22 Januar 2021

Ein Initiativrecht für das Europäische Parlament: symbolpolitisch naheliegend, aber praktisch von wenig Nutzen

Wann (und ob) die Konferenz zur Zukunft Europas kommt, ist derzeit ungewiss. Fest steht aber: Die europäische Demokratie hat Reformbedarf, und an Ideen dafür mangelt es nicht. Eine neue Serie wird auf diesem Blog in loser Folge institutionelle Reformvorschläge in den Blick nehmen. Was sollen sie erreichen, wie könnten sie umgesetzt werden – und sind sie wirklich die Mühe wert? Zum Auftakt: ein Initiativrecht für das Europäische Parlament.
Dass das Europäische Parlament bis heute kein Initiativrecht hat, ist kaum zu rechtfertigen. Aber eines zu haben, würde ihm auch nicht viel helfen.

Die Forderung nach einem Initiativrecht für das Europäische Parlament gehört inzwischen zum politischen Standardrepertoire pro-europäischer Politiker:innen. Insbesondere in Deutschland erfreut sich die Idee hoher Popularität: Von der CDU/CSU (EVP) bis zur Linken (EL) fand sie sich 2019 in den Europawahlprogrammen aller großen Parteien mit Ausnahme der AfD (ID).

Und tatsächlich wirkt die jetzige Situation auf den ersten Blick überaus befremdlich. Während so ziemlich alle Parlamente auf der Welt das Recht haben, eigene Gesetzgebungsvorschläge auf die Agenda zu setzen, besitzt in der EU die Europäische Kommission ein weitreichendes Initiativmonopol. Nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren werden EU-Rechtsakte in einer Art Pingpong-Verfahren zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat erlassen. Doch um das Verfahren überhaupt zu starten, muss nach Art. 294 (2) AEUV die Europäische Kommission einen Vorschlag unterbreiten.

Initiativmonopol der Kommission

Das Europäische Parlament hingegen hat kann die Kommission nur nach Art. 225 AEUV „auffordern, geeignete Vorschläge […] zu unterbreiten“. Ein ähnliches Aufforderungsrecht haben auch der Rat (Art. 241 AEUV) oder eine Million Bürger:innen im Rahmen einer Europäischen Bürgerinitiative (Art. 11 (4) EUV). Die Kommission muss einer solchen Aufforderung allerdings nicht unbedingt Folge leisten, sondern muss gegebenenfalls nur ihre Ablehnung begründen.

Die derzeitige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) hat zwar in den politischen Leitlinien, mit denen sie sich um die Zustimmung der Europaabgeordneten zu ihrer Wahl bewarb, versprochen, dass sie Gesetzgebungsaufforderungen des Parlaments immer nachkommen werde. Und auch sonst besitzt das Parlament schon jetzt verschiedene indirekte Druckmittel, um Themen auf die politische Agenda zu setzen – etwa über sein Mitspracherecht beim EU-Haushalt. Doch ein echtes Initiativrecht ist das alles nicht. Und so bleibt der Vorwurf, dass das Europäische Parlament „kein echtes Parlament“ sei, da ihm mit der Gesetzgebungsinitiative ein grundlegendes parlamentarisches Recht fehle, eines der Standard-Argumente, mit dem Europaskeptiker:innen das Demokratiedefizit der EU kritisieren.

Historische Ursachen

Sucht man nach den historischen Ursachen für das Initiativmonopol der Kommission, so muss man bis in die Anfangsjahre der europäischen Integration zurückgehen – in eine Zeit, in der das Europäische Parlament noch nicht direkt gewählt wurde und überhaupt keine Mitspracherechte bei der europäischen Rechtsetzung besaß. Vielmehr fand diese allein zwischen der Kommission und dem Rat statt, wobei für die meisten wichtigen Entscheidungen noch Einstimmigkeit unter den nationalen Regierungen notwendig war.

Vor diesem Hintergrund sollte das Initiativmonopol der Kommission die Rechtsetzung fokussieren und verhindern, dass die europapolitische Agenda mit einer Vielzahl konkurrierender Vorschläge der verschiedenen nationalen Regierungen überfrachtet würde. Die Konstruktion war geprägt von einem technokratischen Politikverständnis, in dem die Kommission als effiziente Sachwalterin des „gesamteuropäischen Interesses“ galt. Demokratische Überlegungen spielten in der Anfangsphase der Integration keine zentrale Rolle.

Heute hingegen greift die EU viel tiefer in das Alltagsleben ein und muss sich deshalb an höheren demokratischen Standards messen lassen. Zugleich wird das Europäische Parlament seit 1979 direkt gewählt und hat damit eine viel stärkere Legitimationsgrundlage für die Repräsentation eines „gesamteuropäischen Interesses“ als die Europäische Kommission. Eine Verzettlung der Europapolitik in nationale Partikularinteressen zu vermeiden, mag weiterhin ein Argument gegen ein Initiativrecht für den Rat sein. Aber starke Gründe, warum das Europäische Parlament kein Initiativrecht haben sollte, sind kaum zu finden.

Ein Hebel für mehr parlamentarisches Agendasetting?

Was aber wäre mit dem parlamentarischen Initiativrecht gewonnen? Jenseits der symbolischen Ebene erwarten die Befürworter:innen einen demokratischen Nutzen vor allem durch die bessere Kontrolle des Parlaments über die politische Agenda der EU. Derzeit treten Parteien bei der Europawahl mit Programmen an, deren Umsetzung sie selbst mit einer Mehrheit im Parlament nicht garantieren könnten, da die Kommission sich schlicht weigern könnte, einen entsprechenden Gesetzgebungsvorschlag vorzulegen. Selbst wenn die meisten Bürger:innen sich dieser institutionellen Kontexte kaum bewusst sein dürften, schadet das der Glaubwürdigkeit des Wahlkampfs und erschwert eine ernsthafte demokratische Auseinandersetzung zwischen politischen Alternativen.

Das Initiativrecht würde es den Parteien hingegen erlauben, Gesetzgebungsvorschläge direkt im Parlament einzubringen. Es könnte deshalb ein Hebel sein, die öffentliche Sichtbarkeit der Parteipositionen zu erhöhen und damit auch die demokratische Relevanz der Europawahl zu steigern – wenigstens in der Theorie.

Der Rat könnte Initiativen einfach ins Leere laufen lassen

Bei näherem Hinsehen kommen allerdings Zweifel auf, wie stark dieser Hebel wirklich ist. Denn das Initiativrecht betrifft ja nur den ersten Schritt im europäischen Gesetzgebungsverfahren. Damit ein Rechtsakt Wirklichkeit wird, müssen sich danach das Europäische Parlament und der Rat auf eine gemeinsame Fassung einigen. Verweigert eine der beiden Kammern die Zustimmung, so ist der Gesetzgebungsvorschlag gescheitert.

Auch mit einem Initiativrecht könnte die Parlamentsmehrheit ihre politische Agenda also nicht einfach in die Tat umsetzen, sondern könnte dabei immer noch vom Rat blockiert werden. Tatsächlich ist dies in der Realität auch das viel wichtigere Hindernis als die Kommission: Dass die Kommission sich einem Gesetzgebungsvorschlag verweigert, der in Parlament und Rat mehrheitsfähig wäre, kommt in der Praxis kaum vor. Der Rat hingegen hat schon manchen Vorschlag entgleisen lassen. Die relevante institutionelle Konfliktlinie in der Europapolitik verläuft nicht zwischen Parlament und Kommission, sondern zwischen Parlament und Rat.

Hinzu kommt noch, dass das ordentliche Gesetzgebungsverfahren für die erste Lesung im Rat keinerlei zeitliche Fristen vorsieht. Der Rat hätte deshalb immer die Möglichkeit, auf eine Gesetzgebungsinitiative des Parlaments einfach überhaupt nicht zu reagieren. Dadurch würde der erhoffte Effekt, dass durch das Initiativrecht die Positionen der europäischen Parteien mehr öffentliche Sichtbarkeit gewinnen, weitgehend verpuffen. Ob das Parlament eine Initiativaufforderung an die Kommission richtet, die diese nicht aufgreift, oder selbst einen Rechtsakt initiiert, den der Rat dann ins Leere laufen lässt, dürfte in den Augen der Öffentlichkeit kaum einen Unterschied machen.

Nötig wäre mindestens eine Frist, die den Rat zur Reaktion zwingt

Damit das Initiativrecht des Parlaments eine echte Wirkung hat, müsste deshalb auch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren reformiert werden. Mindestens müsste Art. 294 (4) AEUV so geändert werden, dass ein vom Parlament vorgeschlagener (und in erster Lesung beschlossener) Rechtsakt automatisch in Kraft tritt, sofern der Rat nicht innerhalb einer bestimmten Frist dazu Stellung bezieht. Der Rat könnte Initiativen des Parlaments dann immer noch ablehnen; er wäre aber wenigstens dazu gezwungen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Ohne eine solche Reform dürfte ein Initiativrecht für das Parlament in der Praxis kaum einen Unterschied machen. Es bliebe eine weitgehend symbolpolitische Maßnahme – doch ob sie dem weitverbreiteten Eindruck eines Parlaments, das viel redet, aber wenig erreicht, wirklich abhelfen würde, erscheint zweifelhaft. Nicht gerade die Reform also, die in der kurzfristigen Prioritätenliste ganz oben stehen sollte.

Gesetzesinitiativen gehen meist von Regierungen aus

In der langen Frist wiederum spielen ohnehin noch ganz andere Aspekte eine Rolle. Denn auch in vollwertigen parlamentarischen Demokratien, in denen die Abgeordneten ein Initiativrecht besitzen, gehen die meisten Gesetzgebungsvorschläge doch nicht von ihnen, sondern von der Regierung aus. Das hat nicht zuletzt pragmatische Gründe: Da Regierungen in der Regel über einen viel größeren Verwaltungsapparat verfügen als Parlamente, haben sie auch größere Kapazitäten zur Formulierung von Gesetzen und mehr praktische Erfahrung, welche Aspekte für eine reibungslose Umsetzung zu beachten sind.

Vor allem aber treten in parlamentarischen Systemen Parlamentsmehrheit und Regierung typischerweise ohnehin nicht als Antagonisten auf. Da die Parlamentsmehrheit die Regierung wählt, bestehen beide in der Regel aus denselben Parteien und müssen sich deshalb auch gemeinsam vor den Wähler:innen verantworten. Ob ein Rechtsakt von der Regierung oder von den Mehrheitsfraktionen im Parlament eingebracht wird, ist für die Öffentlichkeit deshalb meist kaum relevant.

Sinnvollere Priorität: die Kommission parlamentarisieren

Auf europäischer Ebene ist dies bislang nicht der Fall: Durch ihr eigentümliches Ernennungsverfahren repräsentiert die Europäische Kommission nicht die Mehrheitsparteien im Parlament, sondern einen politischen Querschnitt durch die nationalen Regierungen, die die Kommissionsmitglieder vorschlagen dürfen. Allerdings hat das Europäische Parlament schon jetzt ein Zustimmungsrecht bei der Ernennung der Kommission und hat seinen Einfluss in der Praxis nach und nach immer weiter ausgebaut (etwa durch die Spitzenkandidat:innen zur Europawahl, aber nicht nur durch diese).

Je enger die Verbindung zwischen Kommission und Parlamentsmehrheit in der politischen Praxis und in der öffentlichen Wahrnehmung wird, desto unwichtiger wird auch die Frage, wer von ihnen formal über die Gesetzgebungsinitiative verfügt. Gewiss: Die Parlamentarisierung der Europäischen Kommission ist ein weitaus dickeres Brett und wird auf größeren Widerstand der nationalen Regierungen stoßen als das parlamentarische Initiativrecht. Aber sie bietet auch das weitaus größere Potenzial und ist deshalb in den Bemühungen um eine Demokratisierung der EU die sinnvollere Priorität.

Wie aber könnten die nächsten Schritte für eine Parlamentarisierung der Europäischen Kommission aussehen? Dazu demnächst mehr.



Bild: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr.

14 Januar 2021

Warum Maastricht nicht zu Europas Verfassungsmoment wurde: Über demokratische Verfahren, Nachrichtenfaktoren und die europäische Öffentlichkeit

Frisch erschienen.

Das Jahr 2021 bringt für die EU den dreißigsten Jahrestag des Gipfels von Maastricht, auf dem am 9./10. Dezember 1991 die bislang größte Einzelreform des europäischen Vertragswerks beschlossen wurde. Der Vertrag von Maastricht begründete zum einen neue Politikfelder wie die europäische Währungsunion, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres. Zum anderen brachte er auch eine neue demokratische Legitimationsgrundlage für die EU, die sich zunehmend als eine Union der europäischen Bürger:innen, nicht nur der Mitgliedstaaten definierte.

Durch den Abbau nationaler Vetorechte wurde die Legitimationskette über die nationalen Parlamente und Regierungen geschwächt: Die Bürger:innen jedes Landes konnten sich nun mit Regelungen konfrontiert sehen, denen keines ihrer nationalen Staatsorgane zugestimmt hatte. Im Gegenzug stärkte der Vertrag aber das Europäische Parlament, das nun in vielen Gesetzgebungsbereichen mitentscheiden konnte und zudem ein Zustimmungsrecht bei der Ernennung der Kommission erhielt. Für die demokratische Legitimation der Europapolitik kam es also zunehmend auf das Europäische Parlament und die darin vertretenen supranationalen Parteien an (die mit Maastricht erstmals ausdrücklich in den EU-Verträgen verankert wurden).

Hinzu kam – neben weiteren Neuerungen – die Einführung der Unionsbürgerschaft, die den Bürger:innen der EU einen gemeinsamen verfassungsrechtlichen Status brachte und unter anderem mit einem europaweiten Kommunalwahlrecht am Wohnort verbunden war. Alles in allem war der Vertrag von Maastricht also ein massiver Konstitutionalisierungsschub für die EU: Legitimationssubjekt waren immer weniger die nationalen Staatsvölker und immer mehr die gesamteuropäische Bevölkerung; Europapolitik war immer weniger „Außenpolitik der Mitgliedstaaten“ und immer mehr „europäische Innenpolitik“.

Nationale Diskursgrenzen in der öffentlichen Debatte

Allerdings ging dieser Konstitutionalisierungsschub im politischen System der EU nicht mit entsprechenden Veränderungen in der europäischen Öffentlichkeit einher. Zwar nahm infolge des Bedeutungsgewinns der EU nach Maastricht auch die Medienberichterstattung zu. Außerdem wurde die Debatte kontroverser. Der desinteressiert-zustimmende permissive consensus, mit dem die Öffentlichkeit die europäische Integration lange begleitet hatte, stieß in den 1990er Jahren an sein Ende. Doch die Struktur dieser Debatte blieb stark von nationalen Unterschieden geprägt: Auch nach Maastricht verliefen Grenzen im öffentlichen Diskurs meist eher entlang nationaler Linien (etwa zwischen „deutschen“ und „französischen“ Medien) als entlang transnational-weltanschaulicher Gegensätze (etwa zwischen „linken“ und „konservativen“ Medien).

Der Konstitutionalisierungsschub im politischen System der EU führte also nicht zum constitutional moment in der Öffentlichkeit. Während Ersteres mit der Stärkung des Parlaments und der europäischen Parteien zunehmend auf eine Repräsentation transnational-weltanschaulicher Gegensätze ausgelegt war, blieb Letztere einem mitgliedstaatlich-außenpolitischen Paradigma verhaftet. Diese Entkoppelung wurde rasch zu einem Legitimitätsproblem für die EU: Während supranationale Partizipationsmöglichkeiten oft nicht als relevant wahrgenommen wurden und insbesondere die Beteiligung an den Europawahlen jahrzehntelang immer weiter sank, wuchs die Europaskepsis und die Kritik an der EU als Bedrohung der nationalen Demokratie.

Wie aber kam es zu dieser Entkopplung? Warum wurde Maastricht kein europäischer Verfassungsmoment? Das ist das Thema meiner Dissertation, die gerade im Nomos-Verlag erschienen (und hier im Open Access verfügbar) ist.

Warum kam es nicht zum Verfassungsmoment?

Zu kurz greift aus meiner Sicht ein Erklärungsansatz, der das Ausbleiben eines europäischen Verfassungsmoments einfach daraus erklärt, dass sich die Vorstellungen davon, was die EU ist und sein soll, nun einmal von Land zu Land unterscheiden. Denn auch wenn diese Diagnose sicherlich richtig ist, sind politische Diskurse doch niemals unveränderlich.

Und gerade die Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht (deren wichtigste Vorentscheidungen zwischen dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 und dem Rücktritt von Margaret Thatcher ein Jahr später fielen) erfolgten in einer Phase, in der mit dem Ende des Kalten Krieges in Europa und weltweit jahrzehntealte politische Gewissheiten erschüttert wurden. Tatsächlich entstand die Maastricht-EU zu einem guten Teil gerade als Antwort auf die Krise der deutschen Wiedervereinigung – dass die Dinge nicht einfach so bleiben konnten, wie sie gewesen waren, war für die meisten Zeitgenoss:innen selbstverständlich. Erklärungsbedürftig ist also, warum es trotzdem nicht zu einer stärkeren Diskontinuität der Diskurse kam und die EU weiterhin vor allem unter der Perspektive nationaler Außenpolitik statt europäischer Innenpolitik diskutiert wurde.

Verfahren prägen Ereignisse prägen Diskurse

In der Dissertation bin ich deshalb einem anderen Ansatz nachgegangen, der die Erklärung für die Stabilität der Diskurse nicht in den Diskursen selbst sucht, sondern in einem davon weitgehend unabhängigen Faktor – nämlich dem Verfahren der Vertragsreform.

Der Grundgedanke dabei: Institutionelle Verfahren strukturieren Ereignisabläufe, etwa indem sie bestimmten Akteuren Funktionen und Rechte zuweisen. Diesen Ereignissen wird von den Medien nach einer bestimmten Eigenlogik Nachrichtenwert zugeschrieben: Vereinfacht gesagt berichten sie nur über Ereignisse, die sie als wichtig oder interessant für ihr Zielpublikum erachten. Dieses Publikum wiederum unterscheidet sich je nach Medium – so adressiert etwa die FAZ eine konservative deutsche Leserschaft, Le Monde eine linksliberale französische.

Diskursive Unterschiede zwischen verschiedenen Medien lassen sich deshalb aus einem Wechselspiel zwischen den Zielgruppen der Medien und den Merkmalen der zu berichtenden Ereignisse erklären. Ob in der Debatte über bestimmte Ereignisse (oder auch Akteure oder Meinungen) eher nationale oder weltanschauliche Diskursgrenzen vorherrschen, hängt wiederum davon ab, ob für den Nachrichtenwert dieser Ereignisse die nationale Herkunft oder die weltanschauliche Ausrichtung der Zielgruppen wichtiger ist.

Zwei Nachrichtenfaktoren

Für die Auswirkung von Verfahren auf die Struktur der europapolitischen Debatte sind nun vor allem zwei Faktoren von Bedeutung. Erstens regulieren Verfahren, welche Akteure für eine Entscheidung formal zuständig sind – und weisen diesen damit einen höheren Nachrichtenwert zu. Wie eine bestimmte Entscheidung ausfallen wird, lässt sich am besten aus Stellungnahmen von Akteuren ableiten, die bei dieser Entscheidung auch wirklich mit am Tisch sitzen. Diese können deshalb a priori auch mit größerem Medieninteresse für ihre Positionen und Meinungsäußerungen rechnen als Akteure, die bei der Entscheidung kein Mitentscheidungsrecht besitzen.

Zweitens können in demokratischen Systemen die Medienkonsument:innen als Staatsbürger:innen immer auch selbst auf gewisse Entscheidungen Einfluss nehmen und wollen sich deshalb eine Meinung dazu bilden. Die Medien können bei ihrem Publikum deshalb ein umso größeres Interesse an einer Entscheidung erwarten, je eher dieses über demokratische Verfahren selbst daran beteiligt ist. Insbesondere besitzen dadurch politische Akteure, die dem Publikum eines Mediums durch Wahlen verantwortlich sind, in diesem Medium auch einen höheren Nachrichtenwert – und können damit eine größere Diskursmacht ausüben als nicht (bzw. nicht von diesem Publikum) gewählte Akteure.

Unterschiede zwischen innen- und außenpolitischen Debatten

Diese Nachrichtenfaktoren führen dazu, dass die öffentliche Debatte über innen- und außenpolitische Entscheidungen strukturell ganz unterschiedlich verläuft. Innenpolitische Auseinandersetzungen sind in modernen Demokratien typischerweise von einem Antagonismus zwischen Regierung und Opposition geprägt. Dabei hat die Regierungsmehrheit meist die Möglichkeit, die Opposition im Parlament schlicht zu überstimmen, und besitzt damit unter dem Aspekt der Zuständigkeit einen höheren Nachrichtenwert.

Dies wird jedoch dadurch relativiert, dass Regierung und Opposition bei Wahlen als politische Alternativen auftreten, über die sich die Zeitungskonsument:innen als Wähler:innen eine Meinung bilden wollen. Je nach weltanschaulicher Präferenz ihres Zielpublikums räumen die Medien dabei der einen oder anderen Sichtweise mehr Raum ein. Die wichtigste Diskursgrenze in innenpolitischen Debatten verläuft deshalb entlang weltanschaulicher Linien.

Den größten Nachrichtenwert hat die eigene Regierung

Bei außenpolitischen Entscheidungen, die im Rahmen diplomatischer Verhandlungen getroffen werden, stellt sich diese Konstellation anders dar. Interessant unter dem Aspekt der formalen Zuständigkeit sind hier vor allem die verschiedenen nationalen Regierungen, die gemeinsam zu einer Einigung kommen müssen. Allerdings ist jede dieser Regierungen nur in ihrem eigenen Land Wahlmechanismen unterworfen; sie konkurrieren nicht miteinander, sondern mit ihrer jeweiligen nationalen Opposition – und vor einem jeweils unterschiedlichen nationalen Publikum. Für die nationalen Medien jedes Landes besitzt deshalb die eigene Regierung einen höheren Nachrichtenwert als die der anderen Mitgliedstaaten. Sie berichten deshalb ausführlicher über deren Positionen und setzen sich damit auch häufiger normativ (statt nur beschreibend) auseinander.

Zugleich ändert sich auch die Art der Argumente: Da Regierung und Opposition in innenpolitischen Debatten wenigstens teilweise dieselben Wählergruppen ansprechen, stellen sie in der Öffentlichkeit meist weniger den partikularen Nutzen für ihr eigenes Lager, sondern das nationale Gemeinwohl (bzw. ihre jeweilige weltanschaulich geprägte Deutung davon) in den Mittelpunkt. In der Außenpolitik, in der sich jede Regierung nur vor den eigenen nationalen Wähler:innen rechtfertigen muss, spielt das transnationale Gemeinwohl hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen begründen die Regierungen ihre Position eher über das jeweilige nationale Interesse. Dadurch entsteht eine Asymmetrie, durch die sich die Debatten über dieselben außenpolitischen Ereignisse je nach Land unterscheiden.

Das außenpolitische Verfahren der Maastricht-Verhandlungen

Die Vertragsverhandlungen von Maastricht nun folgten – trotz der „europäisch-innenpolitischen“ Inhalte der Reform – einem eindeutig „mitgliedstaatlich-außenpolitischen“ Verfahren. Formal wurde die Vertragsreform durch zwei vom Rat eingesetzte Regierungskonferenzen (einer zur Währungs- und einer zur politischen Union) ausgehandelt und anschließend durch die nationalen Parlamente bzw. nationale Referenden ratifiziert. Für die Medien jedes Landes besaß deshalb die je eigene nationale Regierung den höchsten Nachrichtenwert, da diese als einziger Akteur sowohl am Verhandlungstisch saß als auch dem nationalen Publikum über Wahlmechanismen verantwortlich war.

Alle übrigen Akteure bezogen ihren Nachrichtenwert nur aus jeweils einem dieser beiden Faktoren. Über die anderen nationalen Regierungen wurde berichtet, weil ihre Positionen für das Verhandlungsergebnis relevant waren. Diese Positionen wurden jedoch weniger inhaltlich bewertet, sondern eher als ein gegebener Kontext beschrieben, vor dem sich die eigene Regierung diplomatisch positionieren musste. Die nationalen Oppositionsparteien wiederum besaßen Bedeutung durch ihre Rolle als nationale Wahlalternative (und zum Teil, weil ihre Stimmen für die nationale Ratifikation des Vertrags notwendig waren). Sie waren bei den Verhandlungen jedoch nicht selbst präsent und galten deshalb nicht als entscheidend für deren Ergebnis. Sichtbar wurden ihre Positionen vor allem dann, wenn sie den europapolitischen Kurs der nationalen Regierung kritisierten, weniger wenn sie die Vertragsreform als Ganzes kommentierten.

Nationale Aufladung der öffentlichen Debatte

Im Ergebnis wurde die öffentliche Auseinandersetzung über die europäische Reform deshalb in jedem Land mit einer Diskussion über die Agenda der eigenen nationalen Regierung aufgeladen. Im Mittelpunkt stand weniger der konstitutionelle Inhalt als der diplomatische Kontext des Vertrags, weniger seine Relevanz für die EU als Ganze als seine Bedeutung für die jeweilige nationale Politik.

Diese nationale Bedeutung unterschied sich natürlich von Land zu Land: So sahen die deutschen Medien die Verhandlungen im Jahr 1989/90 vor allem als diplomatisches Instrument, um die deutsche Wiedervereinigung zu erleichtern. Die französische Debatte kreiste vor allem um den diplomatischen Auftritt von Staatspräsident François Mitterrand und die Frage, ob und wie Frankreich auch nach der deutschen Wiedervereinigung eine europäische Führungsrolle spielen könne. In Großbritannien lag der Fokus auf der stark europaskeptischen Haltung der Regierung Thatcher – die von der regierungsnahen Times als Verteidigung der nationalen Souveränität gelobt, vom oppositionsnahen Guardian hingegen als Abgleiten in die diplomatische Isolation kritisiert wurde.

Wahrnehmung als diplomatisches Nullsummenspiel

Demgegenüber erschienen die eigentlichen Vertragsinhalte in den Medien oft nur als Verhandlungsmasse, anhand derer sich der Erfolg oder Misserfolg einer Regierung messen ließ. Auch wenn etliche der Maastrichter Reformen ursprünglich auf Vorschläge supranationaler Institutionen zurückgingen, erschienen sie in der öffentlichen Debatte vor allem als nationale Positionen. So wurde etwa die Stärkung des Europäischen Parlaments als eine „deutsche“, die Währungsunion als „französische“, der Kohäsionsfonds als „spanische“ Forderung gedeutet, die die Regierungen jeweils in einem großen diplomatischen Nullsummenspiel gegenüber den anderen durchzusetzen versuchten.

Eine inhaltliche Bewertung der Vorschläge fand hingegen vor allem dann statt, wenn diese Thema von innerstaatlichen Auseinandersetzungen über die nationale Europapolitik wurden. Im Vordergrund stand dann allerdings nicht so sehr ihre Bedeutung für das politische System der EU als Ganzes, sondern vielmehr der Verlust nationaler Souveränität: etwa wenn die Währungsunion in Deutschland als „Opfer der D-Mark“ kritisiert oder das Unionsbürger-Wahlrecht in Frankreich als Angriff auf die nationale Identität gewertet wurde. Eine Politisierung der Debatte entlang transnational-weltanschaulicher Linien entwickelte sich daraus nicht. Im Gegenteil: Je weiter die Verhandlungen voranschritten, desto stärker wurde der Fokus auf nationale Positionen und auf diplomatische Erfolge und Niederlagen – und in desto weitere Ferne rückte der mögliche Verfassungsmoment.

Auch ohne Verfassungsmoment kann die Öffentlichkeit sich wandeln

Wäre es mit einem anderen, supranational-parlamentarischen Verfahren anders gekommen? Das ist natürlich Spekulation, schon weil Vergleichsfälle fehlen. Auch im Fall des EU-Verfassungskonvents von 2002/03 wurden die Ergebnisse ja anschließend noch von einer Regierungskonferenz überarbeitet, in der jede nationale Regierung (und nur diese) ein Vetorecht hatte. Allein vom Parlament ausgearbeitet wurde nur der Spinelli-Entwurf von 1984, doch dessen Verfahren brach zu sehr mit den etablierten Erwartungen, um von der Öffentlichkeit als ernsthafter Reformversuch wahrgenommen zu werden.

Dass es bislang nicht zu einem europäischen Verfassungsmoment kam, muss allerdings nicht bedeuten, dass die öffentliche Debatte in der EU dauerhaft einer mitgliedstaatlich-außenpolitischen Struktur folgen muss. Denn die hier beschriebenen Nachrichtenwert-Effekte gelten ja nicht nur für Vertragsreformen, sondern auch für die alltägliche Beschlussfassung in den europäischen Institutionen. Auch wenn der Vertrag von Maastricht kurzfristig zu der beschriebenen Entkopplung zwischen politischem System und Öffentlichkeitsstruktur führte, kann die Konstitutionalisierung der EU – vor allem die Aufwertung des Europäischen Parlaments – langfristig doch bewirken, dass auch in der öffentlichen Debatte transnational-weltanschauliche Diskurslinien gegenüber nationalen Gegensätzen größere Bedeutung gewinnen.

Das Entstehen eines europäischen Demos

In der Debatte über das europäische Demokratiedefizit gibt es eine Strömung, die eine supranationale Demokratie grundsätzlich für unmöglich hält, da es der EU an einem gemeinsamen demos, d.h. einer gemeinsamen politischen Identität und Öffentlichkeit fehle. Angesichts der beschriebenen Nachrichtenwert-Effekte wird jedoch gerade umgekehrt ein Schuh daraus: Eine transnational-weltanschaulich strukturierte öffentliche Debatte wird kaum in Gang kommen, solange bei europäischen Entscheidungen die nationalen Regierungen die entscheidenden Akteure sind. Hingegen kann eine Demokratisierung der EU-Institutionen einen Wandel in der Öffentlichkeitsstruktur bewirken und damit selbst zum Entstehen jenes europäischen demos beitragen.

Dass es sich dabei nicht um einen einfachen, linearen Prozess handelt, ist klar – schon weil die Konstitutionalisierung der EU ja keineswegs abgeschlossen ist und in ihrem politischen System nach wie vor europäisch-innenpolitische und mitgliedstaatlich-außenpolitische Elemente nebeneinander existieren. Festzuhalten bleibt indessen: Politische Verfahren beeinflussen die Struktur öffentlicher Diskurse. Ihre Wirkung zu verstehen und die Institutionen der EU entsprechend zu gestalten, bleibt eine Herausforderung auch für die Zukunft.


Manuel Müller: Ein verpasster Verfassungsmoment. Der Vertrag von Maastricht und die europäische Öffentlichkeit (1988-1991), Europäische Schriften Bd. 99, Baden-Baden (Nomos) 2021. 796 Seiten, broschiert: 138,00 Euro, E-Book: kostenfrei (Open Access), hier verfügbar.