19 November 2012

Das Eigenmittelsystem, die Finanztransaktionssteuer und die Wahrnehmung der Europäischen Union in der Öffentlichkeit

Die Union stattet sich mit den erforderlichen Mitteln aus, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik durchführen zu können.

Der Nettozahlerdebatte verdanken wir manche bunte Grafik. Und manchen sinnlosen Streit.
Ich weiß nicht, ob das Wort „Eigenmittelsystem“ jemals in der Tagesschau oder im Aufmacher einer großen deutschen Zeitung verwendet wurde: Es klingt so technisch und sperrig, dass jeder gute Journalist befürchten müsste, damit seine Leser und Zuschauer zu vergraulen. Für diejenigen, die sich intensiver mit Europapolitik beschäftigen, bezeichnet dieses Wort hingegen ein Thema, über das mit größter Leidenschaft diskutiert wird. Denn es handelt sich dabei um nichts anderes als um die Frage, wie sich die EU finanzieren soll – und damit indirekt auch um die Frage, ob sie sich als eine Union der europäischen Bürger oder nur ein Bündnis ihrer Mitgliedstaaten versteht.

Und darum geht es: Wie jeder Staat und jede internationale Organisation benötigt die EU zur Erfüllung ihrer Aufgaben finanzielle Mittel. Zu deren Beschaffung gibt es typischerweise zwei Modelle: Staaten finanzieren sich größtenteils über Steuern, die sie von ihren Bürgern erheben; internationale Organisationen hingegen leben meist von den Beiträgen ihrer Mitgliedstaaten. Unabhängig von der Höhe des Budgets haben internationale Organisationen deshalb in finanziellen Fragen weniger Autonomie, da sie letztlich Jahr für Jahr auf den guten Willen ihrer Mitglieder angewiesen sind. Insbesondere die reichen Staaten, die für den größten Teil des Budgets aufkommen, können dies zur Ausübung von Macht nutzen – was beispielsweise die USA gegenüber den Vereinten Nationen auch recht unverblümt tun.

Die „Eigenmittel“ der EU

Damit so etwas in der Europäischen Union nicht geschieht, wurde bereits in den 1960er Jahren beschlossen, dass die europäische Ebene über Finanzautonomie verfügen und nicht auf nationale Beitragszahlungen angewiesen sein sollte. Allerdings schreckten die Mitgliedstaaten davor zurück, den Europäischen Gemeinschaften ein eigenes Besteuerungsrecht einzuräumen. Stattdessen sollten sich die „Eigenmittel“ der EG aus deren eigenen Tätigkeiten ergeben. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um die Einnahmen aus den Importzöllen auf Produkte aus Nicht-EG-Staaten, die in einer Wirtschaftsgemeinschaft mit einheitlichen Außenzöllen und freiem Binnenhandel ohnehin nicht mehr sinnvoll einzelnen Mitgliedstaaten zugerechnet werden konnten.

Für einige Jahre ging dies gut. Doch mit den Jahren stiegen einerseits die Aufgaben – und damit der Finanzbedarf – der EG, während andererseits die Einnahmen zurückgingen, da die EU mit den übrigen Mitgliedern der Welthandelsorganisation immer neue Zollsenkungen vereinbarte. Um diese Lücke zu füllen, wurden seit den 1980er Jahren die sogenannten Mehrwertsteuer- und BNE-Eigenmittel eingeführt, die heute zusammen rund 85 Prozent des EU-Haushalts ausmachen.

Bei diesen BNE-Eigenmitteln handelt es sich letztlich doch wieder um nationale Beiträge der Mitgliedstaaten, die sich nach dem Bruttonationaleinkommen des Landes berechnen. „Eigenmittel“ der EU sind sie nur insofern, als sie (anders als etwa die Beiträge zu den Vereinten Nationen) formal nicht aus den nationalen Haushalten stammen, sondern nur von den Mitgliedstaaten für die EU eingetrieben werden, wobei den Mitgliedstaaten die Art der Erhebung freigestellt ist. Auch dieser feine Unterschied wird in der Praxis allerdings von mehreren Mitgliedstaaten ignoriert – und so finden sich die BNE-Eigenmittel nicht selten als Ausgabenpunkt in den nationalen Haushaltsplänen wieder. Es ist nur Glück, dass dabei noch niemals der verfassungsrechtliche Ernstfall eingetreten ist, bei dem ein nationales Parlament die volle Überweisung dieser Beiträge an die Europäische Union verweigert oder einseitig an politische Forderungen geknüpft hätte.

Der Nettozahlerstreit

Doch auch so richtete die faktische Rückkehr zu nationalen Beiträgen einigen Schaden an. Denn die Tatsache, dass die BNE-Eigenmittel jeweils einzelnen Mitgliedstaaten zugeordnet werden können, verleitete viele nationale Politiker und Medien dazu, sie als den „Preis“ anzusehen, den das eigene Land für die EU-Mitgliedschaft zu entrichten hat. Von dort ist der Schritt nicht weit, auch die finanziellen Rückflüsse aus dem EU-Haushalt in das eigene Land zu berechnen und einen Saldo aufzustellen. Das Ergebnis ist die leidige Nettozahler-Debatte, die seit den 1980er Jahren die öffentliche Auseinandersetzung vor allem in den reichen Mitgliedstaaten dominiert.

Wie absurd diese Diskussion ist, zeigt sich schon an der Vielzahl von Methoden, nach denen die nationalen Nettosalden je nach Belieben groß oder klein gerechnet werden können. Für die öffentliche Wahrnehmung der europäischen Finanzpolitik jedoch spielte dies keine Rolle: Die Vorstellung, dass Deutschland als „größter Nettozahler“ für alle Kosten aufkommen müsse, während sich die „Nettoempfänger“ ein schönes Leben machen, ist fest in vielen Köpfen verankert. Und die EU wusste sich dagegen lange Zeit nicht anders zu helfen, als etlichen Nettozahlern (vor allem Großbritannien, aber auch Deutschland, den Niederlanden, Schweden und Österreich) Beitragsrabatte zuzugestehen, die das Eigenmittelsystem nach und nach immer komplizierter machten und zuletzt doch nicht zu einer größeren Akzeptanz in der Öffentlichkeit beitrugen. Es ist wie beim deutschen Länderfinanzausgleich: Wenn staatliche Umverteilung in erster Linie als ein Transfer zwischen Gebietskörperschaften wahrgenommen wird, stößt sie fast immer auf Ablehnung. Wird sie dagegen als ein Transfer von reichen zu armen Bürgern verstanden, ist die öffentliche Zustimmung höher – selbst wenn die interregionalen Effekte dabei in der Praxis genauso groß sind.

Die Finanztransaktionssteuer als Eigenmittel

In den letzten Jahren forderten deshalb vor allem die supranationalen Organe der EU immer wieder eine Reform des Eigenmittelsystems, bei der die nationalen Beiträge durch eigene europäische Steuern ersetzt würden (hier ein Arbeitsdokument der Kommission, hier ein gemeinsames Papier dreier prominenter Europaabgeordneter). Einen entscheidenden Vorstoß machte die Kommission schließlich in diesem Sommer, als sie ihren Vorschlag für den nächsten „mehrjährigen Finanzrahmen“ (das Grundgerüst für den EU-Haushalt im Zeitraum 2014-2020) präsentierte. Darin sah sie insbesondere die Einführung einer europaweiten Finanztransaktionssteuer vor, die als neuer Eigenmittel-Typ unmittelbar das europäische Budget speisen sollte. Die Einnahmen von geschätzt 50 Milliarden Euro jährlich würden etwa ein Drittel der gesamten EU-Ausgaben abdecken und damit den Bedarf an BNE-Eigenmitteln deutlich reduzieren.

Dass die Wahl auf die Finanztransaktionssteuer fiel, ist dabei auf den ersten Blick durchaus passend. Außer fiskalischen Zwecken soll diese Steuer auf alle Bankentätigkeiten nämlich vor allem der Finanzmarktregulierung dienen, die seit Ausbruch der Eurokrise als ein wichtiges Politikfeld der EU gilt. Und zudem herrscht Einigkeit darüber, dass eine Finanztransaktionssteuer nicht nur in einzelnen Ländern eingeführt werden sollte, sondern möglichst den gesamten Binnenmarkt abdecken muss, um eine Steuerflucht der Banken zu verhindern. Wenn man also eine Finanztransaktionssteuer will, dann sollte sie europaweit einheitlich gelten – und es ist durchaus naheliegend, ihre Einnahmen dann auch für den europäischen Haushalt zu nutzen.

Doch während das Europäische Parlament diese Reformpläne der Kommission nachdrücklich unterstützte, regte sich in einigen Mitgliedstaaten Widerstand. Bemerkenswerterweise war es dabei insbesondere die deutsche Bundesregierung, die schon 2011 auf die ersten Ideen einer Eigenmittelreform mit einer scharfen Ablehnung reagierte. Auf eine Begründung für dieses strikte Nein verzichteten die Politiker von CDU/CSU (EVP) und FDP (ELDR) allerdings weitgehend. Eine Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklärte, es bestehe „überhaupt kein Handlungsbedarf, das bewährte System der EU-Finanzierung zu ändern“; und der finanzpolitische Sprecher der FDP behauptete etwas dreist, die Kommission suche lediglich nach Mitteln, „wie sie den ohnehin schon durch die Eurokrise stark belasteten Bürgern der Geberländer verstärkt und nun auch noch ohne Umwege an den Geldbeutel kann“. Dass die Umstellung des Eigenmittelsystems nichts mit der (aus anderen Gründen notwendigen) Erhöhung des EU-Haushalts zu tun hat, wurde dabei schlicht ignoriert. Letztlich drängt sich nur eine Schlussfolgerung auf: Gerade in Deutschland, wo die Nettozahler-Diskussion besonders virulent ist, will die Regierung offenbar auch in Zukunft nicht darauf verzichten, politisches Kapital aus der Größe ihres nationalen Beitrags zu schlagen.

Verstärkte Zusammenarbeit

Immerhin aber war Deutschland wenigstens grundsätzlich zur Einführung einer europaweiten Finanztransaktionssteuer bereit; nur sollten die Einnahmen daraus eben in den eigenen nationalen Haushalt fließen. Noch schärfer hingegen war die Kritik vonseiten anderer Länder wie Großbritannien und Schweden, die – vor allem aus wirtschaftspolitischen Gründen – eine Besteuerung der Bankaktivitäten vollständig ablehnen. Da diese Gegensätze nicht zu überwinden waren, bildete sich in den letzten Monaten eine Gruppe von elf Mitgliedstaaten der Eurozone (unter ihnen Deutschland, Frankreich und Österreich) heraus, die eine Finanztransaktionssteuer auf Basis einer verstärkten Zusammenarbeit anstreben. Demnach soll die Steuer europaweit einheitlich ausgestaltet werden, aber lediglich für diejenigen Mitgliedstaaten gelten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen.

Doch auch in der Pioniergruppe ist weiterhin umstritten, in welchen Haushalt die Einnahmen aus der neuen Steuer letztlich einfließen sollen. Zuletzt zeigte sich dies in einem kleinen Disput zwischen der niederländischen und der belgischen Regierung: Nachdem der neu ernannte niederländische Finanzminister vergangenen Dienstag erklärt hatte, sein Land werde sich der verstärkten Zusammenarbeit möglicherweise anschließen, aber nur, wenn die Einnahmen daraus in den nationalen Haushalt gingen, antwortete der belgische EU-Botschafter, sein Land wolle die Option einer Eigenmittelreform auf jeden Fall offen halten. Und auch das Europäische Parlament ist bislang nicht von seiner Position abgerückt, dass die Reform des Eigenmittelsystems eine zwingende Bedingung für seine Zustimmung zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen ist.

Es ist der Europäischen Union zu wünschen, dass sich die Reformfraktion zuletzt durchsetzt. Das derzeitige System, das in erster Linie auf nationalen Beiträgen beruht, vergiftet die öffentliche Debatte, da es die Interessengegensätze zwischen den Mitgliedsländern, zwischen „Nettozahlern“ und „Nettoempfängern“, in den Vordergrund stellt. Doch die EU dient nicht einzelnen Staaten, sondern den gemeinsamen Interessen aller europäischen Bürger. Entsprechend sollte auch ihre Finanzierung so weit wie möglich von der nationalen Ebene entkoppelt werden und auf echten Eigenmitteln, das heißt: auf eigenen europäischen Steuern beruhen. Die EU-Finanztransaktionssteuer, so viele Probleme sie im Einzelnen auch aufwerfen mag, ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung.

PS

In dem letzten Papier zum mehrjährigen Finanzrahmen, das Ratspräsident Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) vergangene Woche präsentierte, war der Vorschlag einer Finanztransaktionssteuer als Eigenmittel übrigens vorhanden. Wenn ich richtig verstanden habe, will Van Rompuy dabei allerdings für jeden Staat, der sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligt, einzeln den Ertrag berechnen, der sich aus der Steuer ergibt – und diesen Betrag dann von den BNE-Eigenmitteln des betreffenden Landes abziehen. Diese Lösung soll offenbar ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Positionen sein; sie ist aber nichts als ein alberner Trick, da die Beiträge ja weiterhin Land für Land ausgerechnet würden und letztlich nur vom Bruttonationaleinkommen abhängig wären. Dann aber wird sich auch an der öffentlichen Wahrnehmung und der Nettozahler-Diskussion nichts ändern.

Worum es bei der ganzen Sache geht, ist doch, dass die Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer eben nicht mehr einzelnen Staaten zuzuordnen sein sollen. Wenn überhaupt, müsste man also die Mitgliedstaaten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen, als eine Einheit betrachten und ihre BNE-Eigenmittel jeweils anteilig um den Gesamtbetrag der Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer reduzieren. Aber wie es aussieht, hat der Europäische Rat bis heute nicht so recht begriffen, worin der tiefere Sinn des Kommissionsvorschlags überhaupt besteht.

Bild: By User:Anameofmyveryown [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

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