28 Oktober 2012

Ein größeres Budget für die Europäische Union? Zu den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen

Haushaltskommissar Janusz Lewandowski will, dass der EU 2014-2020 deutlich mehr Geld zur Verfügung steht. Vorläufig wäre es schon erfreulich, wenn sie wenigstens 2012 all ihre Programme finanzieren könnte.
Die Haushaltspolitik zählt in allen demokratischen Staaten zu den am meisten diskutierten politischen Themen überhaupt. In den halb-parlamentarischen Systemen des 19. Jahrhunderts war das Budgetrecht häufig der wichtigste Hebelpunkt der gewählten Abgeordneten gegen die monarchische Exekutive; und bis heute ist eine Regierung, die im Parlament keine Mehrheit für ihren Haushaltsplan findet, so gut wie handlungsunfähig. Auf europäischer Ebene funktioniert einiges anders als im nationalen Rahmen: Erstens entscheidet hier nicht das Parlament allein, sondern Parlament und Rat zusammen über den Haushalt. Zweitens kann die EU keine eigenen Steuern erheben, sondern finanziert sich in erster Linie über Beiträge der Mitgliedstaaten, die sich an deren jeweiligen Bruttoinlandsprodukt orientieren. Drittens darf die EU, anders als ihre Mitgliedstaaten, keine Schulden aufnehmen. Und viertens ist der europäische Haushalt im Vergleich zu den nationalen Etats außerordentlich klein: Derzeit macht er nur wenig mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union aus – insgesamt knapp 150 Milliarden Euro, was pro Kopf weniger als ein Zehntel des Etats der Bundesrepublik Deutschland ist.

Dennoch ist auch in Brüssel die Verhandlung eines neuen Haushaltsplans jedes Mal Anlass scharfer Debatten, die in der Vergangenheit wiederholt zu Blockaden zwischen Parlament und Rat führten. Seit den 1980er Jahren gibt es deshalb die sogenannten „mehrjährigen Finanzrahmen“ (MFR), mit denen die Grundlinien des europäischen Haushalts jeweils für sieben Jahre im Voraus abgesteckt werden (wer sich für Details interessiert: Wikipedia hat einen guten Artikel über die Funktionsweise des EU-Haushalts). Allerdings führt dies nur dazu, dass alle sieben Jahre umso heftiger diskutiert wird – und da in Kürze der neue Finanzrahmen für den Zeitraum 2014-2020 verabschiedet werden soll, steht der Union ein spannender Herbst bevor.

Die beiden meistdiskutierten Punkte sind dabei die Einnahmequellen und die Höhe des Haushalts. In ihrem im Juni vorgelegten MFR-Entwurf sprach sich die Europäische Kommission sowohl für die Einführung spezieller EU-Steuern als auch für eine Erhöhung des Etats um fünf Prozent aus. Beides ist heftig umstritten, sollte aber nicht miteinander in einen Topf geworfen werden. Eine Umstellung von nationalen Beiträgen zu einer europäischen Steuer bedeutet nicht notwendigerweise einen Anstieg des Gesamtbudgets und umgekehrt. Im Folgenden soll es deshalb nur um die zweite Frage gehen (zur EU-Steuer bei Gelegenheit mehr): Ist ein höherer Etat für die EU sinnvoll und wünschenswert?

Institutionelle Interessen

Mehr Geld ist in der Politik oft gleichbedeutend mit mehr Macht: Wer ein größeres Budget zu verteilen hat, kann mehr gestalten und gewinnt auch an öffentlicher Aufmerksamkeit. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass die Diskussionen über den EU-Etat im politischen System oft entlang einer sehr klaren Grenze verlaufen: Die supranationalen Institutionen, also Europäische Kommission und Europäisches Parlament, setzen sich für eine Ausweitung des europäischen Budgets ein, um ihre eigenen Handlungsspielräume zu vergrößern – die nationalen Regierungen hingegen wollen die EU eher an der kurzen Leine halten, um selbst die finanziell mächtigsten staatlichen Organe auf dem Kontinent zu bleiben. Allerdings ist die Haltung des Rates auch nicht ganz eindeutig: Der EU-Haushalt, speziell die Struktur- und Regionalfonds, bildet nämlich auch den wichtigsten Mechanismus für finanzielle Transfers zwischen den reicheren und den ärmeren Mitgliedstaaten. Infolgedessen sind die wirtschaftlich schwächeren Länder in Süd- und Osteuropa zuletzt größtenteils doch für einen Anstieg des Etats – während es die wohlhabenden Nettozahlerstaaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Finnland und Niederlande waren, die sich Ende 2010 in einem gemeinsamen Brief für ein Einfrieren des Haushalts aussprachen. (Seit Margaret Thatcher 1984 den sogenannten Britenrabatt aushandelte, sind zudem nationale Sonderermäßigungen zu einer populären Forderung geworden. Obwohl das Europäische Parlament regelmäßig deren vollständige Abschaffung verlangt, erhalten derzeit außer Großbritannien auch Deutschland, die Niederlande, Schweden und Österreich nationale Beitragsrabatte in unterschiedlicher Höhe. Und die dänische Regierung gab jüngst unter Veto-Drohungen bekannt, dass sie ab 2014 auch einen haben will.)

All diese Positionen sind aus der Logik der jeweiligen Institutionen vollauf verständlich. Institutionelle Machtinteressen sind jedoch noch keine politischen Argumente: Für die europäischen Bürger ist es zunächst einmal belanglos, wer ihre Steuergelder ausgibt – wichtig ist vielmehr, wofür sie ausgegeben werden. Wenn man sich eine Meinung über den EU-Etat bilden will, sollte man sich deshalb zunächst bewusst machen, welche Funktionen ein solcher öffentlicher Haushalt überhaupt erfüllt. Im Wesentlichen sind dies zwei: zum einen die Finanzierung der Staatsaufgaben, zum anderen die makroökonomische Stabilisierung. Und beide Punkte sprechen für einen Anstieg des europäischen Budgets.

Erstens: Finanzierung der Staatsaufgaben

Dass der öffentliche Haushalt zur Finanzierung der Staatsaufgaben dient, ist nahezu eine Trivialität. Als Bürger haben wir bestimmte Erwartungen an staatliche Organe: Sie sollen die Müllabfuhr organisieren, Eisenbahnen bauen, Naturkatastrophen bekämpfen, Schulen betreiben, Banken beaufsichtigen, Kulturgüter subventionieren, Stromleitungen legen, sozialen Ausgleich schaffen, Spitzenforschung ermöglichen, den Frieden sichern und über die schädlichen Folgen von Alkoholkonsum und ungeschütztem Sex aufklären. All diese Tätigkeiten kosten Geld, für das die Bürger als Steuerzahler aufkommen müssen. Die Frage, welche Aufgaben der Staat genau hat, ist natürlich immer umstritten. Aber wenn wir uns demokratisch darauf geeinigt haben, dass er dies oder jenes tun soll, dann müssen wir ihm wohl oder übel auch die finanziellen Mittel dafür geben.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte nun wurden die Zuständigkeiten der europäischen Ebene nach und nach immer mehr erweitert. Der Grund dafür ist schlicht, dass unsere Gesellschaft enger vernetzt ist als früher. Je mehr sich dank neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel der Aktionsradius der Menschen vergrößert, desto mehr Aufgaben können nur staatenübergreifend erfüllt werden. Vor einigen Jahrzehnten etwa spielten transeuropäische Eisenbahn- und Energienetze noch kaum eine Rolle – heutzutage ist das ein bedeutender Tätigkeitsbereich der EU, ohne den die Mitgliedstaaten ihre klimapolitischen Ziele kaum erfüllen könnten. In einem fremden Land zu studieren, war lange Zeit ein extravagantes Vergnügen – heute ist Auslandserfahrung für viele Berufe zu einer zentralen Schlüsselqualifikation geworden. Dass wir ohne eine gemeinsame Finanzmarktaufsicht nicht mehr auskommen, hat die Eurokrise eindrucksvoll bewiesen. Und je häufiger wir uns beruflich oder privat in anderen europäischen Ländern aufhalten, desto mehr springen uns auch die ungleichen Lebensverhältnisse zwischen ihnen als unerträgliche Ungerechtigkeit ins Auge.

Hinzu kommt, dass es oft schlicht effizienter ist, Ausgaben nur einmal auf europäischer Ebene zu treffen als 27 Mal in jedem Mitgliedstaat. Die Länder der EU werden niemals wieder Krieg gegeneinander führen – warum sollten sie also 27 getrennte Rüstungsprogramme betreiben statt einem gemeinsamen? In den meisten Staaten der Welt verfolgen die Europäer gemeinsame Interessen – warum sollte es dann 27 nationale Botschaften geben statt einer gemeinsamen EU-Vertretung? Und manches nützliche Projekt in der Grundlagenforschung ist so teuer, dass kein einzelner Mitgliedstaat es sich allein würde leisten wollen – während sich über das gemeinsame Forschungsrahmenprogramm genügend Mittel dafür auftreiben lassen.

An der finanziellen Schmerzgrenze

Während aber die Aufgaben der Europäischen Union immer weiter gewachsen sind, stieg das Budget nicht in gleichem Tempo. Insbesondere die neuen Zuständigkeiten, die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergaben, führten die EU deshalb immer wieder an die finanzielle Schmerzgrenze: 2010 etwa waren die Einführung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und der EU-Finanzaufsicht aus Haushaltsgründen gefährdet, dieses Jahr werden unter anderem für das Stipendienprogramm Erasmus, für den Europäischen Sozialfonds, für den europäischen Forschungsrat und für die humanitäre Hilfe die Mittel knapp. In dieser Situation ein Einfrieren des europäischen Budgets zu verlangen, läuft effektiv darauf hinaus, dass die EU den ihr übertragenen Aufgaben nicht wird gerecht werden kann – was die europäischen Bürger am Ende womöglich sogar teurer zu stehen kommen wird, wenn nämlich deshalb die weniger effizienten nationalen Programme fortgesetzt werden müssen.

Natürlich heißt das nicht, dass im Umkehrschluss alle derzeitigen Ausgaben der EU sinnvoll und wünschenswert wären. Im Gegenteil, einer der wichtigsten Posten, die Gemeinsame Agrarpolitik, ist überaus ineffizient und kontraproduktiv. Aber die richtige Methode, um das zu ändern, wäre, die notwendige politische Mehrheit für eine Agrarreform zu organisieren. Bei den Forderungen, den europäischen Etat einzufrieren, geht es hingegen nicht darum, einzelne Politikfelder besser auszugestalten, sondern um eine grundsätzliche Beschränkung der Ausgaben, die völlig unabhängig von den Erfordernissen der konkreten Tätigkeitsbereiche gelten soll.

Zweitens: Makroökonomische Stabilisierung

Außer der Finanzierung der Staatsaufgaben hat der öffentliche Haushalt jedoch noch eine zweite Funktion, die auf nationaler Ebene oft als selbstverständlich vorausgesetzt wird, in der EU aber eine besondere Relevanz besitzt: Er dient innerhalb einer Volkswirtschaft als „automatischer Stabilisator“ gegen ökonomische Schocks. Dabei sind auf nationaler Ebene vor allem zwei Effekte relevant: Zum einen federt er konjunkturelle Schwankungen über die Zeit ab. In einem Abschwung sinken die Steuereinnahmen, während die (Sozial-)Ausgaben steigen, was die Nachfrage belebt und damit dem Land aus der Krise hilft (umgekehrt wird im Boom durch steigende Steuereinnahmen und sinkende Ausgaben das Wachstum gebremst und eine Überhitzung verhindert). Zum anderen balanciert er Ungleichgewichte zwischen Regionen aus. Wenn ein Schock eine Region härter trifft als die anderen, so sinken dort die Steuereinnahmen, während die staatlichen Ausgaben steigen, was der Krisenregion hilft, wieder zum Rest der Volkswirtschaft aufzuschließen. Der öffentliche Haushalt trägt also dazu bei, das Wirtschaftssystem stabil zu halten – bis zu einem gewissen Grad sogar unabhängig davon, wofür genau das Geld eigentlich ausgegeben wird.

Der erste dieser beiden Effekte basiert darauf, dass sich der Staat in der Krise verschulden kann. Der Haushalt der EU, der nach Art. 310 AEU-Vertrag immer auszugleichen ist, wird diese Funktion deshalb nicht übernehmen können. Für die interregionale Stabilisierung hingegen kommt es vor allem auf das Volumen des Budgets an. Regelmäßige Leser dieses Blogs wissen, dass ich die Einführung eines hinreichend großen gemeinsamen Haushalts deshalb auch für die geeignetste Lösung der Euro-Krise halte, die in erster Linie auf einen asymmetrischen Schock zurückgeht, von dem die südeuropäischen Staaten und Irland stärker betroffen waren als die nord- und mitteleuropäischen. Natürlich bleiben die derzeit für den mehrjährigen Finanzrahmen diskutierten Erhöhungen weit hinter dem zurück, was hierfür notwendig wäre (die Kommission schlägt eine Steigerung von fünf Prozent vor – eine Verfünffachung des heutigen Budgets käme den Bedürfnissen der Eurozone wohl näher). So oder so wird jeder zusätzliche Euro im Etat der EU helfen, Wirtschaftskrisen wie die jetzige in Zukunft zu vermeiden.

Gerade angesichts der Euro-Krise

Unter diesem Aspekt ist auch ein Argument hinfällig, das in der Debatte immer wieder zu hören war – zuletzt etwa von dem britischen Premierminister David Cameron (Cons./AECR), als er damit drohte, gegen jede Erhöhung des EU-Haushalts ein Veto einlegen zu wollen. Dieses Argument besagt, dass es nicht richtig sein könne, das Budget auf europäischer Ebene ausgerechnet in einer Zeit auszuweiten, in der auf nationaler Ebene immer neue Sparpakete geschnürt werden. Tatsächlich stimmt das Gegenteil: Es ist ein elementarer Grundsatz antizyklischer Wirtschaftspolitik, dass Staaten in einer Krise ihre Etats gerade nicht reduzieren sollten. Dass die südeuropäischen Länder dennoch einen strikten Austeritätskurs fuhren, lag (außer an eklatanten ökonomischen Fehleinschätzungen) vor allem daran, dass sie auf nationaler Ebene finanziell überfordert waren. Die Europäische Union insgesamt könnte hingegen sehr wohl die nötigen konjunkturpolitischen Maßnahmen treffen. Nur fehlt den reichen nördlichen Mitgliedstaaten dafür der politische Wille – und den supranationalen Organen das Budget.

Gerade angesichts der derzeitigen Krise liegt es also im Interesse der europäischen Bürger, die Europäische Union langfristig mit höheren finanziellen Mitteln auszustatten: Am Ende wird es uns schlichtweg billiger kommen. Es bleibt nur zu hoffen, dass das auch die nationalen Regierungen so sehen, wenn es im November zum Showdown zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat kommt.

Bild: By Piotr Drabik (Flickr: Janusz Lewandowski) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

22 Oktober 2012

Ach, Europa-Union!

Wäre es nicht schön, wenn die europäischen Föderalisten in der Öffentlichkeit dieselbe Leidenschaft zeigen würden wie die Europagegner?
Die Europa-Union Deutschland (EUD) wird am kommenden Wochenende in Düsseldorf ihren 58. Bundeskongress abhalten und sich dort ein neues Grundsatzprogramm geben. Für einen beträchtlichen Teil der Leser dieses Blogs dürfte das keine neue Information sein, da sie selbst Mitglieder der EUD sind. Ein anderer, ebenfalls nicht geringer Teil der Leser hingegen weiß vermutlich nicht einmal, dass die Europa-Union überhaupt existiert. Und damit ist schon das Hauptproblem dieses größten proeuropäischen Verbands in Deutschland benannt.

Beginnen wir also mit ein paar Hintergrundinformationen: Die EUD ist die deutsche Sektion der Union Europäischer Föderalisten (UEF), einer gesamteuropäischen überparteilichen Vereinigung zur Förderung des supranationalen Föderalismus. 1946 unter maßgeblicher Mitwirkung ehemaliger antifaschistischer Widerstandskämpfer gegründet, war die UEF in ihren Anfangsjahren eine politische Großbewegung mit über 100 000 Mitgliedern und starker öffentlicher Präsenz, die auf die rasche Gründung eines demokratischen europäischen Bundesstaates drängte. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren (die einerseits zwar den Wunsch nach einer supranationalen Organisation einlösten, andererseits aber mit ihrer technokratisch-elitären Funktionsweise dem demokratischen Ideal der Föderalisten widersprachen) zerfiel die UEF. Erst 1971 wurde sie neu gegründet – nun mit dem Ziel, die Gemeinschaften als institutionellen Kern der europäischen Integration zu akzeptieren, aber sich für ihre Stärkung und Demokratisierung einzusetzen.

Die Abwesenheit der Europa-Union aus der Öffentlichkeit

Heute umfasst die UEF weniger als dreißigtausend Mitglieder, wobei die EUD mit 17 000 Mitgliedern die bei Weitem größte nationale Sektion ist. Eigentlich sollte man deshalb meinen, dass ihr in diesen Zeiten eine zentrale Rolle in der öffentlichen Auseinandersetzung zukommen müsste. Durch die Euro-Krise ist das Interesse der Medien für europäische Themen so stark wie noch nie; der EU stehen große institutionelle Reformen bevor, bei denen Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen und politischen Macht eine Schlüsselrolle zufällt; und das Kernanliegen der Föderalisten hat nichts von seiner Plausibilität verloren: die Schaffung eines europäischen Verfassungsrahmens, in dem gemeinsame Fragen auch gemeinsam entschieden werden, und zwar nicht durch undurchschaubare diplomatische Verhandlungen zwischen den nationalen Regierungen, sondern demokratisch im Europäischen Parlament. Wer, wenn nicht die EUD sollte in einer solchen Situation in die Podiumsdiskussionen, die Talkshows und die Marktplätze drängen, um der Öffentlichkeit seine Argumente vorzustellen?

Und doch ist es in den letzten Jahren sehr still um die Europa-Union gewesen: Mit Ausnahme einer Demonstration gegen die ungarische Regierung im März 2012 war von ihr nicht viel zu hören und zu sehen. Als Dänemark 2011 dem Schengener Abkommen zum Trotz wieder Grenzkontrollen einführte, gab es öffentliche Protestaktionen nur von der Jugendorganisation JEF, nicht von der EUD selbst. Vor allem aber zeigte sich die EUD erschreckend zurückhaltend, als sich in den deutschen Boulevardmedien das Griechenland-Bashing ausbreitete. In Zeiten, in denen auch unter Angehörigen der deutschen Regierungsparteien nationaler Populismus wieder salonfähig wurde, gelang es der Europa-Union nicht, einen diskursiven Gegenpol zu bilden. Es war, als ob Greenpeace den Wiedereinstieg in die Atomenergie mit einem Achselzucken abgetan hätte: In jener Auseinandersetzung, für die die EUD wie geschaffen war, blieb sie in der Öffentlichkeit fast unsichtbar. Und auch die „europaweite Aktionswoche für eine föderale EU“, die in der vergangenen Woche stattfand, zeigte keine besondere Resonanz.

Das neue Grundsatzprogramm

Am 27./28. Oktober soll nun also der Bundeskongress der Europa-Union ein neues Grundsatzprogramm verabschieden. Für die öffentliche Präsenz des Verbands ist das ohne Zweifel eine Chance: Mitten in der Krise ergibt sich die Gelegenheit, entscheidende Argumente zu setzen, der Politik eine Agenda vorzuschlagen, eine Lösung für die europäischen Sorgen zu entwerfen. Bereits seit Monaten wurde deshalb in den einzelnen Landesverbänden und auf Regionalkonferenzen über den Programmentwurf diskutiert, der nun zur Abstimmung steht. Was dabei herausgekommen ist, lässt sich hier nachlesen. Für alle Freunde großer Würfe ist es eine Enttäuschung.

Wirklich mutig wird das Grundsatzprogramm nur an einigen wenigen Punkten: So will die EUD, dass sich die EU künftig über eine eigene Steuer finanziert, dass Unionsbürger auch bei Wahlen zu regionalen und nationalen Parlamenten in ihrem jeweiligen Wohnsitzland ein Wahlrecht besitzen und dass die Außenpolitik komplett europäisiert wird – einschließlich der Vertretung bei internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen. Doch bei den meisten institutionellen Fragen bleibt das Programm deutlich zurückhaltender: So soll das Europäische Parlament ein Initiativrecht erhalten und die Kommission wählen dürfen, aber in der Gesetzgebung doch auch weiterhin nur „gleichberechtigt“ mit dem Ministerrat sein. In der Währungsunion sollen die Wirtschafts- und Haushaltspolitik zwar „verbindlich abgestimmt“ werden, aber von einer Ausweitung des EU-Budgets und einer makroökonomischen Steuerung direkt durch das Europäische Parlament ist keine Rede. Und was die Sozialpolitik betrifft, wird sogar explizit hervorgehoben, dass „[n]icht alles […] auf der europäischen Ebene geregelt werden [muss]“ – ein Teil der Landesverbände will selbst die Forderung nach europäischen sozialen Mindeststandards streichen lassen.

Eine Unzahl politischer Gemeinplätze

Vor allem aber zeichnet sich das Programm durch eine Unzahl an politischen Gemeinplätzen aus: Es geht darum, so kann man da lesen, die „Risiken der Globalisierung“ zu bewältigen. Europas Werte sind die „Unantastbarkeit der Menschenwürde und die unveräußerlichen Rechte des Einzelnen“. Die kulturelle Vielfalt ist „der Reichtum Europas“ und deshalb „zu schützen und zu fördern“. Eine europäische Öffentlichkeit ist „unerlässlich“ und erfordert eine „umfassende europapolitische Berichterstattung“. Das Handeln der EU dient „dem Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger“. (Nach einem etwas progressiveren Alternativvorschlag: „dem Wohl der hier lebenden Bürgerinnen und Bürger“. Aber sollte die EU nicht eigentlich wie jeder Staat auch dem Wohl der Weltgemeinschaft insgesamt verpflichtet sein?) Umweltpolitisch gilt es umzusteuern „hin zu einer nachhaltigen, auf erneuerbare Energiequellen gestützten Wirtschaft“. Und natürlich ist die EU offen für neue Mitglieder, „die sich zu ihren Zielen und Werten bekennen“, aber nur, solange dabei ihre eigene „Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit“ nicht gefährdet ist.

Während über all diese feierlichen Selbstverständlichkeiten mehr oder weniger Einigkeit besteht, ist die Überschrift des Programms selbst derzeit noch umstritten. Die endgültige Entscheidung wird erst auf dem Bundeskongress fallen. Zur Auswahl stehen insbesondere die Versionen „Unser Ziel sind die Vereinten Staaten von Europa“, „Unser Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa“, „Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat“, „Unser Ziel ist eine föderale Europäische Union“ sowie „Düsseldorfer Programm der Europa-Union Deutschland“ Letzteres offenbar ein Kompromissvorschlag des nordrhein-westfälischen Landesverbands. Mit Verlaub: Haben wir wirklich keine anderen Sorgen? Folgt man der EUD, dann würde sich die Europäische Union der Zukunft kaum von der heutigen unterscheiden, nur dass im amtlichen Briefkopf künftig vielleicht ein anderer Name stünde.

Welche Rolle will die Europa-Union in Zukunft spielen?

Woher aber kommt dieser fatale Hang zum Gemeinplatz, der sich durch das Programm der Europa-Union zieht? Nach meinem Eindruck handelt es sich dabei um ein Phänomen, das man aus der Europapolitik leider nur allzu häufig kennt: die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Denn während die EUD in den letzten Jahrzehnten viel von ihrem Einfluss auf die öffentliche Meinung eingebüßt hat, hat sie in den etablierten deutschen Parteien eine erstaunliche Präsenz gewonnen: Derzeit gehören ihr nicht weniger als 71 der 99 deutschen Europaparlamentarier und 170 der 620 Mitglieder des Deutschen Bundestags an, und auch die Funktionsträger des Verbandes rekrutieren sich in erster Linie aus der Elite der deutschen Parteipolitik. Es ist kaum verwunderlich, dass darunter auch der ein oder andere ist, für den die Abschaffung der nationalen Souveränität der Bundesrepublik (die mit der Gründung eines europäischen Bundesstaats logischerweise verbunden wäre) nicht wirklich ein übergeordnetes politisches Ziel darstellt. Und der jedenfalls nicht die Stabilität der Bundesregierung oder die Erfolgschancen seiner Partei bei der nächsten Bundestagswahl dafür aufs Spiel setzen würde.

Für die Europa-Union geht es in dieser Krise auch um die Frage, wie sie ihre eigene künftige Rolle in der Gesellschaft sieht. Es gibt dabei im Wesentlichen zwei Modelle: Sie kann ein Forum für Politiker, Beamte und Unternehmer sein, die beruflich mit Europa zu tun haben und deshalb das Netzwerk nutzen wollen, das solch ein Verein bieten kann. In diesem Fall täte die EUD gut daran, ihr programmatisches Profil flach zu halten, um niemanden zu vergrätzen. Ihre „Überparteilichkeit“ wäre vor allem die Suche nach einem größtmöglichen Europakonsens der politischen und gesellschaftlichen Eliten in Deutschland, womit sie sicher im Verborgenen manches Nützliche leisten könnte. Auf das föderalistische Pathos aber sollte sie dann ehrlicherweise verzichten: Die Europa-Union wäre die „Partei des kleineren Übels“ (wie Kurt Tucholsky einst die SPD nannte), aber nicht mehr die politische Bewegung, als die sie nach dem zweiten Weltkrieg gegründet wurde.

Die andere Option der EUD besteht darin, wieder zu einem starken zivilgesellschaftlichen Verband zu werden, der eine breite Öffentlichkeit anspricht, um möglichst viele Menschen von seinen Lösungen für unsere gemeinsamen Probleme zu überzeugen. Die Europa-Union könnte für den europäischen Föderalismus das sein, was Greenpeace für den Umweltschutz, Attac für die Finanzmarktkontrolle, Amnesty International für die Abschaffung der Todesstrafe und der Bund der Steuerzahler für die Reduzierung der Staatsausgaben ist. Ihre Aufgabe wäre es dann, Themen auf die politische Agenda zu setzen, Maximalforderungen zu formulieren, durch pointierte Aktionen Interesse zu wecken und Unterstützung zu mobilisieren. „Überparteilichkeit“ würde in diesem Fall bedeuten, die Parteien argumentativ vor sich her zu treiben: sich für keine vereinnahmen zu lassen, aber klare Kritik an ihnen zu üben, wo das notwendig ist. Die EUD müsste Debatten zuspitzen und würde damit womöglich mehr Widerspruch, aber auch mehr Begeisterung erzeugen. Vor allem aber müsste sie wieder selbst daran glauben, dass ein föderales Europa wünschenswert und möglich ist – und den Mut haben, das auch dann auszusprechen, wenn ein Teil der im Bundestag vertretenen Parteien es gerade nicht für opportun hält.

Übrigens

Wie der Titel dieses Blogs erahnen lässt, teile ich selbst die wichtigsten politischen Ziele der Europa-Union. Den Programmentwurf könnte ich wohl ohne Weiteres unterschreiben (andererseits: wer könnte das nicht?). Trotzdem bin ich bislang kein Mitglied des Verbands und kenne die innerverbandlichen Debatten und Dynamiken nur zum Teil. Meine Sicht ist eine Außenwahrnehmung. Wer mag, darf mich deshalb gerne eines Besseren belehren – oder sich fragen, weshalb die EUD in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, den ich von ihr bekommen habe.


Bild: By Seiya123 (Own work) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

16 Oktober 2012

Wolfgang Schäuble, der Währungskommissar und das Europäische Parlament

Für seine Verdienste um die europäische Währungsunion hat Wolfgang Schäuble dieses Jahr den Karlspreis gewonnen. Seine Verdienste um die europäische Demokratie sind noch unklar.
Da können die Van Rompuys, Barrosos und Junckers dieser EU noch so viele Papiere über die Zukunft der Eurozone veröffentlichen: So richtig aufgeschreckt ist die deutsche Medienlandschaft dann doch erst, wenn auch die Bundesregierung sich der Forderung nach einer tiefgreifenden Neuordnung der Währungsunion anschließt. Heute nun hat sie dies getan, und zwar in Gestalt von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU/EVP). Kurz nach dem Weltfinanzgipfel in Tokio und wenige Tage vor dem nächsten Treffen des Europäischen Rates hat dieser nicht nur in Bezug auf Griechenland den denkwürdigen Satz „There will not be a Staatsbankrott“ geprägt, sondern auch ein Reformprogramm skizziert, das die EU dem Ziel einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik ein gutes Stück näher bringen könnte.

Schäubles Plan baut dabei auf Reformschritte auf, die bereits in den vergangenen Jahren vollzogen wurden. Speziell mit dem Europäischen Semester wurde versucht, die Koordinierung der nationalen Budgetpolitiken verbessern: Seit 2011 müssen alle Mitgliedstaaten ihre Haushaltspläne für das Folgejahr jeweils bereits im Januar der Europäischen Kommission vorlegen, die dann bis Juli sogenannte „länderspezifische Empfehlungen“ erarbeitet. Wenn dann in der zweiten Jahreshälfte die nationalen Parlamente die Haushaltspläne verabschieden, sollen sie diese Empfehlungen berücksichtigen. Sofern das Defizit über 3 Prozent liegt, kann die Kommission sie dank der sogenannten Sixpack-Verordnungen sogar dazu zwingen, indem sie bei Verstößen gegen die Empfehlungen Geldbußen verhängt. Hingegen können Staaten, die die Defizitgrenzen einhalten, bislang straflos gegen die Kommissionsempfehlungen verstoßen – selbst wenn das der Eurozone insgesamt schadet, etwa weil dadurch ein asymmetrischer Schock verschärft wird.

Macht für den Währungskommissar

Bereits vor einigen Tagen schlug deshalb Ratspräsident Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) vor, dass künftig nicht nur die überschuldeten Länder, sondern alle Euro-Mitgliedstaaten „mit der europäischen Ebene individuelle vertragliche Vereinbarungen über die von ihnen geplanten Reformen und deren Implementierung treffen“. Schäuble stößt nun in dasselbe Horn, verschärft jedoch Van Rompuys Ansatz noch: Statt einer „vertraglichen Vereinbarung“ zwischen dem Mitgliedstaat und der Union soll das für Wirtschaft und Währung zuständige Kommissionsmitglied (derzeit Olli Rehn, Kesk./ELDR) einen nationalen Haushaltsplan, der seiner Meinung nach gegen die länderspezifischen Empfehlungen verstößt, künftig schlicht mit einem Veto belegen können. Die Parlamente müssten dann so lange nachbessern, bis alle Vorgaben erfüllt sind. Die genaue Ausgestaltung des Etats wäre zwar weiterhin Sache der nationalen Abgeordneten, faktisch aber würde die Haushaltshoheit künftig von den nationalen Parlamenten und dem Währungskommissar gemeinsam ausgeübt.

Und wenn Schäuble Währungskommissar sagt, dann meint er auch den Währungskommissar – und nicht die Kommission als Ganzes. Bislang nämlich funktioniert die europäische Exekutive nach dem Kollegialprinzip, bei dem alle Beschlüsse von der Kommission insgesamt beschlossen werden müssen; die Zuteilung von Zuständigkeitsbereichen an einzelne Mitglieder dient nur praktischen Zwecken. Schäuble jedoch will, dass der Währungskommissar die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines nationalen Haushaltsplans künftig allein treffen kann (eingeschränkt allenfalls durch die Richtlinienkompetenz des Kommissionspräsidenten). Das Kollegialprinzip würde damit zumindest in dieser Frage dem Ressortprinzip weichen, wie man es etwa von der Funktionsweise des deutschen Bundeskabinetts kennt.

Wer kennt Olli Rehn?

Der Vorteil von Schäubles Plan liegt auf der Hand: Die fiskalpolitische Koordinierung würde stark vereinfacht; Mitgliedstaaten würden dazu gezwungen, bei der Gestaltung ihrer Haushalte auch die wirtschaftspolitischen Bedürfnisse der übrigen europäischen Länder zu berücksichtigen; und durch die Einführung des Ressortprinzips würden etwaige Blockaden innerhalb der Kommission (die mit 27 Mitgliedern eigentlich längst zu groß für ein Kollegialorgan geworden ist) unwahrscheinlicher. Die Nachteile sind jedoch nicht weniger offenkundig: Mit der Verwirklichung von Schäubles Plänen würde sehr viel wirtschaftspolitische Macht künftig beim europäischen Währungskommissar gebündelt – und welche negativen Folgen das haben kann, ließ sich erst Anfang dieses Jahres in Belgien beobachten.

Damals nämlich machte Olli Rehn zum ersten Mal von seinen Sixpack-Befugnissen Gebrauch und wies den Haushaltsplan der kurz zuvor ins Amt gekommenen belgischen Regierung zurück – die daraufhin umgehend einen neuen Entwurf mit Einsparungen von 1,3 Milliarden Euro vorlegte. Gleichzeitig jedoch erklärte der belgische Wirtschaftsminister Paul Magnette (PS/SPE) in einem Zeitungsinterview, die Europäische Kommission sei „dabei, eine fünfzehnjährige Rezession vorzubereiten“, und feuerte eine rhetorische Salve ab, die in dem Ausruf gipfelte: „Wer kennt Olli Rehn? Wer hat jemals das Gesicht von Olli Rehn gesehen? […] Niemand. Und doch sagt er uns, wie wir unsere Wirtschaftspolitik führen sollen. Europa hat keine demokratische Legitimation, dies zu tun.“ Zwar distanzierte sich Regierungschef Elio Di Rupo (PS/SPE) wenige Stunden später von diesen Äußerungen seines Wirtschaftsministers, doch an dem Grundproblem änderte das nichts: Selbst wenn Rehns Forderungen inhaltlich sinnvoll gewesen sein mögen, nahmen ihn die meisten Belgier nicht als einen Politiker wahr, der ihnen politisch verantwortlich und damit legitimiert war, Entscheidungen über die belgische Haushaltspolitik zu treffen.

Europaparlament: Stärken durch Entschlacken?

Die wichtigste Frage, die Wolfgang Schäuble zu seinem Plan beantworten hat, ist folgerichtig, wie eine weitere Machtfülle des Währungskommissars denn mit einer Demokratisierung der Europapolitik einhergehen kann. Leider jedoch hat Schäuble dazu nur recht wenig zu sagen: Vernünftigerweise spricht er sich für eine Stärkung des Europäischen Parlaments aus, doch wie diese Stärkung aussehen soll, bleibt unklar. Irgendwie soll es künftig früher in haushaltsrelevante Fragen „einbezogen“ werden – aber es scheint nicht so, als wollte Schäuble ihm die Möglichkeit geben, dem Währungskommissar bei seinen Entscheidungen irgendwelche Vorschriften zu machen.

Und dann greift Schäuble noch einen Vorschlag auf, über den ich hier erst kürzlich ausführlich geschrieben habe: nämlich die Idee einer „parlamentarischen Eurogruppe“, einer Unterkammer des Europäischen Parlaments, in der nur die Abgeordneten aus den Mitgliedstaaten der Eurozone vertreten sein sollen. Dass das Europäische Parlament selbst diesen Vorschlag ablehnt, scheint Schäuble dabei nicht weiter zu bekümmern. Und auch, wie das Parlament dadurch an Einfluss gewinnen soll, erklärt er nicht näher. Die Tagesschau spricht vom „Prinzip ‚Stärken durch entschlacken‘“, aber was genau man sich darunter vorstellen soll, leuchtet wenigstens mir persönlich nicht ein. Jedenfalls habe ich noch nie davon gehört, dass das Europäische Parlament an einer zu großen Anzahl von Abgeordneten leiden würde oder dass es in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt wäre, weil Parlamentarier aus Nicht-Euro-Staaten auch bei währungsrelevanten Entscheidungen mitstimmen dürfen.

Die demokratische Legitimität der Europäischen Kommission

Am Ende ist der Vorschlag einer „Eurokammer“ der besseren demokratischen Legitimation sogar abträglich. Denn es wird ja nicht genügen, das Parlament nur hier und da ein wenig mehr „einzubeziehen“. Wenn die eigentliche Macht über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten beim europäischen Währungskommissar liegen soll, dann führt kein Weg daran vorbei, die demokratische Legitimität der Europäischen Kommission selbst zu verbessern. Insbesondere müssen die Bürger die Möglichkeit bekommen, durch Wahlen auf die parteipolitische Zusammensetzung der Kommission einzuwirken, um so demokratische Richtungsentscheidungen zu ermöglichen.

Das aber ist nur möglich, wenn die Kommissionsmitglieder nicht mehr so wie jetzt in erster Linie durch die Mitgliedstaaten benannt werden: Derzeit kann jede nationale Regierung einen Kommissar vorschlagen, was dazu führt, dass in der Kommission Mitglieder aller Parteien vertreten sind, die in irgendeinem europäischen Land regieren – zwölf Konservative, neun Liberale, sechs Sozialdemokraten. Wer davon Währungskommissar wird und ob er eine eher „linke“ oder eine eher „rechte“ Budgetpolitik verfolgt, entzieht sich dem Einfluss der Bürger fast völlig. Damit die Bürger selbst eine Richtungsentscheidung treffen können, müsste die Ernennung der Kommission deshalb enger mit der Europawahl verbunden sein: Nicht die nationalen Regierungen, sondern das Europäische Parlament allein sollte über ihre Zusammensetzung entscheiden. Dadurch käme es im Parlament zu einem Wechselspiel zwischen einer die Kommission stützenden Mehrheitskoalition und einer Opposition, die eine programmatische und personelle Alternative dazu bieten könnte. Olli Rehn wäre für die Europäer kein Unbekannter mehr, sondern ein Vertreter der Partei oder Koalition, die durch ihren Wahlsieg bei der Europawahl zur Übernahme einer politischen Führungsrolle legitimiert wäre.

Das setzt aber natürlich voraus, dass es bei der Europawahl klare Entscheidungen gibt – eine Koalition, die deutlich von sich behaupten kann, dass ihr Programm die Mehrheit der europäischen Wähler auf ihrer Seite hat. Der Vorschlag einer „parlamentarischen Eurogruppe“ steht diesem Ziel im Wege: Was, wenn in der Eurokammer eine andere Koalition die Mehrheit stellen würde als im Plenum des Parlaments? Sollte der Währungskommissar dann nur von den Euro-Abgeordneten gewählt werden? Und was wäre mit dem Kommissionspräsidenten und seiner Richtlinienkompetenz?

Schäubles Ansatz einer strikteren Kontrolle der nationalen Haushaltspolitiken durch die Europäische Union hat ohne Zweifel ihre Verdienste – insbesondere ist es gut, wenn die Bundesregierung endlich erkannt hat, dass die Aufgabe einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ nicht vom Europäischen Rat, sondern nur von der Kommission übernommen werden kann. Seine demokratiepolitischen Vorschläge jedoch sind bestenfalls verworren und würden nicht dazu beitragen, dass die fiskalpolitischen Vorgaben der europäischen Ebene bei den Bürgern auf größere Akzeptanz stoßen würden. Wenn sich Ende dieser Woche die europäischen Staats- und Regierungschefs treffen, dann werden sie gut daran tun, dieser Frage bei ihren Reformüberlegungen eine etwas höhere Priorität einzuräumen.

PS: Und das gemeinsame Budget?

Einen Punkt übrigens hat Schäuble bei der Vorstellung seiner Ideen überhaupt nicht erwähnt: die Einführung eines gemeinsamen Budgets für die Eurozone, das hoch genug sein müsste, um daraus Maßnahmen zur makroökonomischen Steuerung zu finanzieren. In dem Papier, das Herman Van Rompuy vor zwei Wochen präsentierte, waren diese „Mechanismen fiskalischer Solidarität, z.B. durch eine angemessene fiskalische Kapazität“ noch enthalten. Es wäre ein schlechtes Zeichen, wenn die Bundesregierung sich diesen Plänen jetzt verweigern würde.

Bild: By Euku (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

12 Oktober 2012

Fünfzig Jahre zu spät: Zum Friedensnobelpreis für die Europäische Union

Alfred Nobel war für die „Brüderschaft zwischen den Völkern“. Aber ist die EU nicht längst eine Union von Bürgern?
Als vor drei Jahren der US-amerikanische Präsident Barack Obama den Friedensnobelpreis erhielt, da fehlte es nicht an Spott für die Wahl des norwegischen Nobelkomitees: Obama war erst wenige Monate zuvor ins Amt gekommen und hatte deshalb außenpolitisch noch kaum etwas bewirken können – mit Ausnahme einiger beeindruckender Reden, die allerdings für sich allein bereits als Zeichen für eine Abkehr vom militanten Unilateralismus der Bush-Jahre und als Bekenntnis zu den Werten der Vereinten Nationen und zu einer besseren globalen Zusammenarbeit gesehen wurden. Für Obama selbst war die Auszeichnung allerdings wohl eher eine Last als eine Freude, da sie die Erwartungen an ihn nahezu unerfüllbar hoch setzte. Und natürlich verlor er dadurch von vornherein die Chance, die Ehrung vielleicht eines Tages nach seiner Präsidentschaft noch einmal zu erhalten: und dann für wirkliche, nicht nur rhetorische Verdienste.

Bei der diesjährigen Preisverleihung wollte das Nobelkomitee offenbar nicht noch einmal den Fehler begehen, einen Kandidaten zu früh zu belohnen. Stattdessen tat sie das genaue Gegenteil und entschied sich für die Europäische Union. Diese habe, so die offizielle Begründung, „seit über sechs Jahrzehnten zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen“. Wenn das mal nicht ein Lebenswerk ist. Herzlichen Glückwunsch uns allen!

Veraltetes Narrativ

Aber bei aller Freude: Der Preis kommt ein paar Jahrzehnte zu spät. Wie ich bereits vor einigen Wochen geschrieben habe, ist das Narrativ von der Europäischen Union als Friedensstifter inzwischen eigentlich veraltet. Sicher, die Europäischen Gemeinschaften spielten in den fünfziger Jahren eine zentrale Rolle, als es darum ging, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Vertrauen zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn zu schaffen. Und auch die Demokratisierungsprozesse in Südeuropa während der 1970er und in Osteuropa während der 1990er Jahre wurden stark dadurch befördert, dass die Länder während des politischen Übergangs eine Beitrittsperspektive hatten. Zu Recht verweist das Nobelkomitee auf diese historischen Leistungen der europäischen Integration (und der Menschen, die sich in der täglichen politischen Auseinandersetzung für sie einsetzten, denn von selbst wäre es natürlich nicht dazu gekommen).

Aber die Erfolge bei der Befriedung Europas führten eben auch dazu, dass sich die politische Kultur auf dem Kontinent gewandelt hat – und ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich würde auch dann undenkbar bleiben, wenn die EU morgen zu existieren aufhören würde. Lediglich auf dem Westbalkan und in geringerem Ausmaß in Weißrussland, der Ukraine und dem Kaukasus zeigt sich, dass die alten Triebfedern noch wirksam sind und die europäische Integration zur Demokratisierung und zur Aussöhnung zwischen verfeindeten nationalen Gruppen beitragen kann. Doch schon der arabische Frühling im vergangenen Jahr war nicht maßgeblich von der EU beeinflusst. Zwar mag die europäische Nachbarschaftspolitik auch in den nordafrikanischen Staaten einen Beitrag zum wirtschaftlichen Fortschritt und zur Entstehung einer demokratisch orientierten liberalen Mittelschicht geleistet haben, aber in der Öffentlichkeit jener Länder spielt die EU mangels einer Beitrittsperspektive nur eine untergeordnete Rolle.

Die EU ist mehr als ein Friedensprojekt

Das Friedensnarrativ ist aber nicht nur deshalb veraltet, weil es auf dem europäischen Kontinent inzwischen keine Kriege mehr gibt. Vielmehr ist auch die EU in ihrer heutigen Form längst über dieses ursprüngliche Ziel hinausgewachsen. Sie ist heute weniger ein Projekt zur Aussöhnung unter ihren Mitgliedstaaten, sondern ein politisches System aus eigener Kraft und mit einer eigenen demokratischen Legitimität. Ihre Basis ist nicht nur der Frieden zwischen den Völkern, sondern die demokratische Selbstbestimmung der Unionsbürger, die in gemeinsam gewählten Organen kollektive Entscheidungen über ihre gemeinsamen Angelegenheiten treffen. Dass diese Form des freiheitlich-demokratischen Zusammenlebens auch interne Kriege verhindert, versteht sich nahezu von selbst. Aber wollte man etwa der Bundesrepublik Deutschland einen Friedensnobelpreis verleihen, nur weil die Existenz eines deutschen Bundesstaats die Kriege unmöglich gemacht hat, die es im 17. und 18. Jahrhundert zwischen den einzelnen deutschen Fürstentümern gab?

Mehr noch: Man könnte einwenden, dass die EU ihren Friedensnobelpreis genau in einer Phase der politischen Krise erhält, in der eben jene demokratischen Grundlagen gefährdet sind. Im Verfassungsblog schrieb Max Steinbeis kürzlich über die These des Politikwissenschaftlers Dieter Kerwer, dem zufolge sich die EU zunehmend zu einem imperialen Gebilde entwickelt, in dem das reiche Zentrum Herrschaft über die verschuldete Peripherie ausübt (und etwas Ähnliches war vor einem Jahr auch mal in diesem Blog zu lesen). Tatsächlich verweist das Nobelkomitee sogar ausdrücklich auf die „schweren wirtschaftlichen Schwierigkeiten und beträchtliche soziale Unruhe“, die die EU derzeit durchmacht. In diesem Sinne lässt dich der Preis bestenfalls als Ansporn verstehen, die in der Vergangenheit erbrachten Leistungen bei der Demokratisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa nicht scheinbaren nationalen Wirtschaftsinteressen zu opfern, die sich bei näherer Betrachtung meist ohnehin auch noch als trügerisch erweisen.

Unvollendete Friedenspläne

Ansonsten aber sei das Nobelkomitee für seine Anerkennung der historischen Bedeutung der europäischen Integration herzlich bedankt – und zugleich gebeten, sich in Zukunft vielleicht doch wieder auf Friedenspläne zu konzentrieren, die noch nicht vollendet sind. Es gibt von Südamerika über Afrika bis Asien eine ganze Reihe von regionalen Integrationsprojekten, die sich am Vorbild der Europäischen Union orientieren, und es gibt das World Federalist Movement, das sich für eine Übertragung der Prinzipien supranationaler Demokratie auf die globale Ebene einsetzt. Wenn das Nobelkomitee zu der Einsicht gelangt ist, dass dies eine sinnvolle Methode ist, um den Frieden zu fördern, dann würden sich dort mit Sicherheit einige Preiskandidaten finden lassen, die mit der Auszeichnung mehr anfangen könnten als die heutige Europäische Union.

Bild: See page for author [Public domain], via Wikimedia Commons.

Brauchen wir ein Parlament für die Eurozone?

Sollen bei Entscheidungen über den Euro die Abgeordneten aus blauen Ländern künftig den Saal verlassen müssen?
Vergangenen Samstag habe ich hier die Pläne von Ratspräsident Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) kommentiert, der die Eurozone mit einem eigenen Budget ausstatten will, das als automatischer Stabilisator bei asymmetrischen Wirtschaftsschocks wirken könnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommen wird, ist seitdem noch einmal gestiegen: Inzwischen nämlich hat auch der britische Premierminister David Cameron (Cons./AECR) seine Unterstützung dafür ausgesprochen, dass der EU-Haushalt in ein allgemeines Budget und einen speziellen Eurozonen-Etat aufgeteilt wird – und Großbritannien bei Letzterem außen vor bleibt.

Doch wie ich schon letzte Woche schrieb, wirft ein solches Eurozonenbudget auch neue Fragen der demokratischen Verantwortung und Kontrolle auf. Es war einer der größten Erfolge des Lissabon-Vertrags von 2009, dass das Europäische Parlament dadurch endlich ein Mitbestimmungsrecht über den gesamten EU-Haushalt erhielt – gemeinsam mit dem Ministerrat, der zuvor über bestimmte Bereiche allein entscheiden konnte. Entsprechend problematisch ist es auch, dass die Rettungsfonds EFSF und ESM, die im Zuge der Finanzkrise geschaffen wurden, allein der Kontrolle der nationalen Regierungen und Parlamente unterliegen. Für ein neues Euro zonenbudget, das auch der makroökonomischen Steuerung dienen soll, gilt dies erst recht: Wirtschafts- und haushaltspolitische Entscheidungen sind nicht nur eine Frage der Optimierung, sondern auch der Umverteilung und müssen deshalb parlamentarisch getroffen werden. Doch auch eine Legitimation allein über die nationalen Parlamente (wie sie de facto für den ESM vorgesehen ist) genügt nicht, da es für das demokratische Wechselspiel auch darauf ankommt, eine Opposition zu haben, die Alternativvorschläge präsentieren kann – und zwar eben nicht nur in jedem Einzelstaat, sondern auf der gemeinsamen, supranationalen Ebene.

Wenn wir für die Währungsunion also ein gemeinsames Budget haben wollen, benötigen wir dafür auch ein gemeinsames Parlament. Bislang jedoch sind die politischen Institutionen der Eurozone nur recht schwach ausgeprägt: Neben der Europäischen Zentralbank gibt es als Entscheidungsorgan für die Währungsunion offiziell nur die Eurogruppe, in der sich die Finanzminister (und bei wichtigen Fragen die Staats- und Regierungschefs) der Euro-Länder treffen. Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission jedoch sind Organe der gesamten EU. Je intensiver die Diskussion über ein eigenes Eurozonenbudget wird, desto dringlicher stellt sich deshalb auch die Frage nach einer institutionellen Reform: Benötigen wir ein eigenes Parlament für die Eurozone? Im Wesentlichen gibt es dazu vier Vorschläge.

Erstens: Ein völlig neues Parlament

Die erste Option bestünde darin, das Eurozonenparlament (und vielleicht eine Eurozonenkommission) als völlig neues Organ einzurichten. Es wäre zuständig für alle Fragen, die die Eurozone, nicht aber die Nicht-Euro-Staaten betreffen, und würde von den Bürgern der Euro-Staaten in einer gemeinsamen Wahl gewählt, die getrennt (aber vielleicht gleichzeitig) mit der Wahl zum Europäischen Parlament stattfinden würde.

So naheliegend dieser Vorschlag jedoch ist, so unpopulär ist er auch. Insbesondere hat niemand ein Interesse daran, die Diäten hunderter neuer Vollzeit-Abgeordneter zu finanzieren, die dann doch nur für den recht schmalen Aufgabenbereich der Währungsunion zuständig wären. Warum dann nicht gleich auch noch ein Schengen-Parlament (das Norwegen und Liechtenstein, nicht aber Großbritannien und Irland umfassen würde)? Ernsthaft wird dieser Plan deshalb von niemandem verfolgt.

Zweitens: Eine Parlamentarische Versammlung

Die zweite Möglichkeit wäre, statt eines genuinen Eurozonenparlaments eine Parlamentarische Versammlung einzurichten – also eine Kammer, die sich aus Delegationen der verschiedenen nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten zusammensetzen würde. Ein entsprechendes Modell vertritt etwa Jean-Claude Piris, ehemaliger Leiter der Rechtsabteilung des EU-Ratssekretariats, in seinem Buch The Future of Europe. Und auch der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer (Grüne/EGP) meldete sich vergangenes Jahr mit einem ähnlichen Vorschlag zu Wort.

Warum mich diese Idee nicht überzeugt, habe ich in diesem Blog schon damals erklärt: Auch wenn sie in einem gemeinsamen europäischen Gremium zusammenkommen, sind nationale Parlamentarier letztlich immer allein dem Publikum ihres eigenen Landes verpflichtet. Da sie auf nationaler Ebene gewählt werden, richten sie auch ihr Verhalten in erster Linie an der nationalen öffentlichen Meinung, nicht an einem europäischen Gemeinwohl aus. So werden die Abgeordneten eine Partei, die auf nationaler Ebene regiert, in einer Parlamentarischen Versammlung der Eurozone wohl kaum ihrer Regierung in die Arme fallen. Möglicherweise würde die ein oder andere nationale Oppositionspartei hier eine Möglichkeit zur Profilierung finden – insgesamt aber dürften die Debatten in der Versammlung gegenüber denjenigen in der Eurogruppe kaum einen Mehrwert bieten.

Vor allem aber entfiele bei einer Parlamentarischen Versammlung das entscheidende Element für die Entstehung einer demokratischen politischen Öffentlichkeit: die gemeinsame Wahl, bei der die Wähler eine Richtungsentscheidung über zentrale Leitfragen treffen können. Wer mit der Wirtschaftspolitik in der Eurozone unzufrieden ist, hätte weiterhin nur bei den eigenen nationalen Parlamentswahlen die Möglichkeit, darauf einzuwirken. Eine gemeinsame europäische Debatte, bei der die gesamteuropäischen Parteien europaweit gleichzeitig für ihr jeweiliges Programm werben würden, fände nicht statt.

Drittens: Eine Eurogruppe im Europäischen Parlament

Unter den Regierungen vieler Mitgliedstaaten ist deshalb eine andere, dritte Option recht beliebt: die Übertragung des Prinzips der Eurogruppe vom Ministerrat auf das Europäische Parlament. Bei Abstimmungen, die nur die Währungsunion und nicht den Rest der EU betreffen, sollen künftig im Europäischen Parlament nur noch jene Abgeordnete ein Stimmrecht haben, die in Mitgliedstaaten der Eurozone gewählt worden sind. Bereits seit Längerem wird diese Idee einer speziellen innerparlamentarischen Euro-Kammer etwa von Henning Meyer, dem Gründer des Social Europe Journal, vertreten. Und im September war sie in etwas verklausulierter Form auch im Abschlussbericht der sogenannten „Zukunftsgruppe“ zu finden, in dem elf europäische Außenminister unter Leitung von Guido Westerwelle (FDP/ELDR) ihre Vorstellungen zur künftigen EU erläuterten.

Doch auch diese Variante ist bei näherem Hinsehen nicht besonders überzeugend. Denn anders als die Vertreter der nationalen Regierungen im Rat sind die Abgeordneten des Europäischen Parlaments keine Repräsentanten ihrer jeweiligen Nationalstaaten – sondern nach Art. 14 EU-Vertrag Vertreter der Unionsbürger. Unionsbürger aber sind wir alle, unabhängig davon, ob wir aus einem Land der Eurozone oder einem anderen EU-Staat kommen. Dies schlägt sich schon jetzt im Europawahlrecht nieder, das jeder Unionsbürger unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit im Land seines jeweiligen Wohnsitzes ausüben kann. Und erst recht würde die Unterscheidung zwischen Eurozonen- und Nicht-Eurozonen-Abgeordneten hinfällig, wenn es bei der Europawahl endlich transnationale Wahllisten gäbe, wie sie etwa im Duff-Bericht gefordert wurden (worüber ich im März einiges in diesem Blog geschrieben habe).

Viertens: Das Parlament der Eurozone ist das Europäische Parlament

Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Pläne einer speziellen „Euro-Kammer“ unter den Europaabgeordneten selbst auf wenig Zustimmung stoßen. In einem Papier, das Elmar Brok (CDU/EVP), Guy Verhofstadt (Open-VLD/ELDR) und Roberto Gaultieri (PD/SPE-nah) vergangene Woche vorlegten, wurde der Vorschlag jedenfalls klar zurückgewiesen. Stattdessen sprachen sich die drei Europaabgeordneten, die im Namen des Parlaments mit Van Rompuy und den Staats- und Regierungschefs über mögliche Vertragsreformen verhandeln (und übrigens allesamt aus Mitgliedstaaten der Eurozone stammen), für eine andere, bemerkenswert einfache Lösung aus. Über Angelegenheiten der Währungsunion soll ihnen zufolge wie über alle anderen Angelegenheiten der EU das Europäische Parlament als Ganzes entscheiden – denn:
Der Euro ist die Währung der Europäischen Union und das Europäische Parlament ist das Parlament der Europäischen Union. Das Europäische Parlament ist deshalb das Parlament des Euro.
Und tatsächlich: Liest man die Bestimmungen zur Wirtschafts- und Währungspolitik im AEU-Vertrag, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Euro nicht nur die Währung eines Teils der Mitgliedstaaten, sondern der gesamten EU sein soll. Mit Ausnahme von Großbritannien und Dänemark (denen in Protokollen zum Vertrag besondere Opt-out-Regelungen zugestanden wurden) haben sich alle Mitgliedstaaten zur Einführung der gemeinsamen Währung verpflichtet, sobald die dafür notwendige wirtschaftliche Konvergenz erreicht wurde. Die Länder mit einer eigenen nationalen Währung sind dem Vertrag zufolge „Mitgliedstaaten, für die eine Ausnahmeregelung gilt“ – und die sie betreffenden Regelungen befinden sich in einem Kapitel mit der Überschrift „Übergangsbestimmungen“.

Dagegen ließe sich natürlich einwenden, dass sich in der Krise schon so manche Regelung der EU-Verträge als hinfällig oder überholungsbedürftig erwiesen hat. Und hat nicht gerade erst der ungarische Regierungschef Viktor Orbán (Fidesz/EVP) angekündigt, dass sein Land bis auf Weiteres nicht den „Fehler“ machen wolle, den Euro einzuführen? Steuert die EU also nicht in der Realität auf eine dauerhafte Spaltung zwischen der Eurozone und dem Rest zu?

Offen gesagt: Ich denke, nein. Selbstverständlich hält sich bei den nord- und osteuropäischen Staaten die Begeisterung für einen Euro-Beitritt im Augenblick angesichts der Unwägbarkeiten der Krise in Grenzen; und natürlich nutzen das europaskeptische Populisten wie Orbán, um den ein oder anderen öffentlichkeitswirksamen Punkt zu setzen. Doch selbst der ungarische Premierminister spricht lediglich davon, dass sein Land „noch nicht reif“ für einen Euro-Beitritt sei. Und betrachtet man die zugrunde liegende wirtschaftliche Logik aus der Perspektive der Theorie optimaler Währungsräume, so zeigt sich zwar einerseits, dass derzeit die Eurozone wohl etwas zu groß für einen optimalen Währungsraum ist (nicht zuletzt aufgrund ihres fehlenden fiskalpolitischen Unterbaus, aber dem soll unter anderem das gemeinsame Budget ja gerade abhelfen!). Andererseits aber sind aus ökonomischer Sicht die einzelnen Nationalstaaten in Europa für eine eigene Währung recht offensichtlich zu klein. Sobald sich also die Wogen der derzeitigen Krise geglättet haben, werden die allermeisten Länder schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse bald den Euro als Währung einführen wollen.

Wenn aber mittelfristig die Europäische Union und die Eurozone ohnehin zusammenfallen werden, dann ist es nur sinnvoll, die Hoheit über das Eurozonen-Budget schon jetzt dem Europäischen Parlament zu überlassen, das besser als jede andere Institution den Prinzipien einer supranationalen Demokratie entspricht. Der Ministerrat mag als Staatenvertretung in beliebige Untergruppen teilbar sein, das Parlament als Vertretung der Unionsbürger ist es nicht. Und Unionsbürger sind nun einmal auch Briten und Ungarn – selbst wenn für ihre Länder in der Währungspolitik derzeit (noch) „eine Ausnahmeregelung gilt“.


Bild: By Glentamara (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons.

06 Oktober 2012

Ein gemeinsames Budget für die Eurozone

Herman Van Rompuy hat ein paar Ideen, die die europäische Währungsunion revolutionieren könnten.
Der Europäische Rat neigt dazu, seine Macht hinter bescheidenen Formulierungen zu verstecken. Aus den Kamingesprächen, zu denen sich die Staats- und Regierungschefs seit 1974 alle paar Monate versammelten, wurde schnell eines der einflussreichsten Organe der EU. Seine informellen „Schlussfolgerungen“, anfangs nur als Presseerklärungen veröffentlicht, sind eine der wichtigsten Leitschnüre der Europapolitik. Längst werden sie auch nicht mehr auf den Gipfeltreffen selbst ausgehandelt, sondern von dem hauptamtlichen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) bereits Wochen im Voraus vorbereitet: Am vergangenen Montag etwa schickte er den Regierungen der Mitgliedstaaten ein Papier, welches den ersten Entwurf für die Leitlinien der Schlussfolgerungen des am kommenden 18./19. Oktober stattfindenden Gipfels enthält. Und dieses Papier (veröffentlicht durch die Financial Times, hier der Wortlaut) hat es in sich.

Thema des Treffens soll unter anderem die Reform der europäischen Währungsunion sein. Denn ein Feuerlöscher ist kein Ersatz für Brandschutzmaßnahmen: Auch wenn am nächsten Montag endlich der ESM seine Arbeit aufnehmen wird, sind die strukturellen Ursachen der Eurokrise noch längst nicht behoben. Zum einen will Van Rompuy deshalb Fortschritte in Richtung einer gemeinsamen europäischen Bankenaufsicht machen, was im Grunde alle gut finden, auch wenn die deutsche Bundesregierung bei der Festlegung eines konkreten Zeitplans bisher auf der Bremse steht. Zum anderen aber schlägt Van Rompuy eine Reihe von Maßnahmen vor, die – wenn man sie zu Ende denkt – das Potenzial haben, die Wirtschafts- und Fiskalpolitik in der Eurozone zu revolutionieren.

Um gleich vorab einzuschränken: Auch wenn Van Rompuy im Vorfeld zahlreiche bilaterale Gespräche mit den Regierungschefs der Eurozone geführt hat, ist noch lange nicht sicher, ob (und gegebenenfalls, in wie verwässerter Form) seine Vorschläge zuletzt angenommen werden. Zudem lassen sie teils unterschiedliche Interpretationen zu – was beispielsweise Eric Bonse in seinem Blog Lost in EUrope zu einer deutlich negativeren Einschätzung bringt als mich. Aber nehmen wir einmal an, dass Van Rompuy es ernst meint mit der Stabilisierung der Eurozone, wie sehen dann seine Pläne aus?

Verpflichtende Koordinierung der Wirtschaftspolitik

Erstens soll die makroökonomische Koordinierung in der Währungsunion weiter vorangetrieben werden. Um die Wirtschaft zu stabilisieren, betreiben Staaten idealerweise eine antizyklische Fiskalpolitik: Im Abschwung steigern sie ihre Ausgaben, um die Konjunktur wiederzubeleben, im Boom sparen sie dagegen, um ihre Defizite abzubauen und die Bildung von wirtschaftlichen Blasen zu verhindern. Eines der europäischen Probleme besteht jedoch darin, dass die Staaten derzeit bei ihrer Fiskalpolitik nur die Konjunkturlage im eigenen Land, nicht der Eurozone als Ganzes im Blick haben. Bei asymmetrischen Schocks führt dies schnell zu Ungleichgewichten – wenn etwa in der aktuellen Krise die Staaten, die sich wie Deutschland höhere Ausgaben leisten könnten, dennoch sparen, weil sie ja selbst nicht von der Rezession betroffen sind.

Bereits 2011 wurde deshalb das „Europäische Semester“ eingeführt, bei dem die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Haushaltsentwürfe ein halbes Jahr vor deren Verabschiedung der Europäischen Kommission vorlegen müssen. Diese gibt dann „länderspezifische Empfehlungen“ ab, die zu einer Harmonisierung der Budgetpolitik führen sollen. Allerdings sind diese Empfehlungen bislang unverbindlich, und die ersten Erfahrungen deuten an, dass sich die Mitgliedstaaten (gerade auch die großen und reichen) nicht besonders darum scheren.

Van Rompuy schlägt deshalb nun vor, es künftig nicht bei unverbindlichen Empfehlungen zu belassen. Stattdessen sollen alle Euro-Staaten „mit der europäischen Ebene individuelle vertragliche Vereinbarungen über die von ihnen geplanten Reformen und deren Implementierung treffen“. Solche Abkommen gibt es derzeit bereits für die Staaten, die sich wie Griechenland, Portugal und Irland in einem EU-Hilfsprogramm befinden und sich dafür zu bestimmten Reformmaßnahmen verpflichtet haben. Wenn sie künftig allgemein gälten, müssten nicht mehr nur die Krisenstaaten, sondern auch die übrigen Länder die gesamteuropäischen Belange ernst nehmen – und die Europäische Kommission hätte ein starkes Mittel gewonnen, um Krisen künftig schon im Voraus zu verhindern.

Ein gemeinsames Budget für die Eurozone

Womöglich noch wichtiger ist aber der zweite Vorschlag Van Rompuys: Um eine „vernünftige Haushaltspolitik auf nationaler und europäischer Ebene sicherzustellen, die zu nachhaltigem Wachstum und makroökonomischer Stabilität führt“, schlägt der Ratspräsident nämlich auch die Einführung von „Mechanismen fiskalischer Solidarität, z.B. durch eine angemessene fiskalische Kapazität“ vor. Wie die Financial Times zu Recht feststellt, ist dieses etwas komplizierte Wortgebilde nichts anderes als eine verschlüsselte Formulierung für die Einführung eines gemeinsamen Budgets der Eurozone.

Tatsächlich ist dieser Vorschlag eines gemeinsamen Budgets alles andere als eine neue Idee, die auch in diesem Blog bereits wiederholt vorgebracht wurde. Der zugrunde liegende Gedanke wurde bereits 1969 von dem Ökonomen Peter Kenen formuliert: Das Hauptproblem einer Währungsunion sind asymmetrische Wirtschaftsschocks, von denen manche Regionen stärker betroffen sind als andere. Wenn die Krisenregionen eigene Währungen haben, würden diese in solch einem Fall abwerten, was die Exporte ankurbelt, die Konjunktur belebt und das ökonomische Gleichgewicht wiederherstellt. In einer Währungsunion entfällt diese Möglichkeit, wodurch das System instabil wird – doch ein gemeinsamer Haushalt (also ein gemeinsames Steuer- und Sozialsystem) bietet einen angemessenen Ersatz dafür: Bei einem asymmetrischen Schock nämlich steigen in den Krisenregionen die Sozialausgaben stärker an, während zugleich die Steuereinnahmen sinken. Über den gemeinsamen Haushalt kommt es deshalb zu einem Finanztransfer von den stabileren zu den schwächeren Regionen, was wiederum die dortige Konjunktur belebt und das Gleichgewicht wiederherstellt.

Der gemeinsame föderale Haushalt gilt deshalb auch als ein wesentlicher Grund, weshalb es den USA in der Finanzkrise so viel besser gelang, die Unterschiede zwischen ihren Regionen auszubalancieren als der Eurozone: Das Budget der Europäischen Union beträgt derzeit lediglich rund 1 Prozent des gesamten europäischen Bruttoinlandsprodukts, und war damit viel zu gering, um eine makroökonomische Stabilisierungsfunktion zu übernehmen. Wenn Van Rompuy nun eine „angemessene fiskalische Kapazität“ fordert, dann dürfte er genau diesen Effekt im Blick haben.

Deutsche und französische Unterstützung möglich

Lange Zeit sah es freilich alles andere als danach aus, als ob die Mitgliedstaaten bereit wären, einer bedeutenden Erhöhung des europäischen Budgets zuzustimmen. Schon vor Jahren forderten die das Europäische Parlament und die Kommission, in dem mehrjährigen Finanzrahmen für die Zeit 2014-2020 eine deutliche Steigerung des EU-Haushalts einzuplanen – was die Nettozahlerstaaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Finnland und die Niederlande Ende 2010 jedoch in einem gemeinsamen Brief vehement ablehnten.

Inzwischen jedoch scheint in den großen Ländern der Eurozone ein Umdenken eingesetzt zu haben. Der französische Finanzminister Pierre Moscovici (PS/SPE) etwa schlug erst vor wenigen Wochen eine gemeinschaftlich finanzierte Arbeitslosenversicherung in der Eurozone vor. Und auch die deutsche Bundesregierung könnte sich der Financial Times zufolge für derartige Ideen erwärmen, da sie inzwischen erkannt haben müsste, dass eine stabile Währungsunion ohne Finanztransfers nicht möglich ist – und eine Ausweitung des gemeinsamen Haushalts dann immer noch den ungeliebten Eurobonds vorziehen dürfte. Doch da die britische Regierung nach wie vor zu ihrer Verweigerungshaltung steht, wird die Lösung wohl nicht über den Haushalt der Europäischen Union insgesamt gehen, sondern über ein speziell einzurichtendes Eurozone-Budget. Aus diesem könnten dann, wie Van Rompuy vorschlägt, „die Reformbemühungen der Mitgliedstaaten mit begrenzten, temporären, flexiblen und gezielten Finanzanreizen unterstützt werden“. Konkret könnte man sich das vielleicht so vorstellen, dass die Eurozone künftig die Kosten für die Umschulung von Arbeitslosen übernimmt.

Demokratische Kontrolle

Ob und wie weit die Staats- und Regierungschefs den Vorschlägen Van Rompuys folgen, ist, wie gesagt, bis jetzt noch offen. Wie wirkungsvoll seine Pläne bei der Bekämpfung dieser und der Vermeidung künftiger Krisen sind, wird natürlich wesentlich davon abhängen, welchen Umfang das geplante Eurozone-Budget am Ende tatsächlich haben wird. Und vollkommen unklar ist bisher auch noch, wie es finanziert werden sollte: über Beiträge der Mitgliedstaaten, eine europäische Steuer oder eine europäische Sozialversicherung?

Was bereits jetzt deutlich scheint, ist aber, dass die Lösung der Eurokrise zuletzt mit einer bedeutenden Übertragung wirtschafts- und haushaltspolitischer Macht auf die europäische Ebene verbunden sein wird – und zwar, angesichts der britischen Verweigerung, wohl nicht auf die Ebene der EU, sondern der Eurozone. Das aber wirft zentrale Fragen der demokratischen Kontrolle auf, denn die makroökonomische Koordinierung und die Entscheidung über ein Milliardenbudget sind keine technischen, sondern hoch politische Fragen. Um noch einmal Van Rompuy zu zitieren: „Starke Mechanismen demokratischer Legitimität und Verantwortung sind notwendig. Einer der Leitgrundsätze ist in diesem Zusammenhang, dass demokratische Kontrolle und Zurechnung auf der Ebene ausgeübt werden, auf der die Entscheidungen getroffen werden.“

Mit anderen Worten: Nicht die nationalen Parlamente und die von ihnen gewählten Regierungen können eine gesamteuropäische Wirtschaftspolitik legitimieren, sondern nur die demokratisch gewählten supranationalen Organe selbst. Das aber wirft ein institutionelles Problem auf, denn während es für die Gesamt-EU durchaus ein gewähltes Parlament gibt, das die Verantwortung für die gemeinsamen wirtschaftspolitischen Entscheidungen übernehmen könnte, besitzt die Eurozone bislang keine eigenen demokratischen Organe. Wenn man sich daranmacht, die Macht in der europäischen Währungsunion zu bündeln, muss man also auch die Frage beantworten, in welchem institutionellen Rahmen sie künftig ausgeübt werden soll. Dazu bei Gelegenheit mehr.

Bild: By European People's Party (EPP Summit 19 March 2009) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.