28 Februar 2017

Müssen Pro-Europäer in schweren Zeiten zusammenstehen? Drei Strategien gegen den Rechtspopulismus

Jean-Claude Juncker (EVP) und Martin Schulz (SPE) standen 2014 selbst im Wahlkampf eng zusammen.
In schweren Zeiten muss man zusammenstehen, und selten sind die Zeiten für Freunde der europäischen Integration schwerer gewesen als jetzt. Die Forderung nach Einigkeit der pro-europäischen Parteien gehörte deshalb in den letzten Jahren zu den Grundmotiven der europapolitischen Rhetorik: Vorgebracht wurde sie (um nur eine bunte Auswahl zu nennen) zum Beispiel von dem Vorsitzenden der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz Martin Naef (SP/SPE), von dem Europaabgeordneten Sven Giegold (Grüne/EGP), von dem Generalsekretär der Europäischen Bewegung International Petros Fassoulas, von der liberalen ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament, von dem sozialdemokratischen Fraktionschef Gianni Pittella (PD/SPE), von dessen christdemokratischen Amtskollegen Manfred Weber (CSU/EVP) und natürlich von dem Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk (PO/EVP).

Der Grundgedanke ist dabei immer derselbe: Wenn Nationalpopulisten die Errungenschaften der europäischen Integration zu zerstören versuchen, dann muss man ihnen geschlossen entgegentreten.

Nicht immer die beste Strategie

Doch Einigkeit muss nicht immer die beste Strategie sein. Denn zum einen wird dadurch die Botschaft verwässert, wie zum Beispiel die Europablogger Jon Worth und Fabien Cazenave im vergangenen Jahr aus unterschiedlichen Anlässen kritisierten. Da es so viele politische Akteure gibt, die sich selbst als „pro-europäisch“ bezeichnen, führt die Suche nach einer gemeinsamen Linie oft nur zu einer vagen Ansammlung an Gemeinplätzen, die niemanden überzeugt – geschweige denn begeistert. Auch die Europa-Union, der wichtigste pro-europäische Verband in Deutschland, kann davon ein Liedchen singen.

Und zum anderen spielt die Einheit der Pro-Europäer auch der Strategie der Rechtspopulisten in die Hände, sich selbst als die „einzige Alternative“ zu einer ansonsten als alternativlos geltenden Politik zu präsentieren. In Kreisen der deutschen AfD (BENF-nah) spricht man beispielsweise gern von einer „schwarz-rot-grünen Einheitspartei“, die Deutschland regiere. Sollten Pro-Europäer diesem Argumentationsmuster noch weiter Vorschub leisten, indem sie öffentlich ihre Einigkeit inszenieren?

Offenbar gilt der Satz vom Zusammenhalten in schweren Zeiten also nicht immer und nicht ohne Bedingungen. Aber in welcher Situation ist es für Pro-Europäer sinnvoll, eine gemeinsame Linie zu suchen, und wann sollten sie ihre interne Vielfalt zeigen? Dazu drei Strategien.

Erstens: Verteidigung

Ein naheliegender Grund, weshalb Pro-Europäer zusammenhalten sollten, ist, Europagegner von der Macht fernzuhalten. Diese Defensivstrategie basiert auf der Überlegung, dass sich die Nationalpopulisten zwar in vielen Ländern im Aufschwung befinden, bis jetzt aber nur wenig politische Schlüsselpositionen besetzen. Und natürlich ist es schlimm genug, wenn rechte Parteien in der Öffentlichkeit immer mehr Präsenz gewinnen. Aber immerhin können sie auf der Straße weniger Schaden anrichten als im Parlament – und in der Opposition weniger als an der Regierung.

Entsprechend galt etwa bei Wahlen in Frankreich bisher das Prinzip der „republikanischen Front“: Wenn in irgendeinem Wahlkreis ein Kandidat des rechtsextremen Front National (FN/BENF) in die zweite Runde gelangte, stützten Konservative und Sozialisten gemeinsam dessen Gegenkandidaten und hielten den FN damit lange Zeit erfolgreich von wichtigen politischen Ämtern fern. Allerdings stellt ein Teil der Konservativen diese Strategie inzwischen in Frage und setzt stattdessen darauf, bei Stichwahlduellen zwischen Sozialisten und Rechtsextremen keine der beiden Seiten zu unterstützen. Ob das Verteidigungsbündnis der Mitte-Parteien hält oder nicht, könnte für die Sitzzahl des FN bei der französischen Parlamentswahl im kommenden Juni von gravierender Bedeutung sein.

Rechte von der Regierung fernhalten

Auf eine andere Art wirkte eine solche Verteidigungsstrategie 2014 im Europäischen Parlament. Nachdem rechte Parteien bei der letzten Europawahl deutlich dazugewonnen hatten, taten sich die Mitte-Fraktionen EVP, S&D und ALDE zusammen, um die nationalpopulistischen Abgeordneten von wichtigen Posten in den Parlamentsausschüssen fernzuhalten. Diese Strategie war damals nicht unumstritten, da sie mit dem ungeschriebenen Grundsatz brach, dass diese Posten stets proportional unter allen Fraktionen aufgeteilt werden. Letztlich war sie aber erfolgreich: Bis heute stellen die Rechtsfraktionen ENF und EFDD keinen einzigen Ausschussvorsitzenden im Parlament.

Und auch auf nationaler und regionaler Ebene finden sich zahlreiche Beispiele, wie durch den Zusammenhalt pro-europäischen Parteien Nationalpopulisten von Machtpositionen ferngehalten wurden: Nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2016 etwa konnte nur eine breite lagerübergreifende Koalition aus CDU (EVP), SPD (SPE) und Grünen (EGP) eine Regierungsbeteiligung der AfD verhindern. Auch in Österreich könnte nach der Nationalratswahl 2018 eine ähnliche Konstellation eintreten. Und in den Niederlanden könnte nach der Parlamentswahl in zwei Wochen sogar eine Vier- oder Fünf-Parteien-Koalition nötig werden, um Geert Wildersʼ PVV (BENF) bei der Regierungsbildung zu umgehen.

Kein langfristiger Ansatz

Das Problem mit der Defensivstrategie ist allerdings, dass sie keinen langfristigen Ansatz bietet, um den Aufstieg des Nationalpopulismus zu bremsen. Im Gegenteil: Bekanntlich geht die Regierungsteilnahme von Parteien auf die Dauer oft mit sinkenden Zustimmungswerten einher. Wenn die Koalitionen nun immer größer werden und alle pro-europäischen Parteien mit einbeziehen, fällt es den Nationalpopulisten immer leichter, sich in der Opposition zu profilieren – bis im schlimmsten Fall die pro-europäische politische Mitte vollends zerrieben ist.

Anhänger der Defensivstrategie bauen deshalb meistens darauf, dass der nationalpopulistische Spuk irgendwann von selbst verschwinden wird: etwa durch einen Wirtschaftsaufschwung, der die Eurokrise beendet, oder durch einen Friedensschluss in Syrien, der die Flüchtlingsfrage löst. Diese Hoffnung aber könnte ein frommer Wunsch bleiben, und darum lohnt es sich, noch andere Strategien in den Blick zu nehmen.

Zweitens: Spielverlagerung

Nationalpopulistische Parteien verdanken ihren Aufschwung zum einem guten Teil dem Umstand, dass sie von unzufriedenen Wählern als die einzige „echte Alternative“ wahrgenommen werden. Eine sinnvolle Gegenstrategie kann es deshalb sein, traditionelle Konflikte zwischen der linken und rechten Mitte wiederzubeleben, um so zu zeigen, dass es auch innerhalb des pro-europäischen Lagers reale politische Alternativen gibt. Gleichzeitig lässt sich die politische Debatte dadurch auf Bereiche lenken, in denen die Populisten selbst keine klare Linie haben und nicht glaubwürdig wirken – in Deutschland etwa die Steuer- und Sozialpolitik.

Diese Strategie der Spielverlagerung setzt voraus, dass die Pro-Europäer eben keine Einheit demonstrieren, sondern unterschiedliche programmatische Angebote entwickeln. Auf europäischer Ebene wurde sie in letzter Zeit vor allem von den Sozialdemokraten vorangetrieben, deren Fraktionschef Gianni Pittella eine „gesunde Polarisierung zwischen Rechts und Links“ als das beste Mittel beschrieben hat, um das Europäische Parlament zu beleben und europaskeptische Parteien zu bremsen. Und auch in Deutschland sprachen sich in den letzten Monaten prominente Politiker sowohl der SPD als auch der CDU ausdrücklich gegen eine Fortsetzung der Großen Koalition nach der kommenden Bundestagswahl aus.

Fehlende Mehrheiten

Auch die Spielverlagerungsstrategie hat jedoch ihre Tücken. Das erste Problem stellt sich, wenn die Populisten – wie das in vielen Ländern der Fall ist – bereits so stark sind, dass es für reine Mitte-Rechts- oder Mitte-Links-Bündnisse gar keine Mehrheiten mehr gibt.

Eine mögliche Lösung für dieses Problem bot in Schweden das sogenannte Dezemberabkommen von 2014. Um die rechtspopulistischen Sverigedemokraterna (SD/ADDE) machtpolitisch auszuschalten und dennoch die Polarität zwischen dem regierenden Mitte-Links- und dem oppositionellen Mitte-Rechts-Lager zu erhalten, einigten sich alle Mitte-Parteien, dass für die nächsten zwei Wahlperioden jeweils der Kandidat mit den meisten Stimmen im Parlament Regierungschef werden sollte, auch wenn wegen der SD keines der Lager eine absolute Mehrheit erreichen würde.

Ob dieser Plan – eine Art Kombination aus Defensiv- und Spielverlagerungsstrategie – aufgegangen wäre, lässt sich allerdings nicht sagen: Bereits nach weniger als einem Jahr kündigte das Mitte-Rechts-Lager das Dezemberabkommen wieder auf und nähert sich seitdem vorsichtig einem Bündnis mit den Sverigedemokraterna an.

Polarisierung läuft ins Leere

Ein zweites Problem der Spielverlagerungsstrategie ist zudem, dass in vielen wichtigen Bereichen relevante politische Entscheidungen nur noch auf europäischer Ebene möglich sind – und dass die Mehrheitserfordernisse in der EU noch höher sind als im nationalen Rahmen. Gerade in der Steuer- und Sozialpolitik können europäische Beschlüsse nur mit Einstimmigkeit im Ministerrat getroffen werden. Eine Polarisierung zwischen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien kann unter solchen Umständen nur ins Leere laufen.

Die Spielverlagerung kann von den Wählern deshalb leicht als ein Scheinmanöver verstanden werden: Wenn die Parteien der linken und rechten Mitte zwar vor der Wahl unterschiedliche Versprechen machen, nach der Wahl aber doch wieder zu einer gemeinsamen großkoalitionären Linie gezwungen sind, dann schadet das letztlich ihrer Glaubwürdigkeit – und nutzt so wiederum den Nationalpopulisten.

Drittens: Offensive

Wenn man den Nationalpopulisten erfolgreich entgegentreten will, dann ist es also notwendig, die Konsenszwänge in der Europäischen Union zu überwinden und eine glaubwürdige Alternanz zwischen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien zu ermöglichen. Das wäre die dritte, die offensive Strategie: die Funktionsweise des politischen Systems selbst zu verändern und dadurch die Grundlagen für eine neue, demokratischere Europapolitik zu schaffen, die das Protestpotenzial verringert, von dem die Nationalpopulisten sich nähren. Das aber geht nur mit einer Reform des EU-Vertrags. Und die wiederum ist nur möglich, wenn sich die pro-europäischen Parteien darüber einig sind.

Sollen Pro-Europäer in schweren Zeiten zusammenstehen? Wenn sie es nur aus Verlegenheit tun, weil sie sich in der Krise nicht anders an der Macht halten können, werden sie auf die Dauer nicht erfolgreich sein. Wenn sie sich jedoch zusammenraufen, um die EU zu reformieren und die Grundlage für künftige demokratische Kontroversen zu legen – dann könnte die viel beschworene Einigkeit am Ende tatsächlich von dauerhaften Nutzen sein. Entsprechende Vorschläge hat das Europäische Parlament vor kurzem vorgelegt. Wir werden sehen, was die nationalen Regierungen daraus machen.

Bild: © European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

21 Februar 2017

Flucht aus der Verantwortung: Zur Komitologie-Reform

„Die Kommission ist kein technischer Ausschuss von hervorragenden hohen Beamten, die an die Weisungen eines anderen Organs gebunden sind. Die Kommission ist politisch. Ich möchte, dass sie noch politischer wird. Sie wird sehr politisch sein.“
Jean-Claude Juncker, Politische Leitlinien, 15. Juli 2014

Wäre es vielleicht doch bequemer, nur ein blasser Technokrat zu sein?
Er wolle eine „politische Kommission“ leiten: Das war das zentrale Thema in den ersten Monaten der Amtszeit von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP). Als erster Kommissionspräsident, der nach dem Spitzenkandidaten-Verfahren gewählt wurde, besitzt er eine größere demokratische Legitimität als seine Vorgänger. Und diese demokratische Legitimität wollte er einsetzen, um den Ruf der Technokratie zu überwinden, der der Kommission bis heute anhaftet, um eigene Prioritäten zu setzen, Richtungsentscheidungen zu treffen – kurz: um politische Verantwortung zu übernehmen.

Leider, so musste Juncker seitdem feststellen, macht man sich mit der Übernahme politischer Verantwortung immer auch angreifbar, und manchmal sogar unbeliebt. Etwa wenn man ein umstrittenes Pestizid wie Glyphosat zulässt. Oder wenn man Genmais erlaubt. Oder die Verwendung bestimmter Medikamente verbietet. Was die Kommission aber ganz besonders ärgert, ist, wenn sie für diese Entscheidungen von Mitgliedstaaten kritisiert wird, die zuvor intern grünes Licht gegeben haben.

Und darum will sie nun das Komitologie-Verfahren reformieren.

Durchführungsverordnungen

Kurz zum Hintergrund: In parlamentarischen Demokratien ist es üblich, dass Vorschriften in Gesetzen oft nur abstrakt formuliert werden, während die konkrete Umsetzung der Regierung überlassen bleibt. Dafür kann die Regierung vom Gesetzgeber ermächtigt werden, eigene Durchführungsrechtsakte zu erlassen (die in Deutschland als „Rechtsverordnung“ bezeichnet werden). Die Regierung hat dadurch einen gewissen Spielraum, auf welche Weise sie die Vorgaben eines Gesetzes genau verwirklicht. Alle wesentlichen Entscheidungen liegen aber in der Hand des Gesetzgebers, also des Parlaments.

Ein ähnliches Verfahren gibt es auch auf europäischer Ebene, wobei die Umsetzung von europäischen Rechtsakten normalerweise in der Hand der nationalen Regierungen liegt. Wenn es jedoch notwendig ist, dass ein bestimmter Rechtsakt europaweit einheitlich umgesetzt wird, kann nach Art. 291 Abs. 2 AEUV auch die Europäische Kommission ermächtigt werden, Durchführungsverordnungen zu erlassen. So bestimmt zum Beispiel ein 2009 erlassener EU-Rechtsakt, unter welchen Bedingungen und nach welchen Verfahren Pestizide in der EU zugelassen werden dürfen. Die konkrete Umsetzung dieses Rechtsakts erfolgte dann in Form einer Durchführungsverordnung der Kommission, in der die einzelnen zugelassenen Mittel (darunter das umstrittene Glyphosat) aufgelistet sind.

Komitologie

Allerdings ist die Kommission beim Erlass eines solchen Durchführungsrechtsakts nicht völlig frei. Denn zum einen ist sie natürlich an die Vorgaben des ursprünglichen Rechtsakts gebunden, mit dessen Umsetzung sie beauftragt wurde. Und zum anderen wird sie bei der Ausübung ihrer Durchführungsbefugnisse von den nationalen Mitgliedstaaten kontrolliert – nach einem Verfahren, das in Art. 291 Abs. 3 AEUV begründet und in einer Verordnung von 2011 im Einzelnen geregelt ist. Dieses Verfahren ist im Brüsseler Jargon als „Komitologie“ bekannt.

Im Zentrum des Komitologie-Verfahrens stehen Expertenausschüsse, in die jeder Mitgliedstaat einen Vertreter schickt. Dieser Ausschuss prüft den von der Kommission geplanten Durchführungsrechtsakt und kann ihn entweder bestätigen oder ablehnen. Lehnt er ihn ab, kann sich die Kommission an einen Berufungsausschuss wenden, in dem ebenfalls ein Vertreter pro Mitgliedstaat sitzt – allerdings in der Regel keine Fachexperten, sondern Diplomaten mit einer stärker politischen Perspektive. Lehnt auch der Berufungsausschuss den Durchführungsrechtsakt ab, so ist dieser endgültig gescheitert. Im Prinzip besitzt die Kommission für ihre Entscheidungen also immer auch die Unterstützung einer Mehrheit der nationalen Regierungen.

Nationale Regierungen drücken sich vor brisanten Fällen

Allerdings nur im Prinzip. Denn in Wirklichkeit wird in den Komitologie-Ausschüssen nicht mit einfacher Mehrheit abgestimmt, sondern mit der qualifizierten Mehrheit nach Art. 238 AEUV. Um einen geplanten Durchführungsrechtsakt zu bestätigen oder zu verwerfen, sind deshalb immer die Stimmen von mindestens 55% der Ausschussmitglieder nötig, deren Herkunftsländer zusammen mindestens 65% der EU-Bevölkerung umfassen müssen. Ist der Ausschuss so gespalten, dass keine der beiden Seiten auf eine entsprechende Mehrheit kommt, gibt er offiziell „keine Stellungnahme“ ab. In diesem Fall kann die Kommission den geplanten Durchführungsrechtsakt nach eigenem Ermessen erlassen oder verwerfen.

Außerdem können sich die Ausschussmitglieder auch enthalten. In diesem Fall wird ihre Stimme keiner der beiden Seiten zugerechnet, was die Wahrscheinlichkeit eines „Keine Stellungnahme“-Votums erhöht. Und schließlich kommt hinzu, dass das gesamte Verfahren nicht-öffentlich ist. Die Medien haben also in der Regel keine Möglichkeit zu erfahren, wie ein bestimmtes Land im Komitologie-Ausschuss abgestimmt hat.

In politisch brisanten Fällen – etwa dem Glyphosat-Streit oder auch in einem vor kurzem abgeschlossenen Verfahren zur Zulassung bestimmter Genmais-Sorten – neigen die Mitgliedstaaten deshalb dazu, sich durch Enthaltungen vor einer Entscheidung zu drücken und so die Verantwortung vollständig der Europäischen Kommission zuzuschieben. Diese wird dadurch zum öffentlichen Buhmann, während die nationalen Regierungen ihre Hände in scheinbarer Unschuld waschen.

Reformvorschläge der Kommission

Das allerdings will die Kommission nicht länger auf sich sitzen lassen, und so hat sie vor einigen Tagen einen Vorschlag zur Reform des Komitologie-Verfahrens vorgelegt (mehr dazu zum Beispiel hier und hier). Im Einzelnen will sie dabei:

● Enthaltungen bei Abstimmungen im Ausschuss nicht mehr mitzählen lassen, sodass es leichter wird, eine qualifizierte Mehrheit für oder gegen einen geplanten Durchführungsrechtsakt zu erhalten;
● das Abstimmungsverhalten im Berufungsausschuss transparent machen, sodass öffentlich wird, welcher Mitgliedstaat wie abgestimmt hat;
● einen Berufungsausschuss „auf Ministerebene“ einführen, den die Kommission als weitere Instanz anrufen könnte, wenn der Berufungsausschuss zu keiner Stellungnahme kam;
● die Möglichkeit einführen, dass die Kommission eine unverbindliche Stellungnahme des Ministerrats anfordert, wenn der Berufungsausschuss zu keiner Stellungnahme kam.

Die Stoßrichtung des Vorschlags ist klar: Die Kommission will die Regierungen der Mitgliedstaaten stärker in das Komitologie-Verfahren einbinden und zugleich den öffentlichen Druck auf sie erhöhen. Im nächsten Glyphosat- oder Genmais-Konflikt sollen die nationalen Minister gezwungen sein, selbst Position zu beziehen, und dafür gegebenenfalls die Prügel der Öffentlichkeit einstecken. Fälle, in denen die Kommission am Ende allein entscheidet, soll es hingegen möglichst gar nicht mehr geben.

Ein vergiftetes Geschenk

Damit diese Änderungen in Kraft treten, müssen sie allerdings noch vom Europäischen Parlament und vom Ministerrat bestätigt werden, und es wird spannend zu beobachten, ob das passieren wird. Denn einerseits können sich die nationalen Regierungen wohl nicht gut entziehen, wenn die Kommission ihnen mehr Mitspracherechte anbietet. Andererseits aber verstehen sie natürlich auch, dass das ein vergiftetes Geschenk ist, weil sie die Möglichkeit verlieren würden, unangenehme Entscheidungen auf die Kommission abzuwälzen.

Aber einmal davon abgesehen, ob die Komitologie-Reform wirklich kommen wird oder nicht: Gehen die Vorschläge denn in die richtige Richtung?

Ein Versuch, sich der politischen Verantwortung zu entziehen

Auf der einen Seite scheint mir die Absicht der Kommission bei ihrem Reformvorschlag völlig nachvollziehbar. Das „Spiel über Bande“, das die nationalen Regierungen seit vielen Jahren treiben, indem sie unpopuläre Beschlüsse in Brüssel zulassen, ohne vor der nationalen Öffentlichkeit die Verantwortung dafür zu übernehmen, ist natürlich unerträglich heuchlerisch. Das Komitologie-Verfahren soll die Legitimität europäischer Entscheidungen erhöhen, indem die Kommission sich von den Mitgliedstaaten überwachen lässt. Wenn die nationalen Regierungen dieser Aufgabe nicht nachkommen, sollen sie wenigstens keinen politischen Profit daraus ziehen können.

Auf der anderen Seite aber sollte eigentlich auch die Kommission den Mut haben, zu ihren eigenen Entscheidungen zu stehen – denn genau dafür ist sie ja gewählt. Wenn Jean-Claude Juncker sich hinter den Komitologie-Ausschüssen verstecken will, dann läuft das seinem eigenen Leitbild einer „politischen Kommission“ diametral entgegen. Letztlich tut er damit nichts anderes als die nationalen Regierungen auch: Er versucht, sich der politischen Verantwortung für kontroverse Entscheidungen zu entziehen.

Die intergouvernementale Schlagseite der Komitologie

Und noch etwas fällt an den Reformvorschlägen auf, nämlich die völlige Abwesenheit des Europäischen Parlaments. Tatsächlich hatte das Komitologie-Verfahren schon immer eine intergouvernementale Schlagseite: Während europäische Rechtsakte vom Europäischen Parlament und von den nationalen Regierungen im Ministerrat gemeinsam erlassen werden, können nur Letztere auch deren Durchführung durch die Kommission beeinflussen.

Indem die Komitologie-Reform die nationalen Regierungen aufwertet und den Ministerrat sogar direkt in das Verfahren einbindet, würde sie diese Asymmetrie noch verstärken. Die Letztentscheidung über kontroverse Durchführungsakte läge künftig beim Rat (der sie nicht haben will). Das Parlament hingegen, das als einziges EU-Organ direkt gewählt ist und deshalb die größte Legitimität hat, um strittige Fragen zu lösen, bliebe weiterhin außen vor.

Die Kommission muss entscheiden, ob sie „politisch“ sein will

Wie also könnte eine sinnvolle Lösung aussehen? Langfristig wäre es wohl am besten, man würde das Komitologie-Verfahren gänzlich abschaffen und dafür die Kontrolle des Europäischen Parlaments über die Kommission verbessern – zum Beispiel durch die Einführung eines Misstrauensvotums, durch das eine absolute Mehrheit der Europaabgeordneten die Kommission zum Rücktritt zwingen kann. Damit entstünde eine direkte und kontinuierliche Bindung der Kommission an die Parlamentsmehrheit, womit auch ohne Komitologie die demokratische Legitimität ihrer Durchführungsrechtsakte gewährleistet wäre.

Kurzfristig aber muss vor allem die Kommission sich entscheiden, ob sie wirklich „politisch“ sein will. Die vorgeschlagene Reform des Komitologie-Verfahrens weist jedenfalls eher in die entgegengesetzte Richtung – in die Richtung einer ängstlichen Technokratie, die wichtige Fragen lieber den nationalen Regierungen lässt, statt selbst in der Öffentlichkeit die Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen.

Bild: European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

14 Februar 2017

Wer wird Spitzenkandidat zur Europawahl 2019?

Jean-Claude Juncker hat für 2019 seinen Abschied angekündigt. Wer wird ihm nachfolgen?
Bis die nächste Europawahl stattfindet, dauert es noch fast zweieinhalb Jahre – eine sehr lange Zeit in der Politik, umso mehr, wenn eine Krise die nächste jagt. Eine Gewissheit aber gibt es schon jetzt: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) wird 2019 nicht mehr dabei sein. In einem Interview im Deutschlandfunk erklärte er am Sonntag, er werde nicht noch einmal zu einem europäischen Wahlkampf antreten. Die Europäische Volkspartei, für die Juncker 2014 gewählt wurde, wird sich also nicht damit begnügen können, ihn für eine zweite Amtszeit vorzuschlagen, sondern muss für die nächste Europawahl nach einem neuen Kandidaten suchen.

Aus diesem Anlass soll hier heute ein wenig Spekulation erlaubt sein: Mit welchen Spitzenkandidaten könnten die europäischen Parteien 2019 zur Europawahl antreten? (Denn dass es wieder Spitzenkandidaten geben wird, davon können wir – bei allem Grummeln der nationalen Regierungen – wohl ausgehen.)

EVP: Manfred Weber

Die besten Aussichten, auch nach 2019 den Kommissionspräsidenten zu stellen, hat derzeit die Europäische Volkspartei. Auch wenn ihr Vorsprung vor den Sozialdemokraten in den letzten Jahren geschrumpft ist, würden die Christdemokraten nach den jüngsten Umfragen noch immer die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament stellen – und erst recht, wenn Großbritannien bei der nächsten Wahl nicht mehr dabei sein sollte.

Manfred Weber.
Wer aber könnte für sie ins Rennen um die Kommissionspräsidentschaft gehen? Ein plausibler Kandidat wäre ohne Zweifel Manfred Weber (CSU/EVP). Als amtierender Fraktionsvorsitzender der EVP im Europäischen Parlament verfügt er nicht nur über ein europaweites Netzwerk. Bei der umkämpften Wahl des Parlamentspräsidenten vor einigen Wochen zeigte Weber auch sein politisches Geschick, als er durch ein Bündnis mit der liberalen ALDE-Fraktion dem EVP-Kandidaten Antonio Tajani den Sieg sicherte.

Darüber hinaus steht Weber der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) nahe, die 2014 zu den wichtigsten Skeptikern gegenüber dem Spitzenkandidaten-Verfahren zähle. Sollte Merkel 2019 noch im Amt sein und sich dann hinter Weber stellen, könnte ihm das sowohl EVP-intern als auch später im Europäischen Rat einige Wege ebnen. Und schließlich scheint Weber auch an seinem öffentlichen Bild zu arbeiten: Im vergangenen Herbst machte er sich die populäre Idee zu eigen, jungen Menschen europaweit kostenlose Interrail-Tickets zu schenken.

EVP: Jyrki Katainen, Dalia Grybauskaitė, Michel Barnier

Jyrki Katainen.
Manches spricht also dafür, dass Weber gute Chancen hätte, wenn er sich 2019 um den Posten des Spitzenkandidaten bemüht. Aber natürlich dürften daran auch noch andere interessiert sein: Der damalige finnische Ministerpräsident Jyrki Katainen (Kok./EVP) beispielsweise wäre schon 2014 gerne Kommissionschef geworden. Allerdings spekulierte er damals darauf, dass das Spitzenkandidaten-Verfahren am Europäischen Rat scheitern würde, und hielt sich als Kompromisslösung bereit. Als sich Juncker dann doch durchsetzte, blieb Katainen nur das Amt des Kommissions-Vizepräsidenten für Wirtschaft. Aus diesem Fehler könnte er gelernt haben – und 2019 gleich die Spitzenkandidatur anstreben.

Dalia Grybauskaitė.
Um die Skepsis einiger nationaler EVP-Regierungschefs gegenüber dem Spitzenkandidaten-Verfahren zu überwinden, könnte die Partei sich aber auch entscheiden, einen amtierenden nationalen Staats- oder Regierungschef als Spitzenkandidaten ins Rennen zu schicken. Allerdings könnten viele von diesen auch lieber an ihrem nationalen Amt festhalten als sich in einen unsicheren Wahlkampf auf europäischer Ebene zu begeben. Eine Ausnahme bildet die parteilose, der EVP nahestehende litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė: Deren nationale Amtszeit endet genau gleichzeitig mit der Europawahl 2019. Die EVP-Spitzenkandidatur könnte für sie die Krönung der politischen Karriere sein.

Michel Barnier.
In Frage käme schließlich auch Michel Barnier (LR/EVP), der sich bereits 2014 um die EVP-Spitzenkandidatur bewarb, bei einer Kampfabstimmung auf dem Nominierungsparteitag jedoch gegen Juncker verlor. Heute ist Barnier Chefunterhändler der EU-Kommission für die Brexit-Verhandlungen – ein profiliertes Amt, das ihm bei einem erfolgreichen Verlauf der Gespräche neue Sichtbarkeit verschaffen könnte.

SPE: Frans Timmermans

Außer der EVP hat nur eine Partei realistische Chancen, bei der Europawahl 2019 die stärkste Kraft zu werden und den Kommissionspräsidenten zu stellen: die Sozialdemokratische Partei Europas. 2014 hatte diese für die Ernennung ihres Spitzenkandidaten ein komplexes Vorwahl-System entwickelt, das dann aber nicht zum Tragen kam, weil es außer Martin Schulz (SPD/SPE) keinen weiteren Bewerber gab. 2019 könnte das anders sein. Denn in der SPE gibt es inzwischen einen unterschwelligen Richtungs- und Strategiekonflikt, der sich auch auf die Kandidatensuche auswirken könnte.

Frans Timmermans.
Ein naheliegender Bewerber wäre hier Frans Timmermans (PvdA/SPE). Der amtierende Erste Vizepräsident der Kommission machte schon 2014 starken Eindruck, als er bei seiner Anhörung im Europäischen Parlament fließend in fünf verschiedenen Sprachen antwortete. Als Junckers rechte Hand brächte er mehr einschlägige Erfahrung als irgendein anderer Kandidat für das Amt mit. Mit seiner Agenda für eine „bessere Rechtsetzung“ kann Timmermans auch bei gemäßigten Europaskeptikern punkten, die die Bürokratie für das Hauptproblem der EU halten. Und er steht für eine reibungslose Zusammenarbeit mit der EVP im Rahmen der informellen Großen Koalition, durch die der größte Teil der EU-Rechtsakte zustande kommt.

SPE: Gianni Pittella

Gianni Pittella.
Doch genau das könnte für Timmermans auch zum Problem werden, denn die Große Koalition genießt bei den europäischen Sozialdemokraten inzwischen nicht mehr allzu große Beliebtheit. Vielmehr ist die SPE seit Beginn der Eurokrise nach links gerückt und versucht durch Kritik an der Sparpolitik der EVP ihren Ruf als Partei der sozialen Gerechtigkeit zurückzugewinnen. Der wichtigste Wortführer dieser Polarisierungsstrategie ist der derzeitige Fraktionschef Gianni Pittella (PD/SPE), der im Dezember durch die öffentliche Aufkündigung der Großen Koalition auf sich aufmerksam machte. Falls es Pittella gelingt, diese Strategie bis zur Europawahl durchzuhalten, könnte er sich damit als möglicher Spitzenkandidat profilieren.

Aber natürlich sind auch für die SPE zweieinhalb Jahre eine lange Zeit, und es wird sich zeigen, wie sich der latente Richtungsstreit bis dahin weiterentwickelt. Zudem finden bis dahin auch noch einige nationale Wahlen statt, die das europäische Personaltableau beeinflussen könnten. Vor allem in Frankreich und Italien steht für die Sozialdemokraten viel auf dem Spiel, und es ist nicht auszuschließen, dass auch der ein oder andere amtierende oder ehemalige nationale Regierungschef sich bis 2019 noch der Europapolitik zuwendet.

ALDE: Guy Verhofstadt

Für die liberale ALDE ist die Ernennung eines Spitzenkandidaten eher eine symbolische Frage: Trotz der Zuwächse in ihren Umfragewerten in den letzten Jahren ist es kaum wahrscheinlich, dass ihr Kandidat tatsächlich eine Chance auf das Amt des Kommissionspräsidenten hat. Dennoch gab es vor der Europawahl 2014 ein veritables parteiinternes Tauziehen um den Posten. Dahinter steckte auch hier letztlich ein parteiinterner Richtungskonflikt: Während ein Teil der Liberalen sich als Speerspitze für eine Demokratisierung und Föderalisierung der EU versteht, betont ein anderer Teil die Idee der „nationalen Eigenverantwortung“ und stemmt sich gegen allzu viel transnationale Solidarität.

Guy Verhofstadt.
2014 wurden diese beiden parteiinternen Lager durch den Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) und den damaligen Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ALDE) repräsentiert, wobei sich Verhofstadt letztlich durchsetzte. Dank leidenschaftlicher Wortwechsel etwa mit dem britischen Europaskeptiker Nigel Farage (UKIP/ADDE) oder dem griechischen Regierungschef Alexis Tsipras (Syriza/EL) wurde der liberale Fraktionsvorsitzende inzwischen zu einem der bekanntesten Politiker im Europäischen Parlament. Es ist deshalb durchaus wahrscheinlich, dass er auch 2019 noch einmal die Spitzenkandidatur anstreben wird.

ALDE: Sylvie Goulard, Margrethe Vestager, Andrus Ansip

Mit seiner exponierten Rolle hat sich Verhofstadt (der neben seinem Amt als Fraktionschef auch Berichterstatter für die Vorschläge des Parlaments zur EU-Vertragsreform sowie Beauftragter für die Brexit-Verhandlungen ist) allerdings nicht nur Freunde gemacht. Insbesondere sein Versuch, das nationalpopulistische Movimento Cinque Stelle (M5S/–) zum Übertritt in die ALDE-Fraktion zu bewegen, wurde zu einem persönlichen Debakel.

Sylvie Goulard.
Es könnte deshalb sein, dass Verhofstadt sogar innerhalb des föderalistischen Lagers Konkurrenz erwächst – etwa durch die Europaabgeordnete Sylvie Goulard. Deren nationale Partei, das französische MoDem, gehört zwar nicht der ALDE, sondern der Europäischen Demokratischen Partei an; doch ALDE und EDP bilden im Europäischen Parlament eine Fraktionsgemeinschaft, und die Unterstützung der EDP für Verhofstadt war 2014 mitentscheidend für dessen Sieg gegen Rehn. Ein wichtiger Faktor für Goulard könnte zudem ihre Nähe zu Emmanuel Macron werden, dem derzeitigen Überraschungsfavoriten für die französische Präsidentschaftswahl im Juni.

Margrethe Vestager.
Aber auch im nicht-föderalistischen Teil der ALDE dürfte wieder der ein oder andere Bewerber auf die Spitzenkandidaten-Position blicken. Ein Interesse wird etwa der linksliberalen Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (RV/ALDE) nachgesagt, die in den letzten Jahren unter anderem durch ihr hartes Vorgehen gegen Großkonzerne wie Google, Gazprom oder Daimler einige Popularität gewonnen hat. Auch Andrus Ansip (RE/ALDE), früherer estnischer Premierminister und heute Vizepräsident der Kommission mit Zuständigkeit für den digitalen Binnenmarkt, ist in einer guten Ausgangsposition, falls er eine Kandidatur anstrebt.

EGP: Ska Keller, Philippe Lamberts, Ulrike Lunacek

Ska Keller.
Die Europäische Grüne Partei hatte 2014 von allen Parteien das aufwendigste Verfahren zur Wahl ihrer Spitzenkandidaten. In einer europaweiten Online-Vorwahl setzten sich Ska Keller (Grüne/EGP) und José Bové (EELV/EGP) gegen zwei weitere Bewerberinnen durch. Gleichzeitig waren die Grünen aber auch die Partei, die später am rücksichtslosesten mit ihren Spitzenkandidaten umging: Nach der Wahl erhielten zunächst weder Keller noch Bové ein bedeutendes Amt in der Fraktion. Erst vor wenigen Wochen – zur Halbzeit der Wahlperiode – wurde Keller doch noch Fraktionsvorsitzende und teilt sich dieses Amt nun mit Philippe Lamberts (Ecolo/EGP).

Ulrike Lunacek.
Ska Keller und Philippe Lamberts sind deshalb auch naheliegende Anwärter für die nächste grüne Spitzenkandidatur, mit der sie ihre Position an der Spitze der Fraktion weiter festigen könnten. Aber noch eine weitere Bewerberin steht bereits fest: Ulrike Lunacek (Grüne/EGP), derzeit Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, ist bislang die Einzige, die explizit erklärt hat, dass sie 2019 Spitzenkandidatin werden will, offiziell mit dem Ziel, nach der Europawahl Parlamentspräsidentin zu werden. Mit ihrer frühen Kandidatur-Erklärung erhöht Lunacek auch den Druck auf ihre eigene nationale Partei, die österreichischen Grünen: Die hatten sich 2014 noch der Teilnahme an der Online-Vorwahl verweigert.

EL: Jean-Luc Mélenchon, Pablo Iglesias, Gregor Gysi

Pablo Iglesias.
Und die Europäische Linke? Die ging 2014 mit Alexis Tsipras (Syriza/EL) als Spitzenmann in den Europawahlkampf. Allerdings kandidierte Tsipras überhaupt nicht für das Europäische Parlament und machte schon vor der Wahl keinen Hehl daraus, dass seine eigentliche Ambition auf nationaler Ebene lag – ein halbes Jahr später wurde er zum griechischen Ministerpräsidenten gewählt. Seine Rolle als europäischer Spitzenkandidat beschränkte sich darauf, als prominente Symbolfigur Aufmerksamkeit für die linken Positionen zu erzeugen.

Sollte die EL 2019 eine ähnliche Strategie verfolgen, könnten andere grenzüberschreitend bekannte Linke zum Zuge kommen: etwa der Franzose Jean-Luc Mélenchon (PG/EL) oder der Spanier Pablo Iglesias, dessen nationale Partei Podemos allerdings kein Mitglied der Europäischen Linken ist. Ein denkbarer Kandidat wäre schließlich auch Gregor Gysi (Linke/EL), der Ende 2016 Parteichef der Europäischen Linken wurde. Allerdings wird Gysi 2019 bereits 71 Jahre alt sein.

Die Senne, die durch Brüssel fließt, ist nur ein kleines Flüsschen – und trotzdem wird bis zur Europawahl 2019 noch einiges Wasser in ihr herunterfließen. Wie viele von den hier genannten Politikern dann tatsächlich an der Spitze ihrer Parteien stehen, wird die Zeit zeigen. Auf jeden Fall aber lohnt es sich, sie im Auge zu behalten. Denn die Dynamiken, die die Personalauswahl der europäischen Parteien bestimmen, prägen letztlich auch die europäische Politik.

Bilder: European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Juncker); European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Weber); European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr (Katainen); Tomas Piliponis [CC BY 2.0], via Flickr (Grybauskaitė); European Patent Office [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Barnier); European Union 2015 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Timmermans); European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Pittella); European Union 2012 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Verhofstadt); European Union 2016 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Goulard); Kim Vadskaer [CC BY-NC 2.0], via Flickr (Vestager); www.stephan-roehl.de [CC BY-SA 2.0], via Flickr (Keller); Franz Johann Morgenbesser [CC BY-SA 2.0], via Flickr (Lunacek); GUE/NGL [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr (Iglesias).

04 Februar 2017

Scheiternder Dialog der Gerichte: Wie die europäische Rechtsgemeinschaft zu erodieren droht

Auch vor Gericht wehen die Winde des Nationalsouveränismus jüngst wieder heftiger.
Spekulationen, wie die Europäische Union zugrunde gehen könnte, haben seit einigen Jahren Konjunktur. Die meisten dieser Szenarien schließen irgendeine Art von großem Knall ein: den Staatsbankrott eines großen Eurolandes zum Beispiel, oder einen Austritt Frankreichs nach einem Wahlsieg von Marine Le Pen (FN/BENF). Die gute Nachricht ist, dass all diese Szenarien derzeit eher unwahrscheinlich sind. Die schlechte: Das Ende der EU könnte auch anders kommen – weniger spektakulär, als langsamer Verfall. Und eine solche schleichende Desintegration ist in den letzten Wochen etwas wahrscheinlicher geworden. Eine Reihe von Urteilen verschiedener nationaler Verfassungsgerichte stellt die Zukunft der EU als Rechtsgemeinschaft in Frage.

Verfassungspluralismus

Die Rechtsordnung der Europäischen Union ist seit vielen Jahren von einem Zustand geprägt, für den sich in der Rechtswissenschaft der Begriff „Verfassungspluralismus“ etabliert hat. Gemeint ist damit (etwas vereinfacht gesagt), dass der EU-Vertrag und die nationalen Verfassungen nebeneinander existieren, ohne dass es zwischen ihnen eine klare Hierarchie gäbe. Auf Ebene der einzelnen Staaten gilt jeweils die nationale Verfassung als das oberste existierende Recht und das nationale Verfassungsgericht, das über seine Einhaltung wacht, als die höchste Rechtsinstanz, deren Urteil nicht weiter angefochten werden kann.

Gleichzeitig kann jedoch die Europäische Union nur funktionieren, wenn das gemeinsam beschlossene Europarecht auch wirklich in jedem Staat auf die gleiche Weise angewandt wird. Schon 1964 erklärte deshalb der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner Costa/ENEL-Entscheidung, dass das Europarecht einen Anwendungsvorrang vor nationalen Rechtsnormen haben müsse, „wenn nicht die Rechtsgrundlage der [Europäischen] Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll“. Dieser Vorrang des Europarechts ist heute allgemein anerkannt und betrifft auch die nationalen Verfassungen – sonst müsste ein Mitgliedstaat, der eine bestimmte europarechtliche Regelung unterlaufen will, das nur in seine nationale Verfassung schreiben, um die EU völlig hilflos zu machen.

Die Vorbehalte des Bundesverfassungsgerichts

So ganz wollten sich die nationalen Verfassungsgerichte damit jedoch nicht zufrieden geben. Vor allem das deutsche Bundesverfassungsgericht arbeitete sich deshalb über Jahrzehnte hinweg immer wieder an der Frage ab, ob es nicht doch einen Punkt gibt, an dem das nationale Verfassungsrecht die Oberhand behält. (Prominente Entscheidungen waren dabei Solange 1 von 1974, Solange 2 von 1986, das Maastricht-Urteil von 1993, das Lissabon-Urteil von 2009, Honeywell von 2010 und Solange 3 von 2015.)

Die Karlsruher Richter argumentieren dabei zweigleisig. Zum einen erkennen sie zwar grundsätzlich den Vorrang des Europarechts an, doch dieser Vorrang gilt ihnen zufolge nur, insoweit das deutsche Grundgesetz selbst ihn über Art. 23 GG zulässt. Davon ausgenommen ist demnach jener Kern der deutschen „Verfassungsidentität“, der durch die sogenannte Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ist. Das sind zum Beispiel die Menschenwürde, das Demokratie- oder das Rechtsstaatsprinzip, also Dinge, die sich eigentlich auch die EU auf die Fahnen geschrieben hat. Der Clou ist jedoch, dass die Auslegung von Art. 23 und 79 GG in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts selbst fällt – weshalb die Karlsruher Richter sich auf dieser Grundlage herausnehmen, im Rahmen einer „Identitätskontrolle“ selbst zu entscheiden, ob ein europäischer Rechtsakt in Deutschland anwendbar ist oder nicht. (Und wer Karlsruhe kennt, der weiß, dass seine Interpretation von Art. 79 Abs. 3 GG bisweilen durchaus eigenwillig sein kann.)

Das zweite Argument des Bundesverfassungsgerichts ist noch direkter: Die EU darf grundsätzlich nur in Bereichen tätig werden, für die sie eine explizite Ermächtigung im EU-Vertrag hat. Wenn EU-Institutionen ihre Kompetenzen überschreiten, dann handeln sie rechtswidrig. Das festzustellen, ist grundsätzlich Sache des EuGH. Was aber, wenn sich der EuGH selbst nicht an die Vorgaben im EU-Vertrag hält? In diesem Fall, so die Karlsruher, handelt auch der EuGH jenseits seiner Kompetenzen (Juristenlatein: ultra vires), sodass seine Urteile nicht anwendbar sind. Und das Recht zu entscheiden, ob dieser Punkt erreicht ist, sieht das Bundesverfassungsgericht natürlich wiederum bei niemand anderem als sich selbst.

Ein unlösbarer Konflikt über das Letztentscheidungsrecht

Das machtbewusste Bundesverfassungsgericht war der wichtigste Vordenker für diese Einschränkungen des Europarechts-Vorrangs. Andere nationale Verfassungsgerichte griffen die Ideen jedoch gerne auf, um sich in ihrem jeweiligen Land das letzte Wort zu sichern. Aus der Perspektive des Europäischen Gerichtshof gilt hingegen weiterhin, dass das Europarecht nur dann Sinn ergibt, wenn es in allen Mitgliedstaaten einheitlich angewandt wird – und dass nach Art. 267 AEUV niemand anderes als der EuGH selbst die Aufgabe hat, letztinstanzlich über dessen richtige Auslegung zu entscheiden.

Sowohl der EuGH als auch die nationalen Verfassungsgerichte erheben also Anspruch auf ein Letztentscheidungsrecht, und da diese Ansprüche logisch jeweils in sich abgeschlossen sind, gibt es keine rechtlich „richtige“ Art, um den latenten Konflikt zwischen ihnen zu entscheiden. In der Praxis versucht man das Problem bislang schlicht dadurch zu lösen, dass die verschiedenen höchsten Gerichte miteinander sprechen und aufeinander Rücksicht nehmen. Der EuGH fällt seine Urteile so, dass möglichst kein Mitgliedstaat sich dadurch in seiner Verfassungsidentität angegriffen fühlt. Und die nationalen Gerichte versuchen ihren eigenen Verfassungstext so auszulegen, dass das Europarecht damit in Einklang steht.

Bellen, aber nicht beißen?

Vor allem das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich mit seiner Europarechtsprechung im Lauf der Zeit den Ruf eines bellenden, aber niemals zubeißenden Hundes erworben. Mit der Identitäts- und der Ultra-vires-Kontrolle entwickelte es zwar die Waffen, um notfalls einen Frontalangriff auf auf den EuGH zu starten. Doch wann immer es diese Waffen in einer konkreten Rechtssache hätte anwenden können, verzichtete es darauf wohlweislich – in dem Bewusstsein, dass ein „Krieg der Richter“, wie er in Medien immer wieder beschworen wurde, die heutige europäische Rechtsordnung zerstören könnte und für alle Beteiligten fatale Folgen hätte.

In der rechtswissenschaftlichen Literatur genießt diese dialogische Art, mit dem Verfassungspluralismus umzugehen, einige Sympathien. Die Rede ist dann beispielsweise von einem hierarchiefreien „Kooperationsverhältnis“ zwischen EuGH und nationalen Verfassungsgerichten, oder auch von einem „Verfassungsgerichtsverbund“, der gemeinschaftlich für die Pflege der europäischen Rechtsordnung verantwortlich ist.

Das EZB-Verfahren

Doch anders als man hoffen könnte, ist das Verhältnis zwischen den höchsten Gerichten durch den ständigen Dialog in den letzten Jahren nicht unbedingt besser geworden. Im Gegenteil: Die Situationen, in denen es zwischen EuGH und nationalen Verfassungsgerichten knirscht, scheinen eher zuzunehmen.

Ein spektakulärer Fall war etwa das deutsche EZB-Verfahren vor drei Jahren, in dem es um die Ankündigung der Europäischen Zentralbank ging, bei einer Verschärfung der Eurokrise in großem Stil Staatsanleihen der Krisenstaaten anzukaufen. Das Bundesverfassungsgericht legte diesen Fall dem EuGH zur Entscheidung vor. Gleichzeitig versuchte es aber, ihn fernzusteuern, indem es der Vorlage eine sehr detaillierte eigene Interpretation beifügte, warum die Entscheidung der EZB rechtswidrig sei. Und es gab recht unumwunden zu verstehen, dass es eine davon abweichende Auslegung durch den EuGH als ultra vires ansehen könnte.

Der EuGH ließ sich dadurch jedoch nicht beeindrucken: Im Sommer 2015 präsentierte er seine eigene Antwort, die auch im Ergebnis von der des Bundesverfassungsgerichts abwich. Daraufhin knickten die Karlsruher Richter ein, wenn auch mit deutlich hörbarem Grummeln. In ihrer finalen Entscheidung sprachen sie im Juni 2016 zwar noch einmal wortreich von der Bedeutung von Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle. Dann aber erklärten sie (Rn. 176), die „Auffassung“ des EuGH in dem betreffenden Fall bewege sich „noch innerhalb des dem Gerichtshof erteilten Mandates“. Ende gut, alles gut – fürs Erste.

Taricco und Ajos

Dass das Bundesverfassungsgericht im EZB-Verfahren letztlich zurücksteckte, hatte womöglich auch mit der großen öffentlichen Aufmerksamkeit für den Fall zu tun. Hätte das wichtigste nationale Gericht des größten EU-Mitgliedstaats in einem solch wichtigen Fall den offenen Konflikt mit dem EuGH gesucht, wäre ein großer Krach wohl unausweichlich gewesen. Doch ganz folgenlos blieb die scharfe Rhetorik der Karlsruher Richter trotzdem nicht. Denn andere nationale Verfassungsgerichte – aus kleineren Ländern und in kleineren Fällen – hatten in letzter Zeit weniger Beißhemmungen.

Einer dieser Fälle ist die Taricco-Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts (mehr dazu hier und hier). Konkret geht es darin um bestimmte Verjährungsfristen im italienischen Strafrecht, die so kurz sind, dass zahlreiche Strafen ungeahndet blieben. Der EuGH hatte dies unter Bezug auf Art. 325 AEUV für europarechtswidrig erklärt und Italien deshalb gezwungen, einen eigentlich verjährten Fall wieder zu öffnen. Das italienische Verfassungsgericht sah darin jedoch einen Verstoß gegen das Verbot einer rückwirkenden Bestrafung, das zum Rechtsstaatsprinzip und damit zum Identitätskern der italienischen Verfassung gehöre – und legte dem EuGH den Fall deshalb kurzerhand noch einmal vor, mit der impliziten Aufforderung, seine vorherige Entscheidung zu revidieren oder sich auf einen größeren Konflikt einzustellen.

Noch weiter ging der Oberste Gerichtshof von Dänemark vor einigen Wochen im Fall Ajos. Hier hatte der EuGH ein dänisches Gesetz für nicht anwendbar erklärt, da es gegen das europäische Verbot einer Altersdiskriminierung verstoße. Das dänische Gericht hielt dagegen, dass dieses europäische Diskriminierungsverbot lediglich von den EuGH-Richtern erfunden worden sei und keine konkrete Grundlage im EU-Vertrag habe. Die EuGH-Entscheidung sei deshalb nicht vom dänischen Verfassungsrecht gedeckt – und das dänische Gesetz, das der EuGH für europarechtswidrig erklärt hatte, müsse dennoch weiterhin angewendet werden.

Verheerende Präzedenzfälle

Beide Fälle, Taricco und Ajos, sind für sich selbst genommen eher klein: Betroffen ist darin nur ein überschaubarer Personenkreis, nicht gleich (wie im EZB-Verfahren) der Fortbestand der ganzen Eurozone. Der große Knall dürfte deshalb erst einmal ausbleiben. Doch gerade das könnte diese Entwicklung auch gefährlich machen. Denn die nationalen Verfassungsgerichte tragen damit zu einer allmählichen Erosion der europäischen Rechtsgemeinschaft bei – und schaffen Präzedenzfälle, die in künftigen, wichtigeren Verfahren verheerende Folgen haben könnten.

Denn man muss sich nur vor Augen halten, dass es das nächste Mal nicht mehr um Dänemark und Italien gehen könnte, sondern um Polen und Ungarn: um Länder also, in denen die nationalen Regierungen in den letzten Jahren einiges daran gesetzt haben, um sich die nationalen Verfassungsgerichte gefügig zu machen. Die Möglichkeit, sich künftig durch den Verweis auf diesen oder jenen „Kernbestandteil der nationalen Verfassungsidentität“ vor der Einhaltung von Europarecht drücken zu können, dürfte für die Viktor Orbáns und Jarosław Kaczyńskis des Kontinents durchaus eine willkommene Perspektive sein.

Eine Schönwetter-Konstruktion

Was aber lässt sich dagegen tun? Für die Freunde des Verfassungspluralismus gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit: noch mehr miteinander zu reden. Der Madrider Europarechtsprofessor Daniel Sarmiento etwa forderte zuletzt auf seinem Blog, der EuGH müsse künftig etwas mehr „Empathie“ zeigen, um durch „bedachte und wohlüberlegte Urteile“ die nationalen Gerichte besser zu „überzeugen“.

Vielleicht aber müssen wir uns auch zugestehen, dass dieses Modell einfach nicht dauerhaft funktionieren kann. Es stimmt schon, die Idee eines offenen Verbunds, in dem eine Gruppe verantwortungsvoller Gerichte partnerschaftlich und ohne Hierarchien einen gemeinsamen europäischen Verfassungsdiskurs entwickelt, hat etwas Sympathisches an sich. Aber letztlich ist sie auch eine Schönwetter-Konstruktion, die wenig Schutz bietet, wenn die Winde des Zeitgeists wieder in Richtung Nationalsouveränismus wehen.

Wir sollten dem EuGH Vertrauen schenken

Die Vorbehalte des deutschen Bundesverfassungsgerichts mögen in den 1970er Jahren sinnvoll gewesen sein, solange es noch keinen wirksamen europäischen Grundrechteschutz gab. Heute dienen sie immer mehr allein dem eigenen institutionellen Machterhalt und bedrohen den Zusammenhalt in der EU.

Sobald wir europäischen Bürger das nächste Mal die Gelegenheit haben, durch einen Konvent die europäische Verfassungsordnung zu gestalten, sollten wir deshalb für Klarheit sorgen: Europarecht bricht nationales Recht, ohne Wenn und Aber. Wenn die europäische Rechtsgemeinschaft eine Zukunft haben soll, dann können wir sie nicht mit 28 nationalen Vorbehalten versehen. Zum Schutz der Werte, die uns wichtig sind – Menschenwürde, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit –, ist der EuGH kein bisschen schlechter geeignet als die nationalen Verfassungsgerichte. Wir sollten ihm deshalb als letztentscheidender Instanz unser Vertrauen schenken.

Bild: Kai Freundlich [CC BY-ND 2.0], via Flickr.