Der jüngste Beitrag von Funda Tekin erscheint auf diesem Blog in deutscher Übersetzung. Das englischsprachige Original ist auch auf der Homepage des Instituts für Europäische Politik selbst zu finden.
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„Die Erweiterung kann nicht auf den Abschluss der Vertiefung warten. Deshalb muss eine Kombination aus beidem angestrebt werden.“
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zu einer grundlegenden geopolitischen Neuordnung in Europa geführt, die sich auch in der Erweiterungspolitik der Europäischen Union deutlich widerspiegelt. Ihre Mitgliedstaaten reagierten rasch auf die Beitrittsgesuche der Länder des Assoziationstrios: Die Republik Moldau und die Ukraine erhielten den Beitrittskandidatenstatus, während Georgien Bedingungen für diesen Status genannt wurden.
Auch der Beitrittsprozess für die Staaten des westlichen Balkans hat an Dynamik gewonnen. Die Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien wurden eröffnet, und im Dezember 2022 erkannte der Europäische Rat Bosnien und Herzegowina auf Empfehlung der Europäischen Kommission einen bedingten Kandidatenstatus zu. Zudem wurde im Oktober 2022 mit der Europäischen Politischen Gemeinschaft ein neues Forum zur Stärkung von Sicherheit, Stabilität und Wohlstand auf dem Kontinent geschaffen.
Eine Zeitenwende in der EU-Erweiterungspolitik
Kurzum: Wie die deutsche Sicherheitspolitik nach dem Einmarsch in der Ukraine erlebte auch die seit Jahren festgefahrene EU-Erweiterungspolitik eine „Zeitenwende“ und wurde zu einem Schlüsselelement für die Bewältigung der geopolitischen Herausforderungen, die sich aus dem Krieg ergeben. Auf der Grundlage der Zeitenwende von 2022 müssen jedoch noch eine Reihe von Fragen beantwortet werden, die für die künftige Gestaltung des Kontinents entscheidend sind.
Die grundsätzliche Frage, wer prinzipiell zur EU gehört, scheint mit der Beitrittsperspektive und der Verleihung des Kandidatenstatus beantwortet zu sein. Die Beitrittsverhandlungen sind jedoch ergebnisoffen. Der Fall der Türkei zeigt deutlich, wie lange ein solcher Prozess dauern kann – und dass er nicht unbedingt mit einer Vollmitgliedschaft enden muss.
Erwartungsmanagement ist nötig
Über die Erweiterung wird nicht nur auf Grundlage der Beitrittsfähigkeit eines Kandidatenlands entschieden, sondern auch nach den Interessen und dem politischen Willen der EU und ihrer Mitgliedstaaten. So haben beispielsweise die Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten den politischen Willen gestützt, der Ukraine aus Solidarität mit dem Land und als Signal gegen den russischen Eroberungskrieg eine Beitrittsperspektive zu geben. Gleichzeitig werfen solche politisch-symbolischen Schritte aber auch die Frage nach der objektiven Gleichbehandlung der Beitrittskandidaten und nach der Kohärenz der EU-Erweiterungspolitik auf.
In der Ukraine und anderen Kandidatenländern ist möglicherweise der Eindruck entstanden, dass ein Beitritt relativ schnell nach dem Ende des Krieges erfolgen kann. Das macht ein gründliches Erwartungsmanagement seitens der EU notwendig. So muss die EU transparent machen, dass die Erfüllung der Beitrittskriterien die entscheidende Voraussetzung für die Kandidatenländer bleibt und ihnen interne Reformen abverlangt.
Eine erweiterte EU muss funktionsfähig bleiben
Hinsichtlich der internen Auswirkungen der EU-Erweiterung steht außer Frage, dass die EU mit letztlich mehr als 35 Mitgliedstaaten funktionsfähig bleiben muss. Um dies zu gewährleisten, sind Reformen an Institutionen und Verfahren erforderlich, die aller Wahrscheinlichkeit nach den Erweiterungsprozess verzögern werden.
Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, dass durch allzu langwierige Beitrittsprozeduren das eigentliche Ziel beschädigen, da die Frustration in den Beitrittsländern wächst und ihre Reformbereitschaft sinkt. Konzepte einer differenzierten Integration oder Formen eines abgestuften Beitritts sollten daher in Betracht gezogen werden, um mentale Blockaden abzubauen und Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen.
Deutschlands Position: Erweiterung und Reform
Die deutsche Regierung gehörte nicht zu den Ersten, die nach dem russischen Einmarsch positiv auf den EU-Beitrittsantrag der Ukraine reagierten. Erst bei seiner gemeinsamen Kyiw-Reise mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi im Juni 2022 sprach sich Bundeskanzler Olaf Scholz klar für die Gewährung des Kandidatenstatus für die Ukraine aus.
In seiner Prager Rede im August unterstrich er zudem sein Engagement für die EU-Erweiterung um das Assoziationstrio und den Westbalkan. Die Position des Kanzleramts stellt jedoch eindeutig institutionelle Reformen der EU vor Erweiterungsschritte. Dies wurde auch in der deutsch-französischen Erklärung vom 22. Januar 2023 anlässlich des 60. Jahrestags des Elysée-Vertrags in Paris bekräftigt.
Ausweitung von Mehrheitsentscheiden
Die Koalitionsvereinbarung der Regierung vom Dezember 2021 enthielt eine sehr ehrgeizige EU-Reformagenda mit dem Ziel eines Europäischen Konvents, der als Folgemaßnahme zur Konferenz zur Zukunft Europas schließlich zur Gründung eines europäischen Bundesstaates führen sollte. Heute ist die Reformagenda der Regierung viel pragmatischer und konzentriert sich auf institutionelle Reformen, die innerhalb des bestehenden Vertragsrahmens möglich sein könnten.
Im Hinblick auf eine erweiterte Union mit potenziell mehr als 35 Mitgliedstaaten scheint die verstärkte Anwendung der qualifizierten Mehrheit eine wesentliche Voraussetzung zu sein, um die Funktionsfähigkeit der EU aufrechtzuerhalten. Da die Regierung keine starke Befürworterin einer differenzierten Integration unter Gruppen von Mitgliedstaaten und/oder Beitrittsländern ist, hat die Abschaffung des Vetorechts bei EU-Entscheidungen Priorität.
Unterstützung für die Länder des westlichen Balkans
Ein weiterer Schwerpunkt der Bundesregierung ist die Unterstützung der Länder des westlichen Balkans bei ihrer Anpassung an den EU-Besitzstand und bei der Schaffung von Stabilität und Wohlstand in der Region. Der 2014 gestartete Berliner Prozess bot im Jahr 2022 einen wichtigen Rahmen für den Austausch zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Berlin. Die Regierung strebt eine verbesserte regionale Zusammenarbeit an, da sie dies als Schlüssel für eine erfolgreiche Integration in die EU ansieht. Die drei Mobilitätsvereinbarungen, die in Berlin erfolgreich abgeschlossen wurden, spiegeln dieses Ziel wider.
Deutschland begrüßt auch die Europäische Politische Gemeinschaft als ein Forum für die Erarbeitung gemeinsamer Positionen zu verschiedenen Themen mit dem Ziel, Frieden und Sicherheit auf dem Kontinent zu stärken. Es grenzt die Europäische Politische Gemeinschaft dabei klar vom Erweiterungsprozess ab: Bei der Europäischen Politischen Gemeinschaft geht es für sie um „alles außer Erweiterung“ und „alles außer Institutionen“.
Der Krieg in der Ukraine hat sich deutlich auf die öffentliche Meinung in Deutschland zur EU-Erweiterung ausgewirkt. Im Sommer 2022 sprachen sich laut Statista 52 Prozent für die Erweiterung aus, ein Anstieg um rund 20 Prozentpunkte gegenüber dem vorangegangenen Winter. Zum ersten Mal seit Jahren übersteigt der Anteil der Befragten, die die Erweiterung befürworten, den der Erweiterungsgegner:innen. Die Zeit wird zeigen, ob die steigende Inflation, die steigenden Energiepreise und andere wirtschaftliche Kosten des Krieges dieses Bild verändern.
Wie geht es weiter? Alte Fragen warten noch auf Antwort
Allgemeine Unterstützung für die Erweiterung allein ist jedoch noch kein Garant für eine effiziente und effektive Politik. Der EU fehlt noch immer ein geeigneter Fahrplan für ihre Erweiterungspolitik. Dieser muss eine Reihe von Elementen berücksichtigen.
Erstens muss transparent gemacht werden, dass der mögliche Beitritt von neun neuen Mitgliedstaaten die EU auf verschiedenen Ebenen verändern wird. Die EU darf daher keine Kompromisse eingehen, wenn es darum geht, ob die Kandidatenländer die Beitrittskriterien (insbesondere im Bereich von Rechtsstaatlichkeit und Umweltstandards) erfüllen und ob sie selbst in der Lage ist, diese zusätzlichen Mitglieder aufzunehmen. Dies mag wie eine Neuauflage der alten Debatte um Vertiefung und Erweiterung der EU aussehen, aber sie erfordert dennoch eine Antwort.
Das Timing ist entscheidend
Zweitens ist das Timing ein entscheidender Faktor. Während die westlichen Balkanländer sich seit mehr als zehn Jahren in unterschiedlichen Stadien des Beitrittsprozesses befinden, erwarten die Republik Moldau und die Ukraine einen raschen Beitritt mit Dringlichkeitsverfahren. Die EU ist also mit viel Ungeduld konfrontiert. Sie sollte sich nicht dem Druck beugen, übereilte Entscheidungen zu treffen. Aber die EU sollte auch nicht zulassen, dass der Beitrittsprozess so lange dauert, dass das Vertrauen der Kandidaten in seinen letztendlichen Erfolg und damit auch seine transformative Wirkung untergraben wird.
Dies bedeutet, dass die Erweiterung nicht auf den Abschluss der Vertiefung warten kann. Es muss deshalb eine Kombination aus beidem angestrebt werden. Die Tatsache, dass diejenigen Mitgliedstaaten, die interne Reformen tendenziell ablehnen, zugleich die Erweiterung stark befürworten, stellt einen Ausgangspunkt für Verhandlungen über ein Paket aus Vertiefung und Erweiterung dar.
Dazu muss die Bundesregierung definieren, welche der von ihnen angestrebten institutionellen Reformen zur Erhöhung der Aufnahmefähigkeit der EU eine Vertragsänderung erfordern, und sich mit gleichgesinnten Mitgliedstaaten wie Frankreich dafür einsetzen. Scholz’ Rede in Prag enthielt keine sehr detaillierten Reformvorschläge. Die deutsch-französische Erklärung vom Januar 2023 geht demgegenüber ausführlicher auf die Entscheidungsfindung, die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung der Demokratie in der EU ein. Zudem wurde eine deutsch-französische Expertengruppe von den beiden Außenministerien beauftragt, die Reformen auszuarbeiten, die die EU fit für die Erweiterung machen würden.
Beitrittsprozess der verschiedenen Geschwindigkeiten
Drittens benötigt die Erweiterungspolitik der EU selbst eine Reform, und die gegenwärtigen Umstände bieten dafür eine gute Gelegenheit. Alle Beteiligten – die EU, die Mitgliedstaaten und die Beitrittskandidaten – müssen für die Idee einer Differenzierung innerhalb des Beitrittsprozesses offen sein. Diese Differenzierung sollte sich klar an den Fortschritten der Kandidatenländer orientieren und einen Beitritt mit mehreren Geschwindigkeiten ermöglichen, statt Länder dauerhaft auszuschließen.
Viertens: Die Erweiterungspolitik der EU sollte die variablen Geometrien in den Blick nehmen, die das größere Europa strukturieren. Die Europäische Politische Gemeinschaft sowie Formen der sektoralen Zusammenarbeit im Bereich kritischer Infrastrukturen wie Energie, Verkehr, Information und Digitales sind eindeutig etwas anderes als die Erweiterung der EU. Sie können aber hilfreich sein, um die Beziehungen mit den Ländern der östlichen Nachbarschaft und des westlichen Balkans zu vertiefen und dem Einfluss von Akteuren wie Russland oder China in diesen Regionen entgegenzuwirken.
Und die Türkei?
Und schließlich müssen Deutschland und die EU eine Strategie für den Umgang mit der Türkei entwickeln, die in den aktuellen Erweiterungsdebatten eine Leerstelle bleibt. In den Augen der EU hat sich die Türkei vom Beitrittskandidaten zum „strategischen Partner“ und in letzter Zeit zum „unvermeidlichen Partner“ entwickelt.
Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in diesem Frühjahr werden einen wichtigen Einfluss auf die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei haben. Sie werden darüber entscheiden, ob das Land weiterhin von Präsident Recep Tayyip Erdoğan regiert wird oder ob sich eine neue Regierung aus den sechs derzeitigen Oppositionsparteien bildet.
Funda Tekin ist Direktorin am Institut für Europäische Politik Berlin. |
Bild: Ballon: Chris H. [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Porträt Funda Tekin: privat [alle Rechte vorbehalten].
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