16 September 2024

Demokratie braucht Zeit: Das Europäische Parlament darf sich bei den Anhörungen der neuen Kommission nicht unter Druck setzen lassen

Von Manuel Müller
Ursula von der Leyen
Wer wird neben Ursula von der Leyen der neuen EU-Kommission angehören? Drei Monate nach der Europawahl hat der Rat noch immer keine Liste vorgeschlagen.

Der auf dem Social-Media-Dienst X inszenierte und von heftigen Vorwürfen an Ursula von der Leyen (CDU/EVP) begleitete Rücktritt des französischen Kandidaten Thierry Breton (parteilos) war nur die jüngste spektakuläre Wendung bei der sich immer länger hinziehenden Suche nach der neuen Europäischen Kommission. Von der Leyens Wahl zur Kommissionspräsidentin war im Juli noch sehr reibungslos über die Bühne gegangen. Seitdem aber verzögert sich der Zeitplan immer weiter. Dass die Kommission wie ursprünglich geplant zum 1. November ihr Amt antreten kann, scheint schon jetzt illusorisch. Aber auch der 1. Dezember wird wohl nur zu halten sein, wenn von jetzt an alles ganz glatt geht.

Diese Verzögerungen schränken natürlich die Handlungsfähigkeit der EU ein, unter anderem weil nur die Kommission das Recht hat, neue Gesetzgebungsakte einzubringen. Politico Europe bezeichnete den Zeitplan deshalb bereits als ein „Fiasko“ – und allmählich steigt der öffentliche Druck auf alle Beteiligten, doch bitte endlich die politischen Spielchen bleiben zu lassen und so rasch wie möglich die Zustimmung zur neuen Kommission zu geben.

Die bisherigen Verzögerungen gehen auf Kappe der Regierungen

Doch wer jetzt einfach auf Eile drängt, verkennt die institutionelle Logik hinter dem europäischen Zeitplan. Denn die bisherigen Verzögerungen gehen nahezu ausschließlich auf die Kappe der nationalen Regierungen, von denen – trotz der langen Sommerpause – viele nicht rechtzeitig eine akzeptable Kandidat:in vorschlagen konnten oder wollten. Der Zeitdruck, der jetzt ausgeübt wird, trifft hingegen vor allem das Europäische Parlament, das die Kandidat:innen in den nächsten Wochen überprüfen wird.

Er sendet damit ein fatales Signal aus: Wenn die Regierungen ihre Vorschläge nur lang genug verschleppen, dann können sie die Kontroll- und Mitspracherechte des Parlaments im Verfahren faktisch aushebeln. Das kann, auch mit Blick auf die Ernennungsverfahren künftiger Kommissionen, nicht im Sinne der europäischen Demokratie sein.

Schon der Europawahltag war umstritten

Tatsächlich geht das Ringen der Institutionen um den Zeitplan im Europawahljahr bereits lange zurück. Nachdem die Europawahlen 2009 und 2014 jeweils Ende Mai stattgefunden hatten, regte das Europäische Parlament in seinem Vorschlag für eine Reform des Europawahlrechts 2022 an, den Wahltag künftig auf den 9. Mai vorzuziehen. Dieser frühe Termin hätte den Kalender für die Ernennung der Kommission entzerrt und nach der Wahl mehr Raum gelassen, um zum Beispiel Koalitionsgespräche zwischen den Parteien im Parlament zu führen.

Im Rat konnten sich die Regierungen jedoch überhaupt nicht auf einen Termin für die Wahl einigen, sodass diese (wie im derzeitig gültigen Direktwahlakt als Rückfall-Option vorgesehen) in der ersten Juniwoche stattfand. Die formelle Nominierung von der Leyens durch den Europäischen Rat erfolgte am 27. Juni, gerade einmal drei Wochen vor der Sommerpause des Parlaments. In der Folge verzichteten die Parteien darauf, einen schriftlichen Koalitionsvertrag auszuhandeln, und wählten von der Leyen am 18. Juli zur Kommissionspräsidentin.

Für die Regierungen haben nationale Parteilogiken Priorität

Als nächsten Schritt sah das Verfahren in Art. 17 (7) EUV vor, dass die Mitgliedstaaten „Vorschläge“ machen, auf deren Grundlage dann der Rat in Einvernehmen mit der gewählten Kommissionspräsidentin die Kommissionsmitglieder nominiert. Von der Leyen forderte die Regierungen deshalb Ende Juli auf, ihr bis zum 30. August jeweils einen Mann und eine Frau vorzuschlagen, sodass sie auf dieser Grundlage eine nach Geschlechtern ausbalancierte Kommission würde zusammenstellen können.

Dieses Verfahren war nicht neu: Auch 2014 und 2019 hatten die damaligen Kommissionspräsident:innen jeweils um ein gemischtgeschlechtliches Kandidatenduo gebeten. Doch kaum eine Regierung war bereit, sich wirklich darauf einzulassen. Priorität hatten für sie weniger die Zusammensetzung der Kommission als Ganzes als die jeweils nationalen Partei- oder Koalitionslogiken bei der Besetzung des „eigenen“ Postens.

Erste Verzögerungen

Zu den ersten Verzögerungen im Zeitplan kam es dabei in zwei Mitgliedstaaten, in denen es derzeit nur eine geschäftsführende Regierung gibt: Bulgarien, wo seit März 2024 ein Technokratenkabinett im Amt ist, dessen Mandat sich eigentlich auf die Durchführung nationaler Neuwahlen beschränkt, und Belgien, wo sich seit der nationalen Wahl im Juni noch keine neue Regierungskoalition gebildet hatte. Immerhin legten beide Länder aber bis Anfang September Vorschläge vor.

Problematischer war, dass die Summe der nationalen Logiken bei der Kandidatennominierung eine massiv männerlastige Liste hervorgebracht hatte, mit der sich von der Leyen nicht vor das Europäische Parlament wagen konnte. Die Kommissionspräsidentin begann deshalb, Druck auf verschiedene Mitgliedstaaten auszuüben, um sie mit der Verheißung auf interessantere Ressorts doch noch zur Nominierung einer Frau zu bewegen. Die rumänische Regierung änderte daraufhin Anfang September ihren Vorschlag, Malta hingegen lehnte den Vorstoß öffentlich ab.

Der slowenische Fall

Zum eigentlichen Knackpunkt aber wurde Slowenien. Dessen liberale Regierung hatte ihren Kommissionskandidaten Tomaž Vesel (parteilos) ursprünglich schon im April vorgeschlagen – früher als jede andere, aber eben auch ohne jede Rücksprache mit von der Leyen, die sich zu diesem Zeitpunkt ja noch mitten im Europawahlkampf befand. Als die Kommissionspräsidentin nun stattdessen auf eine Frau drängte, wies die Regierung das zunächst zurück. Einige Tage später erklärte Vesel aber selbst, unter diesen Bedingungen nicht mehr kandidieren zu wollen. Und wiederum etwas später benannte die slowenische Regierung als Alternativkandidatin Marta Kos (GS/ALDE-nah). Inzwischen war bereits der 9. September.

Gemäß dem slowenischen Recht muss vor dem formellen Vorschlag des Kommissionsmitglieds durch die Regierung jedoch erst der Europaausschuss des nationalen Parlaments eine beratende Abstimmung durchführen. Diese Abstimmung war zunächst für den 13. September angesetzt, wurde dann jedoch vom Ausschussvorsitzenden – einem Abgeordneten der Oppositionspartei SDS (EVP) – auf unbestimmte Zeit verschoben, offiziell mit dem Argument, dass der Ausschuss mehr Informationen über die Hintergründe von Vesels Rücktritt erhalten müsse.

Theoretisch bestünde nun die rechtliche Möglichkeit, dass der Rat die Liste der Kommissionsmitglieder einfach annimmt, ohne auf einen formellen Vorschlag aus Slowenien zu warten. Der Wortlaut von Art. 17 (7) EUV steht dem nicht entgegen; auch systematisch spricht nichts dafür, dass ein einzelner Mitgliedstaat die Möglichkeit haben sollte, das Ernennungsverfahren (in dem der Europäische Rat und der Rat sonst durchweg mit qualifizierter Mehrheit abstimmen) durch Nichtvorlegen eines Vorschlags zu blockieren. Und schließlich war es dem Rat auch 2019 möglich, eine Kommission zu nominieren, obwohl das Vereinigte Königreich damals kein Mitglied dafür vorschlug.

Das Parlament kann derzeit nur abwarten

Doch weder der Rat noch von der Leyen selbst scheinen diesen Weg gehen zu wollen, und so bleibt dem Europäischen Parlament erst einmal nicht viel übrig, als zu warten. Nachdem von der Leyen eigentlich bereits letzte Woche ihr Team dem Europäischen Parlament vorstellen wollte, wird sie nun am 17. September die Fraktionsvorsitzenden treffen. Doch angesichts der unvollständigen Namensliste ist bis jetzt unklar, ob sie dabei bereits eine Ressortverteilung vorlegen wird.

Und solange die Abgeordneten (und die Kandidat:innen selbst) nicht wissen, wer für welches Ressort vorgesehen ist, können sie sich auch nicht auf die Anhörungen vorbereiten, die das Parlament vor der endgültigen Wahl der Kommission durchführen wird. Nach dem aktuellen Zeitplan werden die Anhörungen wohl Anfang November, die eigentliche Wahl der Kommission Ende November stattfinden.

Die Anhörungen sind wesentlich für die Legitimität der Kommission

Die Anhörungen sind Kernbestandteil der supranationalen demokratischen Legitimation der Europäischen Kommission. Jede Kommissionskandidat:in muss sich dabei einer mehrstündigen Befragung durch den für ihr Ressort zuständigen Ausschuss stellen. Anschließend stimmt der Ausschuss mit Zweidrittelmehrheit darüber ab, ob er der Kandidat:in grünes Licht gibt. Kommt keine Zweidrittelmehrheit zustande, gibt es (gegebenenfalls nach einer weiteren Anhörung der Kandidat:in) eine zweite Abstimmung, bei der eine einfache Mehrheit genügt. Fällt die Kandidat:in auch bei der zweiten Abstimmung durch, muss die nationale Regierung einen neuen Vorschlag machen. Erst wenn alle Kandidat:innen von ihrem jeweiligen Ausschuss bestätigt wurden, findet im Plenum die eigentliche Kommissionswahl statt.

Das Parlament nutzt die Anhörungen zum einen, um die fachliche Eignung der Kommissionskandidat:innen zu prüfen. Zum anderen geht es hier aber auch um politische Interessen, die bei einer Regierungsbildung auf nationaler Ebene in der Regel in Koalitionsgesprächen ausverhandelt würden. So haben die gewählten Abgeordneten nur hier die Gelegenheit, auf die Geschlechterbalance und die parteipolitische Zusammensetzung der Kommission sowie den Zuschnitt und Verteilung der Ressorts Einfluss zu nehmen.

Dieser Einfluss ist schwächer, als Parteien auf nationaler Ebene ihn haben, was ein gravierendes Problem für die demokratische Bedeutung der Europawahl ist. Aber immerhin existiert er, und je intensiver die Europaabgeordneten ihr Mitspracherecht wahrnehmen und gegebenenfalls einzelne Kandidat:innen durchfallen lassen, desto sichtbarer wird auch für die europäischen Bürger:innen, dass ihre Stimme bei der Europawahl einen Unterschied machen kann.

Etliche Kandidat:innen mit Gegenwind

Und tatsächlich gibt es gerade in diesem Jahr eine ganze Reihe von Kandidat:innen, die im Parlament aus politischen Gründen mit Gegenwind rechnen müssen. Um nur einige Beispiele zu nennen:

  • Raffaele Fitto (FdI/EKR) aus Italien ist neben dem Ungarn Olivér Várhelyi (Fidesz/P) der einzige Kandidat einer Rechtsaußen-Partei in der neuen Kommission. Dennoch hat ihn von der Leyen Medienberichten zufolge als einen ihrer Vizepräsident:innen vorgesehen. Sozialdemokrat:innen, Liberale und Grüne lehnen das ab.
  • Teresa Ribera (PSOE/SPE) aus Spanien ist die prominenteste sozialdemokratische Kandidat:in und könnte Vizepräsidentin mit Zuständigkeit unter anderem für die Klimawende werden. Allerdings gilt sie als Verfechterin erneuerbarer Energien und lehnt Atomkraft ab. Das missfällt einigen Abgeordneten vor allem des rechten Spektrums.
  • Olivér Várhelyi (Fidesz/P) aus Ungarn steht unter den Kandidat:innen am weitesten rechts außen und hat sich bei den Abgeordneten schon in der letzten Wahlperiode nicht beliebt gemacht. Verschiedene Beobachter:innen gehen deshalb davon aus, das die ungarische Regierung seine Ablehnung durch das Parlament bereits eingeplant hat – und ihn lediglich als Bauernopfer vorschiebt, um Zeit zu gewinnen und den Druck auf die Abgeordneten zu erhöhen, einer nachnominierten Ersatzkandidat:in zuzustimmen.
  • Ekaterina Zaharieva (GERB/EVP) aus Bulgarien war 2018 in einen Skandal um Einbürgerungen gegen Geld verwickelt. Sie wird deshalb von den Liberalen kritisiert (die sich selbst Hoffnungen auf den bulgarischen Kommissionsposten gemacht hatten).
  • Christophe Hansen (CSV/EVP) aus Luxemburg wurde von der liberal-konservativen Regierung seines Landes vorgeschlagen, obwohl auch der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokrat:innen, Nicolas Schmit (LSAP/SPE) aus Luxemburg kommt. In der SPE stößt das auf scharfe Kritik – zumal die Sozialdemokrat:innen im Vergleich zu ihrem Europawahlergebnis in der Kommission ohnehin stark unterrepräsentiert sind.
  • Glenn Micallef (PL/SPE) aus Malta wurde von seiner Regierung vorgeschlagen, obwohl es mehrere weibliche Kandidatinnen mit deutlich mehr politischer Erfahrung gegeben hätte. In den Augen vieler Abgeordneter steht er deshalb sinnbildlich für das Geschlechterproblem in von der Leyens Team. Auch Apóstolos Tzitzikóstas (ND/EVP) aus Griechenland und Kóstas Kadís (parteilos) aus Zypern sind eher schwache männliche Kandidaten.

Koalitionsdebatten können Öffentlichkeit schaffen …

Das muss nicht bedeuten, dass das Parlament all diese Kandidat:innen tatsächlich zurückweist. Einige von ihnen werden nur von manchen Parteien abgelehnt, während andere sie unterstützen. Es könnte deshalb durchaus dazu kommen, dass einige Fraktionen im Parlament sich auf einen Kompromiss einigen, bei dem sie wechselseitig die Kandidat:innen der jeweils anderen Seite akzeptieren – nichts Ungewöhnliches in einer Koalitionsregierung.

Doch damit ein solcher Kompromiss demokratische Legitimität bringt, muss er erstens für die Wähler:innen transparent sein. Die Parteien sollten deshalb so klar wie möglich kommunizieren, welche Forderungen sie an die neue Kommission erheben und welche Zugeständnisse an andere politische Kräfte im Parlament sie zu machen bereit sind.

Und zweitens muss er ohne Druck zustande kommen: Verhandlungen über die parteipolitische Zusammensetzung und inhaltliche Ausrichtung der neuen Kommission sind keine parlamentarische Nabelschau, sondern können ein wichtiges Element zur Schaffung einer gesamteuropäischen politischen Öffentlichkeit sein. Kontroversen während der Anhörungen sind für viele europäische Medien der erste Anlass, über die Kandidat:innen zu berichten, für viele Bürger:innen die erste Gelegenheit, etwas über sie zu erfahren. Doch dafür benötigen die europäischen Parteien Zeit, diese Kontroversen auszutragen.

… aber sie brauchen Zeit

Damit die Anhörungen im Parlament eine demokratische Legitimationswirkung entfalten können, müssen die Abgeordneten eine reale Möglichkeit haben, Kandidat:innen durchfallen zu lassen – und gegebenenfalls, siehe Ungarn, auch deren Ersatzkandidat:innen. Wenn das zu weiteren Verzögerungen führt, so sollte dies nicht dem Parlament angelastet werden, sondern den Regierungen der Mitgliedstaaten, die aufgrund nationaler Partei- und Koalitionsdynamiken zum Teil Monate dafür benötigten, um eine einzige Kandidat:in vorzuschlagen.

Im Vergleich dazu sind die gesamteuropäischen Partei- und Koalitionsdynamiken, die sich erst in den kommenden Wochen während der Anhörungen im Europäischen Parlament entfalten können, weit wichtiger für die demokratische Legitimität der Europäischen Kommission als Ganzes. Die europäischen Parteien müssen sich deshalb jetzt ihre Zeit nehmen – selbst wenn das bedeutet, dass die neue Kommission erst zum neuen Jahr ihr Amt antritt.


Bild: European People's Party [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons.

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