02 Februar 2015

Eine Woche Syriza: Wie die griechische Regierung ihre EU-Partner in Aufregung versetzt und was das für die europäische Demokratie bedeutet

Wer fürchtet sich vor Alexis Tsipras?
Nun ist es also so weit: Seit einer Woche regiert in Griechenland Alexis Tsipras mit seiner Partei Syriza (EL). Die Europäische Linke konnte damit ihr schon mehrere Monate andauerndes europaweites Umfrage-Hoch in einen konkreten Wahlerfolg ummünzen und stellt erstmals seit der Abwahl des Zyprers Dimitris Christophias 2013 wieder in einem EU-Mitgliedstaat den Regierungschef. Doch während Christophiasʼ einst kommunistische Partei AKEL schon lange zum zyprischen Establishment gehört und über die Jahre hinweg zunehmend sozialdemokratische Positionen entwickelt hatte, gibt sich die griechische Syriza jung, wild und konfliktfreudig: Immerhin verdankt sie ihre Erfolge vor allem der Verdrossenheit vieler Griechen über die alten nationalen Eliten und über die Bedingungen, die die übrigen EU-Regierungen dem Land für die Rettungskredite in der Eurokrise auferlegt haben. Und so gelang es Syriza, dem Rest der EU in den wenigen Tagen seit der Wahl gleich drei kräftige Schrecken einzujagen.

Erster Schreck: Der Koalitionspartner

Der erste dieser Schrecken war die Auswahl des Koalitionspartners. Dank eines Mehrheitsbonus, den das griechische Wahlsystem für die stärkste Partei vorsieht, fehlen Syriza mit 36,3 Prozent der Stimmen nur zwei Mandate für eine absolute Mehrheit der Sitze. Sie musste sich also unter den fünf Kleinparteien im Parlament einen Koalitionspartner suchen. Dabei schieden die altkommunistische KKE (die Syriza schon seit längerem eine allzu große europapolitische Kompromissbereitschaft vorwirft) und die rechtsextreme XA a priori aus – ebenso wie die einst dominante und nun zusammengeschrumpfte Mitte-Links-Partei PASOK (SPE), die seit 2009 durchgängig an der griechischen Regierung beteiligt war und daher von den Syriza-Wählern eher als Teil des Problems als der Lösung betrachtet wird.

Sehr wohl denkbar war allerdings eine Koalition mit der ebenfalls noch sehr jungen linksliberalen Partei To Potami (die im Europaparlament in der sozialdemokratischen Fraktion sitzt, zuletzt aber vor allem von der europäischen liberalen Partei ALDE unterstützt wurde). Wie Syriza profilierte sich To Potami im Wahlkampf durch eine scharfe Abgrenzung von den bisherigen Regierungsparteien. Zugleich bekannte sie sich allerdings auch zu einem klar proeuropäischen Kurs, der sich nicht gut mit Tsiprasʼ rhetorischer Hardliner-Linie vertrug.

Tsipras hält sich für die Neuverhandlungen den Rücken frei

Stattdessen kam es am Montag nach der Wahl zu einer Koalition zwischen Syriza und der rechtskonservativen ANEL (die im Europäischen Parlament zur ECR-Fraktion gehört, in der unter anderem auch die britischen Tories und die deutsche AfD sitzen). Da die Ablehnung der Sparpolitik so ziemlich das Einzige ist, was die beiden Parteien vereint, ist es derzeit eher zweifelhaft, ob dieses Bündnis tatsächlich für eine ganze Wahlperiode halten wird. Sollte es zu Zerwürfnissen kommen, hat Syriza in To Potami schließlich weiterhin einen alternativen Koalitionspartner.

Dennoch war das Signal, das von der griechischen Regierungsbildung ausging, erst einmal eindeutig: In den anstehenden harten Neuverhandlungen mit den EU-Partnern möchte sich Tsipras auf nationaler Ebene den Rücken freihalten.

Zweiter Schreck: Veto gegen Russland-Sanktionen?

Der zweite Schreck folgte dann am vergangenen Mittwoch: Einen Tag, bevor sich der EU-Außenministerrat traf, um wegen der neuen Entwicklungen in der Ukraine die Sanktionen gegen Russland zu verlängern, erklärten führende Syriza-Politiker ihre Unzufriedenheit mit dieser Politik und deuteten an, dass ihre Regierung ein Veto dagegen einlegen könnte.

Nun sind die engen diplomatischen Beziehungen zwischen Griechenland und Russland grundsätzlich keine Neuigkeit: Der außenpolitische Thinktank European Council on Foreign Relations etwa bezeichnete Griechenland und Zypern schon 2007 als „trojanische Pferde“ Russlands in der EU. In der Ukraine-Krise aber hatte die alte griechische Regierung die Sanktionen der EU bislang immer mitgetragen. Dass Syriza nun eine mögliche Kehrtwende andeutete, löste daher nicht nur verärgerte Reaktionen des EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD/SPE) aus, sondern auch wilde Spekulationen über Tsiprasʼ mögliche Hintergedanken.

Jedes Land kann die anderen erpressen

Am Ende aber war dann alles erst einmal nur halb so wild: Die Syriza-Regierung, erklärte der neue griechische Finanzminister am Donnerstag, wolle gar kein Veto einlegen. Sie sei nur verärgert gewesen, dass man in Brüssel ihre Zustimmung schon vorausgesetzt habe, bevor man überhaupt mir ihr darüber gesprochen habe. Tatsächlich stimmte Griechenland im Rat am selben Abend den neuen Sanktionen zu. Und zuletzt stellte Tsipras noch klar, dass seine Regierung auch nicht an russischen Hilfskrediten interessiert sei.

Und dennoch dürfte auch bei der ominösen Veto-Drohung das Signal an die Regierungen der übrigen EU-Mitgliedstaaten klar sein: In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in verschiedenen anderen Themenfeldern, ist die EU auf Einstimmigkeit angewiesen. Positiv gesprochen führt dieser Konsenszwang dazu, dass keine Regierung mit ihren Kernanliegen einfach übergangen werden kann. Negativ formuliert ist dadurch jedes Land in der Lage, die anderen zu erpressen. Sollten die übrigen Mitgliedstaaten darüber nachgedacht haben, die Syriza-Regierung in wirtschaftspolitischen Belangen einfach zu isolieren und in die Enge zu treiben, so müssten sie sich darauf einstellen, dass es künftig auch bei anderen Themen griechische Blockaden geben könnte.

Dritter Schreck: Rauswurf der Troika

Doch die eigentliche Kernfrage zwischen Griechenland und dem Rest der EU ist natürlich nicht Russland, sondern die Zukunft des griechischen Hilfsprogramms. Schon vor der Wahl hatte dieses Thema große Wellen geschlagen: Auf der einen Seite machte Tsipras im Wahlkampf wieder und wieder deutlich, dass er nicht bereit sei, den Spar- und Reformkurs fortzusetzen, den die übrigen Mitgliedstaaten zur Bedingung für die Auszahlung der Rettungskredite gemacht haben. Auf der anderen Seite lehnten vor allem Vertreter der deutschen Bundesregierung mögliche Nachverhandlungen strikt ab und brachten um den Jahreswechsel sogar das Gespenst eines griechischen Euro-Austritts wieder ins Gespräch.

Nicht gerade entspannter wird die Stimmung noch dadurch, dass Ende Februar das aktuelle Hilfsprogramm für Griechenland ausläuft. Sollte bis dahin keine neue Vereinbarung gefunden werden, wäre Griechenland bankrott. Und nicht nur das: Auch die Europäische Zentralbank akzeptiert griechische Staatsanleihen derzeit nur deshalb als Sicherheit, weil das Land den mit den übrigen EU-Staaten vereinbarten Reformkurs umsetzt. Wenn Griechenland kein „Programmland“ mehr wäre, könnten deshalb auch die griechischen Privatbanken nicht mehr die Staatsanleihen ihres Landes nutzen, um sich bei der EZB zu refinanzieren, und wären dann auf sogenannte Notfall-Liquiditätshilfen durch die nationale Zentralbank Griechenlands angewiesen. Schlimmstenfalls könnte eine katastrophale Pleitewelle die Folge sein.

Ein Weiter-so ist unmöglich geworden

Vor der Wahl wurde deshalb erwartet, dass Syriza sich wenigstens kurzfristig auf eine Verlängerung des aktuellen Reformprogramms einlassen würde, um Zeit für weitere Verhandlungen zu gewinnen. Aber weit gefehlt: Am vergangenen Freitag erklärte die griechische Regierung ihre kategorische Ablehnung gegen jede weitere Zusammenarbeit mit der Troika – also mit jenem umstrittenen Gremium aus EZB, Europäischer Kommission und Internationalem Währungsfonds, das bis jetzt für die Überwachung des griechischen Reformprogramms zuständig war.

Mit dem Rauswurf der Troika geht Tsipras aufs Ganze: Ein vorübergehendes „Weiter so“, um Zeit für mehr Gespräche zu gewinnen, ist damit unmöglich geworden. Zum entscheidenden Termin dürfte stattdessen der kommende 12. Februar werden. Dann wird sich Tsipras zum ersten Mal mit den anderen europäischen Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat treffen – und sollte mit ihnen möglichst sofort zu einem neuen Arrangement gelangen.

Die Tage der Troika sind ohnehin gezählt

Ganz unmöglich freilich ist das nicht. Denn erstens ist an einem plötzlichen Staatsbankrott oder gar einem Euro-Austritt Griechenlands niemandem gelegen, der in Europa irgendeinen politischen Einfluss hat – der Bundesregierung ebenso wenig wie Tsipras, der Mehrheit der griechischen Bevölkerung ebenso wenig wie der Kommission oder der EZB. Zweitens gab es auch vor der griechischen Wahl schon Gespräche, in denen mögliche Kompromisslinien ausgelotet wurden: Denkbar wäre etwa eine „Wachstumsklausel“, mit der die Zinsen für die bestehenden griechischen Kredite an das künftige Wirtschaftswachstum des Landes gekoppelt würden. Zuletzt gab auch die griechische Regierung noch einmal zu verstehen, dass das Nein zur Troika keine grundsätzliche Absage an ein neues Reformprogramm sei.

Und schließlich scheinen die Tage der Troika ohnehin gezählt, seitdem Mitte Januar der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs in einem Gutachten die Beteiligung der Europäischen Zentralbank daran unter bestimmten Umständen für europarechtswidrig ansah. Dieses Gutachten ist zwar kein rechtskräftiges Urteil und hat auch nicht unmittelbar mit der jetzigen Situation in Griechenland zu tun. Es führte aber dazu, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) der Troika schon vor zwei Wochen „keine glänzende Zukunft“ voraussagte. Inzwischen sieht es sogar bereits danach aus, dass die Kommission aktiv nach Alternativen sucht.

Diplomatisches Feiglingsspiel

In den letzten Tagen machte die EU in Sachen Griechenland also eine emotionale Achterbahnfahrt durch: Auf jeden der drei Schrecken folgte ein Moment der Erleichterung, auf jede rhetorische Drohung ein Signal der Kompromissbereitschaft. Dieser Holperkurs liegt zum Teil wohl an der fehlenden Regierungserfahrung der Syriza-Politiker, die noch vor zehn Tagen im Wahlkampf waren und nun Schwierigkeiten haben, den richtigen Ton zu finden. Hinzu kommt, dass Syriza als Mitglied der Europäischen Linkspartei noch kaum über etablierte Gesprächskanäle zu der informellen Großen Koalition aus EVP, SPE und ALDE verfügt, die die EU-Institutionen dominiert. Und schließlich mag es ein wenig auch ein Problem der internationalen Medien sein, denen in der Aufregung immer wieder bestimmte Nuancen in den Positionen von Syriza entgangen sind.

Der eigentliche Grund dafür, dass die Griechenland-Frage zuletzt so hohe Wellen geschlagen hat, dürfte aber ein anderer sein: Was die EU in diesen Tagen erlebt, ist eine erneute Auflage des Feiglingsspiels, das so viele diplomatische Verhandlungen prägt. Sowohl Griechenland als auch den übrigen EU-Staaten ist sehr an einer erfolgreichen Kompromisslösung gelegen – aber jede Seite hofft, dass die andere etwas früher nachgeben wird, und so testen sie beide aus, wie weit sie einander unter Druck setzen können.

In der Währungsunion geht Demokratie nur noch überstaatlich

Beide Seiten haben dabei starke Argumente für sich: Die Kreditgeber können darauf pochen, dass man das vereinbarte Reformprogramm nicht einfach einseitig aufkündigen kann und dass (in den Worten von EVP-Fraktionschef Manfred Weber) die europäischen Steuerzahler nicht für Tsiprasʼ nationale Wahlversprechen bezahlen wollen. Umgekehrt kann die griechische Regierung darauf verweisen, dass sie eben erst von ihren Wählern ein klares Mandat bekommen hat. Wie Tsipras vor kurzem in einem Gastbeitrag für die Financial Times schrieb: „Austerität ist nicht Teil der EU-Verträge, Demokratie und Volkssouveränität schon.“

Am Ende zeigt das Griechenland-Problem deshalb nur wieder einmal, was in diesem Blog schon öfters thematisiert wurde: In einer Währungsunion, in der alle Staaten voneinander abhängig sind, kann eine nur nationale Demokratie nicht mehr funktionieren. Eine wirtschaftspolitische Gängelung Griechenlands durch die Kreditgeber ist ebenso wenig demokratisch wie die Idee, dass die griechischen Wähler nach Belieben das Geld ausländischer Steuerzahler ausgeben könnten.

Wenn die Wirtschaftspolitik in der EU aber nur noch gemeinsam festgelegt werden kann, dann sollte darüber auch gemeinsam entschieden werden. Kurzfristig wird uns deshalb nichts anderes übrigbleiben, als zu hoffen, dass sich Tsipras und die anderen Regierungschefs in ihrem Feiglingsspiel noch rechtzeitig auf einen Kompromiss einigen. Langfristig aber darf die Zukunft des Kontinents nicht mehr vom Ausgang einzelner nationaler Parlamentswahlen abhängen. Es gibt ein Europäisches Parlament, das die europäische Bevölkerung alle fünf Jahre gemeinsam wählt – hier, und nicht im Europäischen Rat, müssen die Fragen entschieden werden, in denen kein Mitgliedstaat mehr ohne die anderen kann.

Bild: By FrangiscoDer (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons.

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