„Sympathien
und Antipathien in Betreff auswärtiger Mächte und Personen vermag
ich vor meinem Pflichtgefühl im auswärtigen Dienste meines Landes
nicht zu rechtfertigen, weder an mir noch an Andern; es ist darin der
Embryo der Untreue gegen den Herrn oder das Land, dem man dient.“
Otto
von Bismarck, Brief
an Leopold von Gerlach, 1857
- Yanis Varoufakis (Syriza/EL) teilt nicht die Überzeugungen der Großen Koalition. Aber warum fällt es der EU so schwer, damit umzugehen?
So
viel öffentlichen Streit gab es selten in der Geschichte der
europäischen Integration. Tatsächlich nahmen die Spannungen
zwischen der neuen griechischen Regierung unter Alexis Tsipras
(Syriza/EL) und den übrigen europäischen Spitzenpolitikern ihren
Anfang schon Ende 2014, als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude
Juncker (CSV/EVP) offen vor einem „falschen
Wahlergebnis“ in Griechenland warnte. Wenig später brachten
die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister
Wolfgang Schäuble (beide CDU/EVP) für den Fall eines Syriza-Siegs
den griechischen
Euro-Austritt ins Gespräch. Nach der Wahl im Januar schließlich
erschreckten Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis
(Syriza/EL) ihre europäischen Partner erst einmal mit Vetodrohungen
gegen die gemeinsamen Russland-Sanktionen und einem Rauswurf der
Troika und mit der Forderung nach Rückzahlung
einer deutschen Zwangsanleihe aus dem Zweiten Weltkrieg – ehe
es Ende Februar dann doch zu einem im Grunde nicht allzu
überraschenden Kompromiss
über die Verlängerung des laufenden Reformprogramms kam.
Immer
schrillere Verbalgefechte
Die
eigentliche Eskalation aber kam erst hinterher: Von einer Karikatur
in der Syriza-Parteizeitung, die Schäuble als Wehrmachtsoffizier
zeigte, distanzierten sich Tsipras
und Varoufakis
zwar öffentlich. Ansonsten aber gab es rhetorisch bald kein Halten
mehr. Schon Ende Januar bezeichnete Varoufakis die Sparauflagen des
Reformprogramms als „finanzielles
Waterboarding“; worauf Schäuble erwiderte, ihm täten „die
Griechen leid“, die sich eine solch „unverantwortliche“
Regierung gewählt hätten.
Anfang
März mokierte sich der Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans
(PvdA/SPE) vor
laufenden Kameras über Varoufakisʼ Kleidungsstil. Wenig später
berichteten griechische Medien, dass Schäuble in einem
nicht-öffentlichen Gespräch Varoufakisʼ Kommunikation als
„dümmlich-naiv“ bezeichnet habe, woraufhin der griechische
Botschafter in Berlin förmlich
Protest einlegte. Gleichzeitig erinnerte der griechische
Verteidigungsminister Panos Kammenos (ANEL/AECR) an Schäubles
Verwicklung in den CDU-Parteispendenskandal der 1990er Jahre,
was den deutschen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD/SPE)
veranlasste, von der griechischen Regierung (aber nur von dieser) einen
„anständigen
Umgangston“ einzufordern. Zuletzt stellte Schäuble noch einmal
klar, dass die Griechen „alles
Vertrauen zerstört“ hätten. Und dann ist da, natürlich, auch
noch die Sache
mit dem Stinkefinger.
Wenn
in den letzten Tagen immer wieder von einem möglichen „Grexident“
(also einem quasi-versehentlichen Austritt Griechenlands aus der
Währungsunion) die Rede ist, dann vor allem wegen dieser immer
schrilleren Verbalgefechte, die freilich von den Medien beider Länder
begleitet und teilweise kräftig
angeheizt wurden. Warum aber diese Eskalation, wo es doch in der
Sache – dem Umgang mit den griechischen Staatsschulden – kaum
etwas Neues gibt und die möglichen Kompromisslinien auf der Hand
liegen? Warum fällt es der alten Konsensmaschine EU so schwer, auch
mit der Syriza-Regierung funktionierende Gesprächskanäle zu
etablieren?
Persönlich-kulturelle
Unterschiede
Eine
erste, einfache Erklärung sind natürlich die persönlich-kulturellen
Unterschiede zwischen den Beteiligten – besonders zwischen den
beiden Finanzministern, die in den letzten Wochen am deutlichsten als
Streithähne in Erscheinung traten. Auf der einen Seite steht dabei
Schäuble, 72 Jahre alt, aus konservativem Elternhaus, juristische
Promotion an der Universität seiner Geburtsstadt Freiburg im
Breisgau, seit 50 Jahren Mitglied der CDU, seit 42 Jahren
Abgeordneter des Deutschen Bundestags, seit 31 Jahren fast
durchgängig in politischen Spitzenämtern, Mitglied in einem guten
Dutzend Kuratorien und Stiftungsräten und Träger etwa ebenso vieler
Verdienstorden: geradezu der Inbegriff des deutschen politischen
Establishments.
Auf
der anderen Varoufakis, fast zwanzig Jahre jünger als Schäuble,
Sohn eines politischen Gefangenen unter der griechischen
Militärdiktatur, Anfang zwanzig zum Wirtschaftsstudium nach
Großbritannien ausgewandert, später Hochschullehrer in Sydney,
Austin und Athen, griechisch-australischer Doppelstaatler,
stilbewusst, verheiratet mit einer erfolgreichen Künstlerin, Blogger
und kritischer Kommentator der europäischen Krisenpolitik,
schließlich selbst politischer Seiteneinsteiger.
Varoufakisʼ
drastische Sprache und Gestik
Sich
diese unterschiedlichen
Hintergründe bewusst zu machen, kann helfen, um gewisse
Missverständnisse zu vermeiden. So kann man von einem mit allen
Wassern gewaschenen Politiker wie Schäuble annehmen, dass er recht
klare Vorstellungen von der politischen Wirkung seiner Worte hat: Er
hat gelernt, nach bestimmten Regeln zu kommunizieren und geht davon
aus, dass auch seine Gesprächspartner sich an diese halten.
Varoufakis hingegen hatte
(wie das gesamte Tsipras-Kabinett) bis zum Januar keinerlei
Regierungserfahrung; als Dozent, Buchautor und Vortragsredner lebte
er vor allem von öffentlicher Aufmerksamkeit. Ist es verwunderlich,
dass er sich dabei eine bildkräftigere und drastischere Sprache
angewöhnt hat?
Selbst
der zuletzt vieldiskutierte Stinkefinger scheint weitaus weniger
spektakulär, wenn man sich die entsprechende Rede von 2013 im
Original ansieht (deutsches Transkript hier):
Man sieht dann einen lebhaft
gestikulierenden Varoufakis, der erklärt, dass ein griechischer
Staatsbankrott 2010 vor allem Deutschland Probleme bereitet hätte –
und sich dabei ganz offensichtlich mehr Gedanken darüber macht, wie
er seinem Publikum die ökonomischen Zusammenhänge veranschaulichen
kann als wie seine Handbewegung zwei Jahre später in deutschen
Talkshows
kommentiert werden wird. Dass
Varoufakis das Video am vergangenen Sonntag spontan
für ein Fake hielt, erscheint da gar nicht so unglaubwürdig:
Vermutlich hatte er selbst
schon nach wenigen Minuten wieder vergessen, dass
er die Geste je gemacht hatte.
Parteipolitische
Gegensätze
Nun
sind solche Kultur- und Stilunterschiede aber natürlich nichts
Ungewöhnliches in der europäischen Politik, und eigentlich sollten
die Regierungen der Mitgliedstaaten längst gelernt haben, damit
umzugehen. Dass um Tsipras und seine Leute dennoch die Wellen so hoch
schlagen, lässt sich deshalb nur mit einem weiteren Faktor erklären:
nämlich die parteipolitischen Gegensätze.
Bekanntlich
gehören fast alle der Staats- und Regierungschefs im Europäischen
Rat derzeit einer der drei Parteien der politischen Mitte an, die
auch die Europäische Kommission stellen und im Europäischen
Parlament seit vielen Jahren eine informelle Große Koalition bilden:
die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE und die
liberale ALDE. Die einzigen Ausnahmen bilden der Brite David Cameron
(Cons./AECR) – und eben Alexis Tsipras als einziger Vertreter der
Europäischen Linkspartei.
Profilierung
gegen den Diskurs der Alternativlosigkeit
Die
Mitglieder dieser Großen Koalition, die alle EU-Institutionen
dominiert, vertreten nicht immer dieselben Positionen. Sie haben
inzwischen aber gut etablierte Formen für die Aushandlung von
Kompromissen gefunden, und ihre gemeinsame Linie bestimmt dadurch im
Wesentlichen, was in Europa als „konsensuell“ oder gar
„alternativlos“ gilt. In der Eurokrise etwa setzten sowohl EVP-
als auch SPE-Regierungen unpopuläre Sparmaßnahmen oft auch gegen
Mehrheiten in den eigenen Ländern um – unter Verweis auf die
Brüsseler Kompromisse, an die man sich nun einmal zu halten habe.
Dieser
großkoalitionäre Diskurs der Alternativlosigkeit ist es, gegen den
sich die Europäische Linke in den letzten Jahren mit teils
drastischer Rhetorik profilieren konnte, und zwar nicht nur in
Griechenland, sondern auch in anderen Krisenländern. Neben dem
Schäuble-Varoufakis-Streit war der Hauptkonflikt der letzten Tage
bezeichnenderweise eine Auseinandersetzung
zwischen Tsipras und dem spanischen Ministerpräsidenten Mariano
Rajoy (PP/EVP), dem Tsipras vorwarf, gezielt auf ein Scheitern
der griechischen Verhandlungen hinzuarbeiten.
Im
Gegensatz zu Tsipras passte sich Rajoy nach seinem Wahlsieg 2011 sehr
schnell an die Erwartungen aus Brüssel und Berlin an und opferte
dafür innerhalb weniger Wochen zentrale Punkte seines Wahlprogramms.
Inzwischen steht er jedoch auf nationaler Ebene durch
die neue Linkspartei Podemos unter Druck, die bei der nächsten
spanischen Wahl Ende dieses Jahres stärkste Kraft werden könnte.
Wenn Tsipras mit seinem Wunsch nach einer Neuausrichtung des
Reformprogramms Erfolg hat, wäre Rajoy also doppelt brüskiert: Sein
Nachgeben 2011 wäre sinnlos gewesen – und die Wahlversprechen von
Podemos gewönnen an Plausibilität.
Syriza
ist auf die nationale Wählergunst angewiesen
Auf
der anderen Seite führt die Außenseiterrolle der Europäischen
Linken aber auch bei Syriza zu einem radikaleren Auftreten. Wie der
US-Ökonom Paul Krugman (in Anlehnung an
Matthew Yglesias) jüngst auf
seinem Blog analysierte, können Politiker der etablierten
Mitte-Parteien unpopuläre Reformen auch deshalb so gut beschließen,
weil sie sich dadurch in den diversen internationalen Gremien und
Organisationen einen persönlichen Ruf als durchsetzungsstarke
Führungskraft erwerben – und deshalb nach einer möglichen Abwahl
in der Regel weich fallen.
Tsipras
und seine Minister hingegen sind im internationalen Establishment
deutlich schlechter vernetzt und könnten deshalb nach einer
Wahlniederlage eher nicht mit einem interessanten Posten bei einer
internationalen Organisation rechnen. Sie sind deshalb stärker
darauf angewiesen, von ihren Wählern gemocht zu werden, und können
nicht für ihre internationale Reputation ihre Glaubwürdigkeit auf
nationaler Ebene aufs Spiel setzen.
Das
tiefere Problem ist systemisch
Aber
gut: Auch Gegensätze zwischen etablierten Parteien und Newcomern hat
es immer wieder gegeben. Solange dabei niemand den Boden
demokratischer Prinzipien verlässt, sollte ein politisches System
eigentlich in der Lage sein, solche Konflikte zu verarbeiten, ohne
dabei an den Rand des Zusammenbruchs zu geraten, wie er jetzt in Form
des „Grexident“ diskutiert wird. Was hat die EU, dass ihr der
Umgang mit Alternativen zur Großen Koalition so schwerfällt?
Das
tiefere Problem hinter dem jüngsten Streit ist, denke ich,
systemisch: Es besteht darin, dass die EU heute in ihrer
Funktionsweise auf ungesunde Weise Merkmale der Diplomatie mit
Merkmalen der Parteidemokratie vermengt.
Diplomatie
und Parteidemokratie
Die
traditionelle Diplomatie zwischen souveränen Staaten folgt dabei
jener Maxime Bismarcks, die am Anfang dieses Artikels steht:
Angesichts der unabwendbaren Tatsache, dass die übrigen Staaten nun
einmal existieren, bemühen sich Diplomaten bei der Verfolgung ihrer
nationalen Interessen um Nüchternheit und Emotionslosigkeit. Im
Mittelpunkt steht nur das Ziel, durch immer neue Kompromisse dem
jeweils eigenen Land bestmöglich zu nutzen. Auf das Ausdiskutieren
von Wertefragen können sie hingegen verzichten, einfach weil die
klassische Außenpolitik sich nur auf einen sehr geringen
Ausschnitt des menschlichen Lebens erstreckt.
Die
Parteiendemokratie hingegen berührt alle Bereiche des politischen
Zusammenlebens. Daher haben Parteien auch die Aufgabe, die
unterschiedlichen Werte und Weltbilder, die es in einer Gesellschaft
gibt, zu repräsentieren – und, wo nötig, auch in scharfen
Kontrast zueinander zu stellen. Wo Diplomaten nüchtern und sachlich
sind, dürfen, ja müssen Parteipolitiker zuspitzen, um den Emotionen
ihrer Wähler gerecht zu werden. Dafür ist eine Parteiendemokratie
am Ende nicht zwingend auf Kompromisse angewiesen: Durch
Wahlverfahren erzeugt sie Mehrheiten und Minderheiten und verteilt
die Rollen zwischen Regierung und Opposition – allerdings immer nur
auf Zeit, sodass ein lebendiges Wechselspiel von Alternativen
erhalten bleibt.
Das Paradox wäre überwindbar
Die
europäische Währungsunion greift nun einerseits so tief in die
Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ein, dass sie
zwangsläufig zu einem parteipolitisch diskutierten Thema werden
muss. Es ist kein Skandal, sondern sogar wünschenswert, wenn sich EVP und EL darüber streiten. Andererseits bietet die EU aber keine hinreichenden demokratischen
Mechanismen, um die parteipolitischen Gegensätze aufzulösen: Die
zentralen Entscheidungen, wie es mit dem griechischen Kredit- und
Reformpaket weitergeht, fallen eben nicht in den gemeinsam gewählten
europäischen Institutionen, sondern werden nach
außenpolitisch-diplomatischen Verfahren zwischen den nationalen
Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt.
Schäubles
Große Koalition und Varoufakisʼ
linke Außenseiter
sind deshalb
gezwungen, immer wieder zu
Kompromissen
zu finden – obwohl sie doch
gleichzeitig ihre
demokratische Legitimation
gerade daraus
beziehen, dass sie für entgegengesetzte
Überzeugungen und
Weltbilder stehen. Dass
dieses Paradox im
Ergebnis zu einem immer
schrilleren Stil
der politischen Auseinandersetzung
führt, kann
nicht verwundern.
Überwinden
ließe es
sich natürlich, indem man
die Entscheidungshoheit
über die europäische Wirtschaftspolitik von den nationalen
Regierungen auf das Europäische Parlament überträgt.
Das
Spannungsverhältnis zwischen Diplomatie und europäischer
Parteiendemokratie würde
dadurch zugunsten der
Letzteren
aufgelöst;
und bei der Europawahl
hätten die Bürger es selbst in
der Hand, wie sie die
Macht zwischen den Parteien verteilen. Einstweilen
aber wird das
Feiglingsspiel
um
Griechenland wohl
weitergehen. Und
damit auch die Sorge vor
dem „Grexident“, den
niemand will.
Bild: By EU Council Eurozone [CC BY-NV-ND 2.0], via Flickr.
Die Analyse finde ich sehr gut, der Lösungsvorschlag geht an der Wirklichkeit der Menschen in Europa derzeit noch vorbei. Zumindest ist meine Wahrnehmung die, daß nationales Denken eine gesamteuropäische Perspektive meistens überwiegt sowohl bei den meisten Politikern aber auch den meisten Bürgern Europas. Wie könnte ein behutsamerer Weg zu einer Stärkung der europäischen Identität und Zivilgesellschaft aussehen, die mit nachhaltigen Lösungen für die anstehenden Probleme in Europa kompatibel ist? Wenn Europa in der Währungsfrage die Erfahrung machen könnte, daß es einen Schritt zurück machen könnte, ohne auseinanderzufliegen, daß zum Beispiel Griechenland Teil der EU bliebe auch wenn es wieder die Drachme einführen würde und wenn in Südeuropa nach einer Reform des Währungssystems endlich wieder viele Arbeitsplätze entstünden, dann könnte Europa politisch aud der Ebene der Bürger ein nachhaltiges Selbstbewusstsein entwickeln und zum Beispiel das Europäische Parlament zu einer vollwertigen europäischen Legislative ausbauen innerhalb klarer vertikaler Gewaltenteilung mit den nationalen, regionalen und kommunalen Parlamenten.
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