- Könnte es ein schöneres Sinnbild bürgerferner Technokratie geben als die Architektur des Brüsseler Kommissionsgebäudes?
In der letzten Ausgabe
des Freitag findet sich ein
interessanter Artikel, in dem sich der bekannte Parteienforscher
Franz Walter mit der „Politik der Ingenieure“ befasst. Seine
Grundthese ist, dass die jüngsten Bürgerproteste in Deutschland von einem stark technokratischen
Impuls getragen sind: Ihre Protagonisten sind häufig
Experten auf einem bestimmten Feld, die der Idee einer objektiv besten
Problemlösungsstrategie anhängen und die vielen Kompromisse
verachten, zu denen Politiker in einem pluralistischen System
gezwungen sind. Walter zieht dabei einen Bogen, der vom scheinbar über allen Konflikten stehenden
Bundesverfassungsgericht bis zur jüngst gegründeten
europaskeptischen Partei AfD reicht, und warnt davor, dass das
Politikverständnis der „Gesellschaftsingenieure und
Reißbrettökonomen“ letztlich mit der Demokratie unvereinbar
ist:
Und so könnte eine Expertengesellschaft in einem nächsten Schritt den Weg […] in ein Zensussystem neuen Typus nehmen, in dem kleine oligarchische Zirkel von Honoratioren des Sachverstands und Führungskader hochspezialisierter Fachkenntnisse die Dinge regeln. Man soll sich nicht täuschen: Auf die derzeitigen Strukturen transnationaler Kommissionen wäre ein solches Verständnis einer von der Volkssouveränität entkleideten Expertokratie perfekt zugeschnitten.
Und
da ich vermutlich nicht der Einzige bin, der bei der Formulierung
„transnationale Kommission“ als Erstes an das gleichnamige Organ
der Europäischen Union denkt, stellt sich die Frage: Besteht das
Demokratieproblem der EU tatsächlich darin, dass die ehemals auf
nationaler Ebene erfolgreich verankerte Herrschaft der Bürger einer
entstaatlichten Herrschaft der Experten weicht?
Vorwürfe an die EU
Um
fair zu bleiben: Franz Walter selbst erwähnt die EU in seinem
Artikel mit keinem einzigen Wort, und man sollte ihm nicht
unterstellen, dass er gerade sie im Sinn hatte. Tatsächlich gibt es
auf dieser Welt eine ganze Reihe anderer internationaler Organisationen, die
sich in erster Linie über ihre fachliche Expertise legitimieren. Ein
gutes Beispiel hierfür ist die OECD, die sich als ein Forum zum
zwischenstaatlichen Austausch von best practices versteht
und mit ihren Statistiken und Vergleichsanalysen starken Einfluss auf
politische Diskurse ausüben kann – man denke nur an die viel
diskutierte PISA-Studie,
die im letzten Jahrzehnt die nationale Bildungspolitik zahlreicher
Länder durcheinander gewirbelt hat. Allerdings besitzt die OECD
keine formelle Macht, sondern kann allenfalls Empfehlungen
aussprechen. Eine Bedrohung für Volkssouveränität und
Demokratie ist sie eher nicht.
Die
Europäische Union hingegen übt echte staatliche Gewalt aus und
steht darum auch sehr viel öfter im Mittelpunkt der öffentlichen
Debatte. Und an Vorwürfen mangelt es nicht: Das Bild eines
regelungswütigen Beamtenapparats, eines „Raumschiffs Brüssel“,
einer selbstbezogenen und bürgerfernen „Eurokratie“ ist
spätestens seit den 1980er Jahren weit verbreitet. Durch die
Eurokrise verschärfte sich diese Kritik noch weiter, da das
EU-Expertentum nun oft auch als Bedrohung für die nationale
Demokratie wahrgenommen wurde. Besonders virulent war die Debatte
Ende 2011, als in Griechenland und Italien zwei parteilose Ökonomen
zu Regierungschefs ernannt wurden. Zwar gaben beide inzwischen ihre
Ämter nach Neuwahlen wieder an Berufspolitiker ab, sodass die
Aufregung um diese „Technokraten-Kabinette“ heute weitgehend
vorüber ist. Die Kritik an den supranationalen Organen, speziell der
Europäischen Kommission, bleibt uns hingegen erhalten. Ist sie berechtigt?
Die technokratischen
Anfänge der europäischen Integration
Blickt
man auf die 1950er Jahre zurück, so zeigt sich, dass die Idee einer
Expertenherrschaft bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften
tatsächlich eine wesentliche Rolle spielte. Der Historiker Guido
Thiemeyer hat dies am Beispiel der Vorgeschichte zur gemeinsamen europäischen Agrarpolitik dargelegt. Demnach strebten zentrale politische Akteure die
europäische Integration zunächst insbesondere deshalb an, weil
dadurch wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen dem
demokratischen Wechselspiel, das sich immer nur am kurzfristigen
(Wahl-)Erfolg, an Klientelpolitik und an den Forderungen
einflussreicher Interessenverbände ausrichte, entzogen würden.
Stattdessen sollte mit der Kommission ein mächtiges überstaatliches
Expertengremium geschaffen werden, das allein das europäische
Gemeinwohl in den Blick nehmen würde.
Derartige
Überlegungen sind freilich nichts EU-Spezifisches und auch nichts,
was zwingend im Widerspruch mit einem im Ganzen demokratischen System
stehen müsste. Auch auf nationaler Ebene gibt es eine Vielzahl von
Politikfeldern, die man den wechselnden parteipolitischen Mehrheiten
entzieht und stattdessen unabhängigen Exekutivorganen überlässt.
Ein typisches Beispiel ist etwa die Geldpolitik, die auch in
Demokratien meist Sache einer unabhängigen Zentralbank ist, da diese
glaubwürdiger als die Regierung eine langfristig stabile
Inflationsrate garantieren kann. Aber auch andere staatliche
Funktionen, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zum
Datenschutzbeauftragten, sind bewusst dem Zugriff der Politik
entzogen. Man kann deshalb, wie es etwa der Politologe Giandomenico Majone tut, die europäische
Integration generell als einen Versuch ansehen, auch für bestimmte
staatenübergreifende Themen solche Mechanismen „nicht-majoritärer“
(d.h. nicht dem Mehrheitsverfahren unterworfener) Herrschaft
einzurichten.
Wann
Expertenherrschaft sinnvoll ist – und wann nicht
Das
Problem ist allerdings, dass nicht alle Politikfelder dafür
gleichermaßen geeignet sind. Sinnvoll sind nicht-majoritäre
Verfahren vor allem dort, wo sich erstens (wie bei der Geldpolitik)
recht einfach allgemein anerkannte Zielvorgaben formulieren lassen,
deren Umsetzung dann lediglich eine Frage der richtigen Methode ist
und wo zweitens (wie beim öffentlichen Rundfunk) die ernsthafte
Sorge besteht, dass die jeweilige Regierung ihre Macht missbrauchen könnte. Problematisch sind nicht-majoritäre
Verfahren hingegen, wenn es um die Abwägung von verschiedenen Werten
(etwa dem Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und
Umweltschutz) oder um finanzielle Umverteilung (etwa durch Steuern
oder Sozialsystem) geht. Da es in diesen Fällen keine „objektiv
richtigen“ Entscheidungen geben kann, müssen sie der offenen
politischen Debatte und den demokratischen Mechanismen der
Mehrheitswahl unterliegen.
Besteht
das Demokratiedefizit der Europäischen Union also möglicherweise
darin, dass sie schlicht zu viele Politikfelder bei nicht-majoritären
Expertenorganen angesiedelt hat? Auf den ersten Blick spricht einiges
für diese These: Immerhin beschränken sich die Zuständigkeiten der
EU bei weitem nicht auf rein technische Angelegenheiten, sondern
greifen tief in das gesellschaftliche Zusammenleben ein. (Wobei,
genau genommen, bereits die Einführung der gemeinsamen Agrarpolitik
1962 mit einem teuren Subventionssystem und daher mit
Umverteilungseffekten verbunden war.) Spätestens seit Ausbruch der
Eurokrise dürfte es kaum noch Zweifel daran geben, dass sich die EU
nicht allein dadurch legitimieren lässt, dass ihre Politik für alle
zu einem besseren Ergebnis führt – sondern dass hier gravierende Entscheidungen über die Verteilung von Kosten und Risiken getroffen werden müssen, die man letztlich nur den Betroffenen, also den
Bürgern, und den von ihnen gewählten Parlamentariern überlassen kann.
Die EU-Organe sind
politisch
Dennoch
scheint es mir falsch, das Demokratiedefizit der Europäischen Union
in erster Linie als einen Auswuchs der Expertokratie in der
Europäischen Kommission zu verstehen – und zwar aus dem einfachen
Grund, dass die wichtigsten Entscheidungsträger dort gar keine
Experten sind. Tatsächlich entsprach Jean Monnet, der von 1952 bis
1955 als Erster die Hohe Behörde (den Vorgänger der Kommission)
leitete, noch recht gut dem Bild eines technokratischen Beamten.
Seine Nachfolger jedoch waren zum größten Teil Berufspolitiker, die
zuvor in ihren jeweiligen Nationalstaaten politische Karriere gemacht
hatten. Auch unter den 27 Mitgliedern der heutigen Kommission
bekleideten fast alle zuvor wichtige nationale Partei- oder
Regierungsämter, einige waren Europaabgeordnete. Natürlich gibt es
auch einen Beamtenapparat, der ihnen zuarbeitet – die
entscheidenden Beschlüsse aber fallen im Kommissarskollegium, und
das ist eindeutig ein politisches, kein technokratisches Organ.
Hinzu
kommt, dass Europapolitik natürlich nicht von der Kommission allein
gemacht wird, sondern auch vom Europäischen Parlament und dem Rat,
die sich beide ebenfalls nicht aus Experten, sondern aus gewählten
Berufspolitikern zusammensetzen. Im Rahmen der „delegierten
Rechtsakte“ nach Art. 290 AEUV können diese zwar der Kommission widerrufbar begrenzte
Gesetzgebungsbefugnisse übertragen, was immer mal wieder zu Kritik führt. Doch analoge Verfahren gibt es auch auf nationaler
Ebene schon lange (in Deutschland etwa in Art. 80 GG), ein Beleg für eine besonders ausgeprägte europäische
Expertokratie sind sie eher nicht.
Und die EZB?
Das
einzige bedeutende Exekutivorgan der EU, das tatsächlich primär nach dem
Kriterium fachlichen Expertentums zusammengesetzt ist, scheint mir
die Europäische Zentralbank zu sein. Allerdings ist die Geldpolitik,
siehe oben, ja genau eines der Politikfelder, die man am besten
unabhängigen Experten überlassen sollte. Solange die EZB sich auf
ihre Kernzuständigkeit konzentriert, scheint mir also auch hier nicht viel Anlass zu Sorge gegeben.
Aus
demokratischer Sicht problematischer ist allerdings die Rolle der EZB
in der Eurokrise, in der sie auch jenseits der reinen Geldpolitik an
Bedeutung gewann: Sei es durch den massiven Aufkauf von Staatsanleihen, der de facto zu einer
finanziellen Umverteilung führt; sei es durch die Teilnahme an der „Troika“, in der sie zusammen mit der Kommission und
dem Internationalen Währungsfonds die radikalen Sparprogramme in die
Krisenstaaten überwacht. Nicht ganz zu Unrecht stieß dieser
Machtgewinn in der öffentlichen Debatte auf teils heftige Kritik. Unverkennbar ist allerdings auch, dass die EZB
selbst ihre Krisenaktivitäten nur höchst widerwillig aufnahm – weniger als ein Versuch der
technokratischen Herrschaftsübernahme denn als Reaktion auf das
Versagen des Europäischen Rates. Als Bürger sollten wir uns deshalb
weniger Gedanken darüber machen, die EZB aufzuhalten, als die
eigentlich zuständigen politischen Institutionen endlich zu einer
funktionierenden Krisenlösungsstrategie zu bewegen.
Worin das eigentliche
Demokratiedefizit der EU besteht
Und
damit nähern wir uns dem eigentlichen Kern des europäischen
Demokratiedefizits an. Denn dieses besteht eben nicht in einer
ungebremsten Herrschaft nicht gewählter Experten – sondern ganz im
Gegenteil in einem Zuviel an politischen Akteuren, das zu einer
Auflösung von Verantwortlichkeiten führt. Dies beginnt bei der Wahl
der Kommission, die nicht in erster Linie parteipolitischen Kriterien folgt, sondern dem Willen der nationalen Regierungen. Es zeigt sich in einem
Gesetzgebungsverfahren, in dem kaum etwas ohne einen Kompromiss zwischen Kommission, Rat und Parlament beschlossen werden kann. Es setzt sich fort in einem
Budgetverfahren, in dem jeder Staat ein Vetorecht besitzt, sodass der
EU-Haushalt weniger eine gesamteuropäische Strategie als ein Tauziehen von Partikularinteressen widerspiegelt. Und schließlich manifestiert
es sich noch in Details wie den Abstimmungsregeln im Europäischen
Parlament, die oft breite fraktionenübergreifende Mehrheiten erzwingen und damit parteipolitische Unterschiede verdecken.
Was
die europäische Politik bürgerfern und intransparent macht, ist
nicht ein Übermaß an Expertokratie, sondern ein überkomplexes
System politischer checks and balances. Gerade dadurch, dass
Herrschaftsausübung auf europäischer Ebene nur im Konsens möglich
ist, lässt es sich für den Bürger häufig nicht mehr
nachvollziehen, welche Institution eine bestimmte Entscheidung zu
verantworten hat und wie er selbst durch sein Wahlrecht darauf
einwirken könnte, dass die Entscheidung anders ausfällt. Dies ist
in der Tat ein Legitimationsproblem, das wir nicht unterschätzen
dürfen. Schuld daran sind aber nicht irgendwelche Technokraten –
sondern die nationalen Regierungen und Parlamente, die als „Herren
der EU-Verträge“ zum großen Teil noch nicht bereit sind,
zugunsten einer supranational-parlamentarischen Demokratie auf eigene
Mitspracherechte zu verzichten.
Bild: antaldaniel [CC-BY-SA-2.0], via Flickr.
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