In
schweren Zeiten muss man zusammenstehen, und selten sind die Zeiten
für Freunde der europäischen Integration schwerer gewesen als
jetzt. Die Forderung nach Einigkeit der pro-europäischen Parteien
gehörte deshalb in den letzten Jahren zu den Grundmotiven der
europapolitischen Rhetorik: Vorgebracht wurde sie (um nur eine bunte
Auswahl zu nennen) zum Beispiel von dem Vorsitzenden
der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz Martin Naef (SP/SPE),
von dem Europaabgeordneten
Sven Giegold (Grüne/EGP), von dem Generalsekretär
der Europäischen Bewegung International Petros Fassoulas, von
der liberalen
ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament, von dem
sozialdemokratischen
Fraktionschef Gianni Pittella (PD/SPE), von dessen
christdemokratischen
Amtskollegen Manfred Weber (CSU/EVP) und natürlich von dem
Präsidenten
des Europäischen Rates Donald Tusk (PO/EVP).
Der Grundgedanke ist dabei immer derselbe: Wenn Nationalpopulisten die Errungenschaften der europäischen Integration zu zerstören versuchen, dann muss man ihnen geschlossen entgegentreten.
Der Grundgedanke ist dabei immer derselbe: Wenn Nationalpopulisten die Errungenschaften der europäischen Integration zu zerstören versuchen, dann muss man ihnen geschlossen entgegentreten.
Nicht immer die beste Strategie
Doch
Einigkeit muss nicht immer die beste Strategie sein. Denn zum einen
wird dadurch die Botschaft verwässert, wie zum Beispiel die
Europablogger Jon
Worth und Fabien
Cazenave im vergangenen Jahr aus unterschiedlichen Anlässen
kritisierten. Da es so viele politische Akteure gibt, die sich selbst
als „pro-europäisch“ bezeichnen, führt die Suche nach einer
gemeinsamen Linie oft nur zu einer vagen Ansammlung an Gemeinplätzen,
die niemanden überzeugt – geschweige denn begeistert. Auch die
Europa-Union, der wichtigste pro-europäische Verband in Deutschland,
kann
davon ein Liedchen singen.
Und
zum anderen spielt die Einheit der Pro-Europäer auch der Strategie der Rechtspopulisten in die Hände, sich selbst als die „einzige
Alternative“ zu einer ansonsten als alternativlos geltenden Politik zu präsentieren. In Kreisen der deutschen AfD (BENF-nah) spricht man
beispielsweise gern von einer „schwarz-rot-grünen
Einheitspartei“, die Deutschland regiere. Sollten Pro-Europäer
diesem Argumentationsmuster noch weiter Vorschub leisten, indem sie
öffentlich ihre Einigkeit inszenieren?
Offenbar
gilt der Satz vom Zusammenhalten in schweren Zeiten also nicht immer
und nicht ohne Bedingungen. Aber in welcher Situation ist es für
Pro-Europäer sinnvoll, eine gemeinsame Linie zu suchen, und wann
sollten sie ihre interne Vielfalt zeigen? Dazu drei Strategien.
Erstens:
Verteidigung
Ein
naheliegender Grund, weshalb Pro-Europäer zusammenhalten sollten,
ist, Europagegner von der Macht fernzuhalten. Diese Defensivstrategie
basiert auf der Überlegung, dass sich die Nationalpopulisten zwar in
vielen Ländern im Aufschwung befinden, bis jetzt aber nur wenig
politische Schlüsselpositionen besetzen. Und natürlich ist es
schlimm genug, wenn rechte Parteien in der Öffentlichkeit immer mehr
Präsenz gewinnen. Aber immerhin können sie auf der Straße weniger
Schaden anrichten als im Parlament – und in der Opposition weniger
als an der Regierung.
Entsprechend
galt etwa bei Wahlen in Frankreich bisher das Prinzip der
„republikanischen Front“: Wenn in irgendeinem Wahlkreis ein
Kandidat des rechtsextremen Front National (FN/BENF) in die zweite Runde
gelangte, stützten
Konservative und Sozialisten gemeinsam dessen Gegenkandidaten und
hielten den FN damit lange Zeit erfolgreich von wichtigen politischen
Ämtern fern. Allerdings stellt ein Teil der Konservativen diese
Strategie inzwischen in Frage und setzt stattdessen darauf, bei
Stichwahlduellen zwischen Sozialisten und Rechtsextremen keine
der beiden Seiten zu unterstützen. Ob das Verteidigungsbündnis
der Mitte-Parteien hält oder nicht, könnte für die Sitzzahl des FN
bei der französischen Parlamentswahl im kommenden Juni von
gravierender Bedeutung sein.
Rechte von der Regierung fernhalten
Auf
eine andere Art wirkte eine solche Verteidigungsstrategie 2014 im
Europäischen Parlament. Nachdem rechte Parteien bei der letzten
Europawahl deutlich dazugewonnen hatten, taten sich die
Mitte-Fraktionen EVP, S&D und ALDE zusammen, um die
nationalpopulistischen Abgeordneten von
wichtigen Posten in den Parlamentsausschüssen fernzuhalten.
Diese Strategie war damals nicht unumstritten, da sie mit dem
ungeschriebenen Grundsatz brach, dass diese Posten stets proportional
unter allen Fraktionen aufgeteilt werden. Letztlich war sie aber
erfolgreich: Bis heute stellen die Rechtsfraktionen ENF und EFDD
keinen
einzigen Ausschussvorsitzenden im Parlament.
Und
auch auf nationaler und regionaler Ebene finden sich zahlreiche
Beispiele, wie durch den Zusammenhalt pro-europäischen Parteien
Nationalpopulisten von Machtpositionen ferngehalten wurden: Nach der
Landtagswahl
in Sachsen-Anhalt 2016 etwa konnte nur eine breite
lagerübergreifende Koalition aus CDU (EVP), SPD (SPE) und Grünen
(EGP) eine Regierungsbeteiligung der AfD verhindern. Auch in
Österreich könnte nach der Nationalratswahl
2018 eine ähnliche Konstellation eintreten. Und in den
Niederlanden könnte nach der Parlamentswahl
in zwei Wochen sogar eine Vier- oder Fünf-Parteien-Koalition
nötig werden, um Geert Wildersʼ PVV (BENF) bei der Regierungsbildung zu
umgehen.
Kein langfristiger Ansatz
Das
Problem mit der Defensivstrategie ist allerdings, dass sie keinen
langfristigen Ansatz bietet, um den Aufstieg des Nationalpopulismus
zu bremsen. Im Gegenteil: Bekanntlich geht die Regierungsteilnahme
von Parteien auf die Dauer oft mit sinkenden Zustimmungswerten
einher. Wenn die Koalitionen nun immer größer werden und alle
pro-europäischen Parteien mit einbeziehen, fällt es den
Nationalpopulisten immer leichter, sich in der Opposition zu
profilieren – bis im schlimmsten Fall die pro-europäische
politische Mitte vollends zerrieben ist.
Anhänger
der Defensivstrategie bauen deshalb meistens darauf, dass der
nationalpopulistische Spuk irgendwann von selbst verschwinden wird:
etwa durch einen Wirtschaftsaufschwung, der die Eurokrise beendet,
oder durch einen Friedensschluss in Syrien, der die Flüchtlingsfrage
löst. Diese Hoffnung aber könnte ein frommer Wunsch bleiben, und
darum lohnt es sich, noch andere Strategien in den Blick zu nehmen.
Zweitens:
Spielverlagerung
Nationalpopulistische
Parteien verdanken ihren Aufschwung zum einem guten Teil dem Umstand,
dass sie von unzufriedenen Wählern als
die einzige „echte Alternative“ wahrgenommen werden. Eine
sinnvolle Gegenstrategie kann es deshalb sein, traditionelle
Konflikte zwischen der linken und rechten Mitte wiederzubeleben, um
so zu zeigen, dass es auch innerhalb des pro-europäischen Lagers
reale politische Alternativen gibt. Gleichzeitig lässt sich die
politische Debatte dadurch auf Bereiche lenken, in denen die
Populisten selbst keine klare Linie haben und nicht glaubwürdig
wirken – in
Deutschland etwa die Steuer- und Sozialpolitik.
Diese
Strategie der Spielverlagerung setzt voraus, dass die Pro-Europäer
eben keine Einheit demonstrieren, sondern unterschiedliche
programmatische Angebote entwickeln. Auf europäischer Ebene wurde
sie in letzter Zeit vor allem von den Sozialdemokraten vorangetrieben, deren
Fraktionschef Gianni Pittella eine „gesunde
Polarisierung zwischen Rechts und Links“ als
das beste Mittel beschrieben hat, um das Europäische Parlament zu beleben
und europaskeptische Parteien zu bremsen. Und auch in Deutschland
sprachen sich in den letzten Monaten prominente Politiker sowohl der
SPD als auch der
CDU ausdrücklich gegen eine Fortsetzung der Großen Koalition
nach der kommenden Bundestagswahl aus.
Fehlende Mehrheiten
Auch
die Spielverlagerungsstrategie hat jedoch ihre Tücken. Das erste
Problem stellt sich, wenn die Populisten – wie das in vielen
Ländern der Fall ist – bereits so stark sind, dass es für reine
Mitte-Rechts- oder Mitte-Links-Bündnisse gar keine Mehrheiten mehr
gibt.
Eine
mögliche Lösung für dieses Problem bot in Schweden das
sogenannte Dezemberabkommen von 2014. Um die
rechtspopulistischen Sverigedemokraterna (SD/ADDE) machtpolitisch
auszuschalten und dennoch die Polarität zwischen dem regierenden
Mitte-Links- und dem oppositionellen Mitte-Rechts-Lager zu erhalten, einigten sich alle Mitte-Parteien, dass für die nächsten
zwei Wahlperioden jeweils der Kandidat mit den meisten Stimmen im
Parlament Regierungschef werden sollte, auch wenn wegen der SD keines
der Lager eine absolute Mehrheit erreichen würde.
Ob
dieser Plan – eine Art Kombination aus Defensiv- und
Spielverlagerungsstrategie – aufgegangen wäre, lässt sich
allerdings nicht sagen: Bereits nach weniger als einem Jahr kündigte
das Mitte-Rechts-Lager das Dezemberabkommen wieder auf und nähert
sich seitdem vorsichtig einem Bündnis mit den Sverigedemokraterna
an.
Polarisierung läuft ins Leere
Ein
zweites Problem der Spielverlagerungsstrategie ist zudem, dass in
vielen wichtigen Bereichen relevante politische Entscheidungen nur
noch auf europäischer Ebene möglich sind – und dass die
Mehrheitserfordernisse in der EU noch höher sind als im nationalen
Rahmen. Gerade in der Steuer- und Sozialpolitik können europäische
Beschlüsse nur mit Einstimmigkeit im Ministerrat getroffen werden.
Eine Polarisierung zwischen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien
kann unter solchen Umständen nur ins Leere laufen.
Die
Spielverlagerung kann von den Wählern deshalb leicht als ein
Scheinmanöver verstanden werden: Wenn die Parteien der linken und
rechten Mitte zwar vor der Wahl unterschiedliche Versprechen machen,
nach der Wahl aber doch wieder zu einer gemeinsamen großkoalitionären
Linie gezwungen sind, dann schadet das letztlich ihrer
Glaubwürdigkeit – und nutzt so wiederum den Nationalpopulisten.
Drittens:
Offensive
Wenn
man den Nationalpopulisten erfolgreich entgegentreten will, dann ist
es also notwendig, die Konsenszwänge in der Europäischen Union zu
überwinden und eine
glaubwürdige Alternanz zwischen Mitte-Links- und
Mitte-Rechts-Parteien zu ermöglichen. Das wäre die dritte, die
offensive Strategie: die Funktionsweise des politischen Systems
selbst zu verändern und dadurch die Grundlagen für eine neue,
demokratischere Europapolitik zu schaffen, die das Protestpotenzial
verringert, von dem die Nationalpopulisten sich nähren. Das aber
geht nur mit einer Reform des EU-Vertrags. Und die wiederum ist nur
möglich, wenn sich die pro-europäischen Parteien darüber einig
sind.
Sollen
Pro-Europäer in schweren Zeiten zusammenstehen? Wenn sie es nur aus
Verlegenheit tun, weil sie sich in der Krise nicht anders an der
Macht halten können, werden sie auf die Dauer nicht erfolgreich
sein. Wenn sie sich jedoch zusammenraufen, um die EU zu reformieren
und die Grundlage für künftige demokratische Kontroversen zu legen
– dann könnte die viel beschworene Einigkeit am Ende tatsächlich
von dauerhaften Nutzen sein. Entsprechende Vorschläge hat
das Europäische Parlament vor kurzem vorgelegt. Wir werden
sehen, was die nationalen Regierungen daraus machen.
Bild: © European Union 2014 - European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.