Der
Chefredakteur: Redet über die EU in eurer Freizeit, aber lesen will
das keiner. Das ist total langweilig, kompliziert und unsexy.
Die
Politikredakteurin: Kompliziert? Das ist nicht die Bohne kompliziert.
Die Premierministerin ernennt einen EU-Kommissar, ganz einfach.
Der
Chefredakteur: Kein Däne weiß, was diese Kommission wirklich macht.
[…] Die Leute interessiert nur, was dort verdient wird und ob einer
in die Kasse gegriffen hat.
Die
Politikredakteurin: Nein, also wirklich! Der EU-Kommissar-Posten ist
Dänemarks Stimme in Europa!
„Borgen“,
Staffel 2, Folge 2
Es
kommt nicht häufig vor, dass in einer Fernsehserie von der
Europäischen Kommission die Rede ist, aber die sehenswerte dänische
Politikserie Borgen,
deren
zweite Staffel gerade auf Arte angelaufen ist, machte diese Woche
eine Ausnahme. In der Folge „Wer wird EU-Kommissar?“ geht es um die Ernennung des
neuen dänischen Kommissionsmitglieds, die der fiktionalen
Premierministerin Birgitte Nyborg zu schaffen macht. Ausgestrahlt
wurde die Sendung
passenderweise nur einen Tag, nachdem am Mittwochvormittag
tatsächlich über die Ernennung eines neuen EU-Kommissars abgestimmt
wurde – allerdings nicht aus Dänemark, sondern aus Malta. In einer
hart umkämpften Abstimmung akzeptierte das Europäische Parlament
den umstrittenen Christdemokraten Tonio Borg (PN/EVP) als neues Mitglied der Kommission.
Nun
ist die Ernennung eines Kommissionsmitglieds keine Kleinigkeit. Als
die „Regierung“ der EU, die zudem das alleinige Initiativrecht
bei der Gesetzgebung besitzt, kann die Kommission im Guten wie im
Schlechten entscheidenden Einfluss auf die europäische Politik
nehmen. Obwohl sie nach einem strikten Nationalproporz besetzt ist
(ein Kommissar pro Land), sind ihre Mitglieder nach Art. 17 EU-Vertrag ausschließlich den „allgemeinen Interessen der
Union“ verpflichtet. Ausgewählt werden sie „aufgrund ihrer
allgemeinen Befähigung und ihres Einsatzes für Europa unter
Persönlichkeiten […], die volle Gewähr für ihre Unabhängigkeit
bieten“. So weit jedenfalls die verfassungsrechtliche Theorie. Wie
aber sieht die Praxis dieses Auswahlprozesses
aus? Und welche Folgen hat das für die demokratische Legitimation und das öffentliche Ansehen der Kommissare?
Borgen:
Parteifreunde werden nach Brüssel weggelobt
In
der fiktionalen Welt von Borgen
spielt die allgemeine Befähigung der Kandidaten jedenfalls von
Anfang an nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es bei der
Auswahl des dänischen Kommissars vor allem um eine parteiinterne
Intrige: Die Premierministerin muss sich zwischen einem alten,
inzwischen etwas unbequem gewordenen Weggefährten und einem
schmierigen, karrieresüchtigen Europaminister entscheiden. Einigkeit
besteht darüber, dass man einen so wichtigen Posten nicht einfach
dem Koalitionspartner überlassen kann. Wirklich haben will ihn aber
auch keiner der Kandidaten, denn, wie ein Berater der
Premierministerin nach wenigen Minuten feststellt, „in Brüssel
hört dich keiner schreien“. Die Ernennung der EU-Kommission dient
aus Sicht der nationalen Regierungen vor allem dazu, unliebsame
Parteifreunde wegzuloben: Der deutsche Zuschauer erinnert sich an die
Wahl von Günther Oettinger (CDU/EVP) vor drei Jahren und nickt
verstehend.
Wie
aber steht es mit dem europäischen Gemeinwohl? Sollten bei der
Auswahl nicht auch die Bürger der übrigen Staaten ein Wörtchen
mitzureden haben? Tatsächlich sind es dem EU-Vertrag zufolge
keineswegs die nationalen Regierungen allein, die den Kommissar aus
ihrem Land ernennen. Vielmehr machen diese nach Art. 17 Abs. 7
EU-Vertrag lediglich „Vorschläge“, auf deren Grundlage dann der
Ministerrat „im
Einvernehmen mit dem gewählten [Kommissions-]Präsidenten“ eine
Liste mit Nominierten zusammenstellt. Durchaus
realistischerweise macht Borgen
jedoch keinen Hehl daraus, dass dieses Prozedere in der Praxis
weitgehend bedeutungslos ist. Zwar ruft der neu gewählte
Kommissionspräsident im Verlauf der Folge mehrmals an, um die
dänische Premierministerin zu einer Entscheidung zu drängen. Echten
Einfluss aber übt er nur auf die Ressortverteilung aus: Falls die
Dänen sich dazu herablassen, einen kompetenten Kandidaten zu
benennen, so könnte dieser ein wichtiges Amt übernehmen; falls sie
hingegen einen Anfänger schicken, wird er nur Kommissar für
Mehrsprachigkeit.
Und
das Europäische Parlament, ohne dessen Zustimmungsvotum die neue
Kommission nicht ins Amt kommt? Das wird bei Borgen
zunächst
einmal überhaupt nicht erwähnt und spielt auch keine Rolle für die
Entscheidung der Regierung. Jedenfalls beinahe: Als nämlich der mit
großer Mühe endlich gefundene Kandidat in Minute 40 der Folge davon
erfährt, dass er sich in der kommenden Woche in einer sechs- bis
siebenstündigen Anhörung den Fragen der Europaabgeordneten unterziehen soll, da
erleidet er (ja, wirklich!) einen Schlaganfall und fällt für den
Rest der Sendung aus. Welch bitteres Symbol: So viel europäische
Demokratie übersteigt offenbar die Kräfte bei den Protagonisten
einer dänischen Politserie.
Tonio
Borg: Landsleuten fällt man nicht in den Rücken
Etwas
besser ging die Sache für den real existierenden Tonio Borg aus, der
seine Anhörung erfolgreich überstand und am Mittwoch vom
Europäischen Parlament als neues Kommissionsmitglied bestätigt
wurde. Was aber das Verhältnis von nationalem und europäischem
Interesse betrifft, so war sein Fall kaum weniger lehrreich als
derjenige des fiktionalen Dänen.
Tonio
Borg gehört zum rechtskatholischen Flügel der maltesischen
Regierungspartei PN (EVP) und war seit 1998 erst Innen-, dann seit 2008 Außenminister von Malta.
Nachdem sein Parteifreund John Dalli vor einigen Wochen wegen einer
Korruptionsaffäre als EU-Gesundheitskommissar hatte zurücktreten
müssen, wurde er von der maltesischen Regierung recht schnell zu
dessen Nachfolger auserkoren. Dann allerdings wurden Vorwürfe laut, dass
Borg in der Vergangenheit nicht nur durch homophobe Äußerungen
aufgefallen war, sondern auch zugelassen hatte, dass ein international gesuchter kasachischer Ex-Politiker ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Malta erhielt. Außerdem hatte er in seiner Zeit als Innenminister die Abschiebung von zweihundert eritreischen Flüchtlingen zu verantworten, von denen mehrere anschließend in ihrem Herkunftsland verhaftet und gefoltert wurden. Die Fraktionen der Linken (GUE/NGL), Liberalen (ALDE) und
Grünen (G/EFA) kündigten deshalb an, sie würden Borgs Ernennung im Europäischen Parlament ablehnen. Nur die Christdemokraten (EVP),
Rechtskonservativen (ECR) und Europaskeptiker (EFD) sprachen
ihm weiterhin ihre Unterstützung aus.
Da
dies jedoch für eine Mehrheit noch nicht ganz genügte, kam es
entscheidend auf die Abgeordneten der sozialdemokratischen Fraktion
S&D an. Von diesen sprach sich in einer fraktionsinternen
Abstimmung eine Mehrheit gegen Borg aus – die vier
Abgeordneten der Malta Labour Party aber stemmten sich massiv gegen
diese Haltung ihrer Parteigenossen. Offenbar wollten sich die
maltesischen Sozialdemokraten, die den Umfragen zufolge bei den
nationalen Wahlen in einem halben Jahr die PN an der Regierung
ablösen werden, nicht dem Vorwurf aussetzen, einem Landsmann in den
Rücken zu fallen. Die Malta
Times
jedenfalls zitierte den MLP-Abgeordneten Edward Scicluna mit der Aussage, für ihn
„als Malteser“ sei die S&D-Kritik an Borg eine „erniedrigende
Erfahrung“ gewesen. Am Ende wurde Borg in geheimer Wahl mit 386 zu
281 Stimmen bestätigt, was auf mindestens 30 bis 60 Unterstützer
aus der S&D-Fraktion hindeutet. Und während deutsche
Christdemokraten in diesem Votum eine „schallende Ohrfeige für Linke und Liberale“ sahen, wurde es in den
Online-Leserkommentaren der Malta
Times als großer nationaler Erfolg gefeiert.
Spitzenkandidaten
für Europawahlen
Dass
die Europäische Kommission ein bürgerfernes und wenig
demokratisches Organ sei, gehört zum Standardrepertoire der
EU-Kritik. Betrachtet man die Ernennung der neuen Kommissare, wie sie
diese Woche im Fernsehen und in Wirklichkeit zu sehen war, so ist
diesem Vorwurf in einer Hinsicht ohne Zweifel Recht zu geben: Es kann
nicht angehen, dass die Mitglieder eines Gremiums, das dem
Wohlergehen aller Europäer verpflichtet sein soll, nach einem
Verfahren gewählt werden, welches so sehr die nationalen Interessen in
den Vordergrund stellt. Solange die Mehrheit der europäischen
Öffentlichkeit so wie die Politikredakteurin des fiktionalen
Boulevardblattes aus Borgen
den
Posten eines EU-Kommissars als „Dänemarks Stimme in Europa“
sieht, wird die Kommission kaum als ein
Organ supranationaler Demokratie wahrgenommen werden. Und solange die Bürger nicht den Eindruck bekommen, dass die Zusammensetzung der Kommission auf eine politische Wahl zurückgeht, bei der sie selbst mit ihrer Stimme Einfluss ausüben können, wird sie an der europäischen Exekutive auch in Zukunft nur interessieren, „was dort verdient wird und ob einer
in die Kasse gegriffen hat“.
Wenn
die politische Legitimation der Kommissionsmitglieder verbessert
werden soll, so muss bei ihrer Ernennung künftig also nicht mehr die
nationale Herkunft, sondern die parteipolitische Ausrichtung im
Vordergrund stehen. Es ist bedauerlich genug, dass die irische
Regierung 2008 (nach dem gescheiterten ersten Referendum über den
Vertrag von Lissabon) durchsetzte, dass auch in Zukunft immer genau
ein Kommissar aus jedem Mitgliedstaat stammen muss. Umso wichtiger
ist es, ihre Wahl nicht primär den nationalen Regierungen zu
überlassen, sondern die Fraktionen des Europäischen Parlaments in
den Mittelpunkt des Verfahrens zu stellen.
Ein
erster Schritt in diese Richtung wurde bereits getan: In den letzten
Monaten haben die großen europäischen Parteien – die
sozialdemokratische SPE und die christdemokratische EVP –
beschlossen, vor der nächsten Europawahl 2014 europaweite
Spitzenkandidaten zu benennen. Der Kandidat der stärksten Fraktion
soll dann vom Europäischen Rat (der gemäß Art. 17 Abs. 7
EU-Vertrag das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigen“ muss)
als Kommissionspräsident vorschlagen werden. Wenigstens das
wichtigste Amt der Kommission würde also nicht nach nationalen
Kriterien, sondern entsprechend dem Votum der europäischen Wähler
für die eine oder andere Partei vergeben werden. Gerade an diesem
Freitag hat das Europäische Parlament dieses Vorhaben noch einmal
durch eine Resolution bestätigt (hier der Wortlaut), die der Blogger Protesilaos Stavrou völlig zu
Recht als „bold step towards European democracy“
bezeichnet hat.
Europäische
Schattenkabinette
Klar
ist allerdings auch, dass es hierbei nicht bleiben kann. Denn der
Kommissionspräsident hat zwar nach Art. 248 AEU-Vertrag eine Richtlinienkompetenz, doch zuletzt werden
sämtliche Beschlüsse des Gremiums gemäß Art. 250 AEU-Vertrag von allen Kommissaren gemeinsam in einem
Mehrheitsentscheid getroffen. Auf die Dauer wird es deshalb nicht
genügen, wenn nur der Präsident nach seiner parteipolitischen
Zugehörigkeit gewählt wird. Auch die Ernennung der übrigen
Mitglieder darf nicht der nationalen Politik ihrer jeweiligen Länder
überlassen bleiben.
Eine
Lösung hierfür könnte darin bestehen, dass vor der Europawahl
nicht nur jede europäische Partei einen Spitzenkandidaten für das
Amt des Kommissionspräsidenten ernennt, sondern diese auch mit einer
Art Schattenkabinett ausstattet: mit Kandidaten für die einzelnen
Ressorts, die innerhalb der Kommission zu vergeben sind. Gemäß den
Vertragsbestimmungen müsste dabei natürlich aus jedem Mitgliedstaat
genau ein Kandidat stammen; doch die Auswahl dieser Kandidaten
wäre eben nicht mehr Sache der nationalen Regierungen, sondern der
europäischen Parteien, die sich bei der Europawahl dem Votum der Bürger stellen. Nach den Wahlen müsste dann eine Koalition
von Parteien, die zusammen eine Mehrheit im Europäischen Parlament
besitzen, aus ihren jeweiligen Schattenkabinetten eine gemeinsame
Kandidatenliste erstellen und diese den nationalen Regierungen
vorlegen – versehen mit einem Hinweis, dass das Parlament keinem Vorschlag zustimmen wird, der nicht dieser Liste
entspricht. Und natürlich würde auch im Fall des überraschenden
Rücktritts eines Kommissionsmitglieds der Nachfolger zunächst
zwischen den Koalitionsfraktionen abgesprochen, bevor die nationale
Regierung einen Kandidaten nominiert.
Vermutlich
würde ein solches Vorgehen der europäischen Parteien zunächst
einmal zu einer institutionellen Krise zwischen dem Europäischen
Parlament und dem Europäischen Rat führen. Aber wenn die
Abgeordneten diese durchzustehen bereit sind, dann spricht nichts
dagegen, dass das beschriebene Verfahren im Laufe der Jahre zur üblichen Praxis wird – so
wie heute noch der Zugriff jeder Regierung auf ihren jeweiligen
„nationalen“ Kommissionsposten gängig ist. Nötig ist dafür noch
nicht einmal eine Änderung des EU-Vertrags, sondern lediglich ein
wenig Mut der europäischen Parteien. Und wir Bürger bekämen
endlich die Möglichkeit, durch die Europawahl in demokratischer
Weise auf die Zusammensetzung der europäischen Exekutive Einfluss zu
nehmen.
Bild: Flickr_-_europeanpeoplesparty_-_EPP_LEADERS_MEET_IN_DUBLIN_14_April_2008_(43).jpg: European People's Party; derivative work: Herzi Pinki [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
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