sollten Bundestagsabgeordnete sowie deutsche Mitglieder des Europäischen Parlaments eine unabhängige und effektive Beobachtung der Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen sicherstellen und eine klare diplomatische Haltung gegenüber der Regierung in Warschau einnehmen, wenn Verstöße gegen die Werte der EU und das humanitäre Recht festgestellt werden.
● Deutschland könnte zudem seinen Einfluss innerhalb der EU-Institutionen nutzen, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten sofort die Unterstützung von Frontex und EUAA sowie von humanitären Organisationen annehmen, wenn sie mit einer Notsituation an den EU-Außengrenzen konfrontiert werden. Und im Falle von Verstößen gegen internationales und EU-Recht müssen die EU-Institutionen schnell und flexibel reagieren, um dem betroffenen Mitgliedstaat für rechtswidrige Grenzschutzmaßnahmen Haushaltsmittel – zum Beispiel aus dem Asyl- und Migrationsfonds oder der Fonds für integriertes Grenzmanagement – zu entziehen oder zu verweigern.
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