20 Dezember 2021

Was die EU im Jahr 2022 erwartet

Weihnachtsmannfigur mit gelben Sternen
Auf ins europäische Jahr der Jugend!

Ein europäischer Gipfel ohne Angela Merkel (CDU/EVP), das sei wie Paris ohne den Eiffelturm, erklärte Ratspräsident Charles Michel (MR/ALDE) im vergangenen Oktober. Doch was vor wenigen Monaten noch so ungewohnt schien, wird im neuen Jahr zur Routine werden: Seit Dezember 2021 wird der größte Mitgliedstaat im Europäischen Rat durch Olaf Scholz (SPD/SPE) repräsentiert, dessen Ampelkoalition sich in der Europapolitik große Ziele gesteckt hat.

Und die neue deutsche Bundesregierung ist bei weitem nicht das einzige, was die EU im Jahr 2022 erwartet.

Französisches Semester

In der ersten Jahreshälfte werden sich erst einmal alle Augen auf Frankreich richten. Zum einen hat dessen Regierung die rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne, die Präsident Emmanuel Macron (LREM/ALDE-nah) nutzen will, um seine Vision eines „souveränen Europa“ weiter voranzutreiben. Mit Frankreich beginnt auch eine neue Triopräsidentschaft, die in der zweiten Jahreshälfte mit Tschechien und in der ersten Hälfte 2023 mit Schweden fortgesetzt wird.

Zum anderen findet im April die französische Präsidentschaftswahl statt, bei der wie bereits vor fünf Jahren wieder eine Menge auf dem Spiel steht. Die aktuellen Umfragen lassen eine Stichwahl zwischen Macron und Marine Le Pen (RN/ID) oder Valérie Pécresse (LR/EVP) erwarten; in beiden Fällen hätte Macron einen leichten Vorteil. Aber das Rennen ist sehr knapp – und angesichts der Schockwelle, die ein Wahlsieg Le Pens auslösen würde, wird es auch den Rest der EU in Atem halten.

Schicksalswahl in Ungarn

Aber Frankreich ist nicht das einzige Land, in dem 2022 eine Schicksalswahl ansteht. Im Frühling findet auch die ungarische Parlamentswahl statt, bei der sich in diesem Jahr alle relevanten Oppositionsparteien zusammengeschlossen haben, um mit gemeinsamen Kandidat:innen gegen die Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/–) anzutreten. Die Umfragen sehen einen sehr knappen Wahlausgang voraus.

Angesichts der eingeschränkten Medienfreiheit und der Nutzung staatlicher Mittel für Parteizwecke gelten Wahlen in Ungarn schon länger als „frei, aber nicht fair“. Und selbst bei einem Sieg der Opposition dürfte die Zusammenarbeit in dem heterogenen Bündnis, das linke, liberale und rechtskonservative Parteien umfasst, schwierig werden – auch weil viele unter Orbán erlassene Gesetze nur mit Zweidrittelmehrheit zu ändern sind. Dennoch ist es auf absehbare Zeit wohl die beste Chance für einen demokratischen Neuanfang. 2022 könnte für Ungarn die letzte Gelegenheit sein, das Ruder herumzureißen.

Weitere Wahlen

Darüber hinaus finden noch in einer Reihe weiterer EU-Mitgliedstaaten Wahlen statt. In Portugal und Malta haben die sozialdemokratischen Regierungen Anfang des Jahres gute Aussichten, ihre Mehrheit zu verteidigen. In Schweden wird es im Herbst eng zwischen der sozialdemokratischen Regierung und dem Mitte-rechts-Block unter Führung der Moderaterna (EVP), der erstmals auch für eine Zusammenarbeit mit den nationalistischen SD (EKR) offen ist.

In Slowenien tritt im April die nationalpopulistische Regierung um Janez Janša (SDS/EVP) zur Wiederwahl an; in dem zersplitterten und unruhigen slowenischen Parteiensystem scheint das Ergebnis völlig offen. In Lettland muss die 2018 gebildete, instabile Mitte-rechts-Koalition im Herbst ihre Mehrheit verteidigen; auch hier erschweren volatile Umfragen und eine Vielzahl kleiner Parteien an der Grenze der Fünf-Prozent-Hürde Prognosen für den Wahlausgang.

Halbzeit im Europäischen Parlament

Wenig Aufregung dürfte diesmal hingegen die Halbzeit der Wahlperiode im Europäischen Parlament bringen, die Anfang 2022 erreicht ist. Zu diesem Anlass werden traditionell wichtige Positionen neu besetzt, was vor fünf Jahren zu einer Kampfabstimmung um das Amt der Parlamentspräsident:in führte.

In diesem Jahr bahnte sich ein ähnliches Szenario an. Letztlich verzichtete Amtsinhaber David Sassoli (PD/SPE) jedoch auf eine aussichtslos erscheinende Neukandidatur und machte dadurch den Weg für Roberta Metsola (PN/EVP) frei – die erste Malteser:in in einer EU-Spitzenposition. Mit Kommissions- und Parlamentspräsidentin wird die EVP damit wieder zwei der EU-Topjobs besetzen, während sie im Europäischen Rat ihre dominierende Position verloren hat.

Klima und Migration

Aber natürlich wird 2022 nicht nur gewählt, sondern auch Politik gemacht. Zum Beispiel beim Klimaschutz: Das große Klimapaket „Fit for 55“, das die Kommission im Sommer 2021 vorgelegt hat, wird nun im Europäischen Parlament und im Rat verhandelt. Unter anderem geht es um die Überarbeitung des EU-Emissionshandelssystems, die Einführung einer CO2-Grenzausgleichsabgabe, die Reform der Erneuerbare-Energien-Richtlinie und die Einführung eines Klima-Sozialfonds. Der Streit um die Einstufung von Gas und Atomkraft als „nachhaltige“ Energiequellen dürfte nur der Auftakt für eine Reihe an klimapolitischen Auseinandersetzungen gewesen sein.

Ein anderes Thema, das im neuen Jahr erneut auf der Tagesordnung steht, ist die Asyl- und Migrationspolitik. Bereits 2020 hat die Kommission hierzu umfassende Reformvorschläge vorgelegt, doch aufgrund der weit auseinandergehenden Positionen der Mitgliedstaaten im Rat gab es seitdem keine Fortschritte in den Verhandlungen. Nach einer gemeinsamen Erklärung der EU-Institutionen zu den Gesetzgebungsprioritäten 2022 soll das Thema im neuen Jahr nun als „dringliche Angelegenheit“ behandelt werden.

Schengen-Reform

Auf der Agenda steht zudem eine Reform des Schengen-Systems. Dessen Schwächen haben sich in den letzten Jahren deutlich gezeigt: Einige Mitgliedstaaten – insbesondere Deutschland – führten während der Asylkrise 2015 „vorübergehende Grenzkontrollen“ ein, die sie seitdem durchgehend beibehalten haben. Und während der Corona-Pandemie kam es immer wieder zu einseitigen Reisebeschränkungen durch Mitgliedstaaten, die über das vom Rat empfohlene Maß hinausgingen.

Vor diesem Hintergrund hat die Kommission eine Reform vorgeschlagen, die den Spielraum einzelner Staaten bei der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen reduzieren soll. Im Gegenzug soll die polizeiliche Zusammenarbeit in Grenzregionen intensiviert und auch der Schutz der Schengen-Außengrenzen stärker als eine gemeinsame EU-Angelegenheit behandelt werden. Die Vorschläge müssen nun zwischen Rat und Parlament verhandelt werden. Die Erfahrung früherer Schengen-Reformen lässt erwarten, dass es dabei einiges an Diskussionen geben wird.

Überarbeitung der EU-Defizitregeln

Und auch das fiskalpolitische Regelwerk der EU soll 2022 auf den Prüfstand kommen. In der Corona-Krise erwies sich die Lockerung von Defizitregeln und die Ausgabe europäischer Anleihen im Rahmen des Wiederaufbauinstruments Next Generation EU als wirksames Mittel gegen die Rezession. Zudem besteht ein wachsender Konsens darüber, dass Europa mehr Investitionen braucht – etwa für Infrastruktur, Digitalisierung, Klimaschutz.

Das hat eine neue Debatte über die Sinnhaftigkeit der EU-Defizitregeln ausgelöst, in der mit der deutschen und der niederländischen Regierung zuletzt auch zwei der wichtigsten fiskalpolitischen „Falken“ unter den Mitgliedstaaten eine gewisse Verhandlungsbereitschaft gezeigt (teils aber auch sofort wieder zurückgenommen) haben. Im ersten Quartal will die Kommission nun konkrete Vorschläge für eine Reform vorlegen.

Kampf um den Rechtsstaat

Auch der Konflikt um die Wahrung der europäischen Rechtsgemeinschaft und die gemeinsamen Werte der EU wird sich im neuen Jahr natürlich fortsetzen. Im Blickfeld steht dabei vor allem Polen, dessen regierungshöriges Verfassungsgericht 2021 nicht nur den Vorrang des Europarechts, sondern auch die Europäische Menschenrechtskonvention attackiert hat.

Umgekehrt hat der Europäische Gerichtshof jüngst ein Millionen-Zwangsgeld gegen Polen verhängt, um die Wiederherstellung einer unabhängigen Justiz zu erreichen. Im neuen Jahr werden für die EU weitere Instrumente hinzukommen: Zum einen sollen die Rechtsstaats-Länderberichte, die die Kommission seit 2020 jährlich herausgibt, künftig auch konkrete Empfehlungen an die Mitgliedstaaten enthalten.

Zum anderen dürfte der EuGH dann die Vertragskonformität des 2020 verabschiedeten Rechtsstaatsmechanismus bestätigen. Die Kommission hätte dann kein Grund mehr, diesen nicht einzusetzen; dass sie es nicht schon früher getan hat, brachte ihr im Oktober bereits eine Untätigkeitsklage des Europäischen Parlaments ein. Und auch die milliardenschweren Corona-Wiederaufbaupläne für Polen und Ungarn sind noch nicht bewilligt und könnten bei anhaltenden Rechtsstaatsverstößen weiter zurückgehalten werden.

Auch politisch steht die polnische Regierung zunehmend im Abseits – umso mehr, falls bei den anstehenden Wahlen in Ungarn und Slowenien ihre Verbündeten abgewählt werden sollten. Wirklich gelöst ist die Rechtsstaatskrise aber noch lange nicht. Sie bleibt die größte Gefahr für die Zukunft der Europäischen Union.

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik wird sich einiges tun – so viel, dass Ratspräsident Michel 2022 schon mal zum „Jahr der europäischen Verteidigung“ ausgerufen hat. Im März soll der neue Strategische Kompass verabschiedet werden, der die Grundlinien der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik definiert. Dabei soll auch gleich das Verhältnis zur NATO neu überdacht werden, die einige Monate später ihr neues Strategisches Konzept beschließen will.

Außerdem soll 2022 das „Global Gateway“ an Fahrt aufnehmen, ein globales Infrastruktur-Investitionsprogramm, das gemeinhin als Antwort der EU auf die chinesische „neue Seidenstraße“ verstanden wird. Im Februar 2022 soll außerdem endlich der seit zwei Jahren immer wieder verschobene Europa-Afrika-Gipfel stattfinden.

Europäisches Jahr der Jugend

2022 soll für Europa aber nicht nur ein Jahr der Verteidigung, sondern auch ein „europäisches Jahr der Jugend“ werden. Nachdem junge Menschen unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie besonders stark zu leiden hatten, wollen die Kommission und das Europäische Parlament sie nun ganz besonders in den Vordergrund stellen.

In der Praxis bedeutet das (neben vielen schönen Worten) insbesondere, dass die EU über Programme wie Erasmus+ ein Budget bereitstellt, aus dem dezentral organisierte Aktivitäten zur Jugendbeteiligung finanziert werden können. Außerdem startet in diesem Jahr das neue Programm ALMA, das die grenzüberschreitende Mobilität arbeitsloser junger Menschen fördern soll.

Die Zukunftskonferenz endet – beginnt der Verfassungskonvent?

Zeitplan der Konferenz zur Zukunft Europas
Die Zukunftskonferenz ist fast schon wieder vorbei.

Außerdem betonen die EU-Institutionen anlässlich des „Jugendjahrs“ gern, dass junge Menschen auch bei der Konferenz zur Zukunft Europas eine wichtige Rolle spielen. Die allerdings wird 2022 nach nur einem Jahr Laufzeit schon wieder enden. Nach dem Zeitplan der Konferenz stehen im Januar die letzten Treffen der Bürgerforen an. Anschließend wird die Plenarversammlung über die von den Foren vorgelegten Vorschläge diskutieren und Ergebnisse formulieren, auf deren Grundlage dann der Exekutivausschuss der Konferenz bis Mai einen Abschlussbericht erstellt.

Wie es danach weitergeht, ist unklar. Kommission, Parlament und Europäischer Rat haben zwar zugesichert, dass sie die Vorschläge der Konferenz aufgreifen werden. Wie das genau aussehen wird, muss sich aber erst noch zeigen. Einige Regierungen hätten wohl nichts dagegen, die Konferenz möglichst sang- und klanglos auslaufen zu lassen. Die neue deutsche Bundesregierung hat sich hingegen in ihrem Koalitionsvertrag darauf festgelegt, dass die Konferenz „in einen verfassungsgebenden Konvent münden“ sollte. Das Parlament wäre dazu sicher ebenfalls bereit. Man darf gespannt sein.

Wahlrechtsreform und Parteienreform

Über die Ausgestaltung der europäischen Demokratie wird allerdings nicht nur in der Konferenz diskutiert, sondern auch in den regulären Institutionen. Ende Januar steht im Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments eine Abstimmung über die EU-Wahlrechtsreform an, bei der es unter anderem um unterschiedliche Modelle gesamteuropäischer Listen geht. Parallel dazu hat die Kommission Ende November Vorschläge für eine Reform des europäischen Parteienrecht, des Unionsbürger-Kommunalwahlrechts sowie für die Regeln politischer Werbung gemacht, die 2022 von Parlament und Rat verhandelt werden.

Die Debatte über die Zukunft Europas ist in vollem Gang. Machen wir im neuen Jahr das Beste daraus!


Und nicht nur für die EU, auch für den Betreiber dieses Blogs geht das neue Jahr mit Veränderungen einher: Nach knapp drei Jahren am Institut für Europäische Politik in Berlin wechsle ich im Januar 2022 als Mitarbeiter an den Lehrstuhl für europäische Integration und Europapolitik der Universität Duisburg-Essen. Dieses Blog wird natürlich weiterhin die europapolitische Debatte begleiten – bleiben Sie dabei, es wird spannend.

Erst einmal aber geht „Der (europäische) Föderalist“ in seine alljährliche Winterpause. Allen Leser:innen frohe Feiertage und ein glückliches und gesundes neues Jahr!


Bilder: Weihnachtsmann mit Sternen: Vanil-Noir [CC BY-NC 2.0], via Flickr; Zeitplan der Zukunftskonferenz: Konferenz zur Zukunft Europas, via futureu.eu.

17 Dezember 2021

„Föderaler Bundesstaat“ und „strategische Souveränität“: Die europapolitischen Pläne der Ampelkoalition

Olaf Scholz hält ein Exemplar des Koalitionsvertrags in der Hand
Bringt dieser Kanzler den europäischen Bundesstaat?

Am 8. Dezember hat die neue Bundesregierung ihr Amt angetreten; gleich in den darauffolgenden Tagen reisten Kanzler und Außenministerin zu Antrittsbesuchen in Paris, Brüssel und Warschau. Nach sechzehn Jahren wurde die Ära Merkel durch eine Ampelkoalition abgelöst – eine Zäsur für Deutschland, aber auch für die Europäische Union, in der mit man großem Interesse neue Impulse aus dem größten Mitgliedstaat erwartet.

Mit SPD (SPE), Grünen (EGP) und FDP (ALDE) versammelt die neue Regierung die drei Parteien, die sich in ihren Bundestagswahlprogrammen am markantesten die Weiterentwicklung der EU zum Ziel gesetzt hatten. So will die SPD „die EU zur modernsten Demokratie der Welt machen“ und ein „souveränes Europa in der Welt“ schaffen. Die FDP spricht sich für einen „Verfassungskonvent“ aus, der „die Grundlage für einen föderal und dezentral verfassten Europäischen Bundesstaat“ legen soll. Und die Grünen haben eine „Föderale Europäische Republik mit einer europäischen Verfassung“ zu ihrem „Fixstern“ erklärt.

Der „Bundesstaat“ als Ziel

Es ist deshalb nur folgerichtig, dass es auch im Koalitionsvertrag der drei Parteien nicht an ambitionierten Formulierungen zur Europapolitik mangelt. Am auffälligsten ist zweifellos die Forderung, die bis Mai 2022 laufende Konferenz zur Zukunft Europas solle „in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung [der EU] zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“. Nach langen Jahren, in denen die deutsche Bundesregierung europapolitischen Visionen nach Möglichkeit aus dem Weg ging, ist diese deutliche Ansage zur Finalität der EU eine erfrischende Veränderung. Vor allem unter Föderalist:innen war die Begeisterung darüber groß.

Andere Reaktionen fielen hingegen skeptisch aus. Immerhin hatte auch die letzte Große Koalition 2018 durchaus prominent von einem „neuen Aufbruch für Europa“ gesprochen, diesen sogar ganz an den Anfang des Koalitionsvertrags gestellt – und dann wenige Taten folgen lassen, wenigstens bis zum Beschluss des historischen Corona-Wiederaufbaufonds im Sommer 2020. Kann man wirklich glauben, dass es der Ampel gelingen wird, die EU innerhalb von vier Jahren in einen Bundesstaat zu verwandeln? Papier ist bekanntlich geduldig.

Reaktionen in anderen Mitgliedstaaten

Auf jeden Fall aber sind die starken Worte im Koalitionsvertrag ein symbolischer Paukenschlag, der auch in anderen EU-Mitgliedstaaten vernommen wurde. Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán sagte der neuen Bundesregierung dann auch gleich in einem Essay den Kampf an; sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki bezeichnete ein föderales Europa als gefährlichen „bürokratischen Zentralismus“.

Der frühere belgische Premierminister und liberale Fraktionschef im Europäischen Parlament Guy Verhofstadt begrüßte hingegen, dass Deutschland wieder eine Führungsrolle in Europa übernehme. Und in Frankreich halten nach einer Umfrage 58 Prozent der Bevölkerung die europapolitische Linie der Ampelkoalition für eine „gute Sache“ – mit großer Zustimmung in allen Lagern mit Ausnahme der extremen Rechten.

Die Erwartungen an die neue Bundesregierung sind also hoch. Selbst wenn es mit dem europäischen Bundesstaat so schnell nichts wird, hat sie mit diesem Schlagwort einen Maßstab gesetzt, an dem sie ihre praktische Europapolitik wird messen lassen müssen. Was aber kündigt der Koalitionsvertrag konkret an?

Die Vorhaben im Koalitionsvertrag

In Sachen institutionelle Reform liegt die Ampel ganz auf föderalistischem Kurs: Unter anderem will sie ein stärkeres Europäisches Parlament, ein einheitliches Europawahlrecht mit transnationalen Listen und Spitzenkandidat:innen sowie eine Ausweitung von Mehrheitsabstimmungen im Rat. Großen Raum nimmt zudem die Verteidigung des Rechtsstaats ein – was auch der Hauptgrund für die harschen Reaktionen aus Budapest und Warschau sein dürfte.

Die Pläne in der Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialpolitik klingen weniger ambitioniert, aber auch hier gibt sich die Ampel reformbereit und für eine Vertiefung offen. Eine Neuauflage des Corona-Wiederaufbauinstruments in künftigen Krisen wird nicht versprochen, aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen. In Sachen Freizügigkeit will die Koalition die „Integrität des Schengenraums“ wiederherstellen und Ausnahmeregelungen (die die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen ermöglichen) „restriktiver“ nutzen. Asylpolitisch soll es eine „faire Verteilung“ bei der Aufnahme von Geflüchteten sowie eine „europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer“ geben.

Wofür wird die Ampel politisches Kapital einsetzen?

Auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik spielt im Koalitionsvertrag eine große Rolle. Mehrfach ist von einer „strategischen Souveränität der EU“ die Rede – ein Schlagwort, das auch der französische Präsident Emmanuel Macron immer wieder gebraucht und das der Koalitionsvertrag als „eigene Handlungsfähigkeit im globalen Kontext“ sowie als eine verringerte Abhängigkeit in Bereichen wie „Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologie“ definiert. Dafür sollen außenpolitische Entscheidungen im Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit erfolgen, der Europäische Auswärtige Dienst gestärkt werden und die Hohe Vertreter:in als „echte ‚EU-Außenministerin‘“ fungieren – was auch immer Letzteres genau bedeuten mag.

Aber wie das in der Europapolitik so ist: Die meisten dieser Ziele wird die Ampelkoalition nicht allein durchsetzen können, sondern nur durch Kompromisse mit anderen Mitgliedstaaten im Rat. Dies wirft die Frage auf, für welches Vorhaben sie wie viel politisches Kapital einzusetzen bereit ist. Eine Antwort darauf kann sich erst in der Praxis zeigen, und es ist durchaus möglich, dass nicht alle Parteien der Koalition hier immer dieselben Schwerpunkte setzen werden.

Das Europa-Team der neuen Koalition

Nicht zuletzt deshalb sind auch die Personen bedeutsam, die in den nächsten Jahren die europapolitische Verantwortung übernehmen werden. Wenig überraschend haben sich im Kabinett alle Koalitionsparteien relevante Ressorts gesichert: Während die SPD mit Olaf Scholz das Kanzleramt kontrolliert, liegen die für die Europakoordination zuständigen Ministerien – Auswärtiges Amt und Wirtschaftsministerium – in den Händen der grünen Minister:innen Annalena Baerbock und Robert Habeck. Die FDP wiederum holte für Christian Lindner das europapolitisch ebenfalls einflussreiche Finanzministerium.

Interessant für das Profil der Regierung ist aber auch die zweite Reihe: Als europapolitischen Berater im Kanzleramt bringt Scholz seinen Vertrauten Jörg Kukies, einen der Architekten des Corona-Wiederaufbauinstruments, aus dem Finanzministerium mit. Kukies’ Nachfolger als Europa-Staatssekretär wird dort Carsten Pillath, zuvor langjähriger Generaldirektor für Wirtschaft im EU-Ratssekretariat.

Die nächste Kommissar:in könnte ein Grüne:r sein

Im Wirtschaftsministerium werden der Finanzpolitiker Sven Giegold, bisher Leiter der Grünen-Delegation im Europäischen Parlament, sowie Franziska Brantner, bisher europapolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, als Staatssekretär:innen für Europathemen zuständig sein. Die neue Europa-Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Anna Lührmann, hat hingegen einen Hintergrund im Bereich Demokratieförderung – offenbar ein Zeichen für den Stellenwert, den die Rechtsstaatsfrage künftig für die deutsche Europapolitik spielen soll.

Der Vorsitz im Europaausschuss des Bundestags geht ebenfalls an die Grünen. Ihn übernimmt der ehemalige Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter, der bislang vor allem als Umwelt- und Verkehrspolitiker bekannt ist. Und schließlich sollen die Grünen laut Koalitionsvertrag auch das nächste deutsche Kommissionsmitglied vorschlagen, jedenfalls „sofern Deutschland nicht die Kommissionspräsidentin stellt“. Letzteres könnte passieren, falls sich Ursula von der Leyen (CDU/EVP) bei der Europawahl 2024 als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei eine zweite Amtszeit sichert. Dem würde sich die neue Bundesregierung offenbar nicht in den Weg stellen.

Mehr europapolitische Debatte zu erwarten

Wie harmonisch das Ampel-Team in den nächsten vier Jahren zusammenarbeiten wird, muss sich zeigen. Eine Drei-Farben-Koalition auf Bundesebene gab es in Deutschland noch nie; und als SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich kurz vor dem Amtsantritt der neuen Regierung erklärte, dass deutsche Außenpolitik „insbesondere im Kanzleramt gesteuert“ würde, kam das bei den Grünen nicht allzu gut an. Auch inhaltlich sind sich die drei Parteien gewiss nicht in allen Fragen einig.

Aber mehr europapolitische Debatte – auch in der Öffentlichkeit – muss ja kein Schaden sein. Der Start der neuen Regierung stimmt jedenfalls zuversichtlich, dass Deutschland in der Europapolitik und die Europapolitik in Deutschland in den kommenden Jahren an Präsenz gewinnen wird.

Dieser Beitrag ist in leicht gekürzter Form auch im Journal für Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) erschienen.


Bild: Olaf Scholz mit Koalitionsvertrag: Sandro Halank [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons.

09 Dezember 2021

Der globale Gipfel für Demokratie: Reden wir über Supranationalität!

Porträtfoto Joe Biden
Joe Biden will weltweit die Demokratie verteidigen. Aber eine globale Demokratie muss erst noch geschaffen werden.

 Am heutigen 9. Dezember – auf den Tag genau 30 Jahre nach dem Gipfel von Maastricht – beginnt der „globale Gipfel für Demokratie“, zu dem die US-amerikanische Regierung unter Joe Biden (Dem./PA) Vertreter:innen von Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus über hundert Ländern eingeladen hat. Es geht um die Frage, wie man den Herausforderungen entgegentreten kann, denen die Demokratie weltweit ausgesetzt ist. Auf der Agenda stehen unter anderem Podiumsdiskussionen zur Korruptionsbekämpfung, zum Umgang mit Desinformation, zum Schutz von Menschenrechten, Pressefreiheit und der Integrität von Wahlen. Die Veranstaltung findet im Internet statt und kann hier im Livestream mitverfolgt werden.

Wer ist eingeladen, wer nicht?

Bereits im Vorfeld hat der Gipfel einige Wellen geschlagen. Viel diskutiert wurde etwa die Liste der eingeladenen Regierungen, bei der sich die US-Regierung nicht auf einen harten Kern von Voll-Demokratien beschränkt hat. Stattdessen wurden auch einige Wackelkandidaten wie Pakistan eingeladen – und sogar Kongo, Angola und Irak, die im bekannten Freedom House Index als „nicht frei“ gewertet werden. Hintergrund waren offenbar eine Reihe von politischen Erwägungen: die Größe der Länder, ihre demokratische Entwicklung in den letzten Jahren, das Bevorstehen von wichtigen Wahlen und nicht zuletzt die geografische Ausgewogenheit, um den Gipfel nicht allzu europa- und amerikalastig werden zu lassen.

Weltkarte mit den Teilnehmerländern
Die Teilnehmerländer.

Umgekehrt fällt allerdings auch auf, wer nicht auf dem Gipfel eingeladen ist: Aus Südamerika fehlt etwa das politisch tief gespaltene Bolivien, aus Nordafrika Tunesien, das nach dem kalten Putsch im Sommer eine unruhige Zeit erlebt. Auch die Türkei ist nicht vertreten. Unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union wiederum darf Ungarn als einziger nicht teilnehmen. Bei der Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/–) löste das eine heftige Trotzreaktion aus, unter anderem in Form eines Vetos gegen die gemeinsame Gipfelposition der EU.

Chinas Reaktion

Unter den zwölf bevölkerungsreichsten Ländern der Welt schließlich gibt es nur zwei, die nicht zu dem Gipfel eingeladen sind – China und Russland. Und auch die chinesische Regierung nahm das nicht einfach mit einem Achselzucken hin. Mit Sicherheit war es kein Zufall, dass sie gerade am vergangenen Samstag ein Weißbuch mit dem Titel „China: Democracy that works“ veröffentlichte, in dem sie ihr eigenes Konzept einer „whole-process people’s democracy“ präsentiert. Das Kernargument: Nicht freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte machten eine Demokratie aus, sondern der Einsatz der Macht zum Wohle des Volkes und die harmonische Einheit von Bevölkerung, Partei und Staat.

Das ein solches Konzept jedem sinnvollen Verständnis von Demokratie hohnspricht, braucht nicht eigens betont zu werden. Zwar muss sich gerade die EU dabei durchaus auch an die eigene Nase fassen: Das Argument, dass technokratische Output-Legitimität oder bloße „Bürgerbeteiligung“ eine Art funktionaler Ersatz für bedeutungsvolle Europawahlen sein könnten, ist ja auch hier zuweilen in der Debatte zu hören.

Geopolitische Auseinandersetzung

Aber man braucht es mit der Selbstkritik auch nicht zu übertreiben: Der Unterschied zwischen dem europäischen Demokratiedefizit und der chinesischen Parteidiktatur ist offensichtlich. Auch das Argument der chinesischen Regierung, dass Demokratie eben jeweils den lokalen Besonderheiten angepasst werden müsse, kann kein Vorwand sein, um jedes beliebige Herrschaftssystem als eine spezielle Spielart der Demokratie zu rechtfertigen.

Am ehesten dürften das chinesische Weißbuch und der Zeitpunkt seines Erscheinens als ein Versuch zu verstehen sein, rhetorische Verwirrung zu stiften und den positiv besetzten Begriff „Demokratie“ nicht allein den USA und ihren Verbündeten zu überlassen. Dass sich die chinesische Regierung überhaupt so sehr an dem Demokratiegipfel abmüht, ist allerdings Symptom eines größeren Problems: Auf dem Gipfel geht es nicht nur darum, die bestehenden Demokratien zu festigen und weiterzuentwickeln. Er steht auch im Schatten der sich verschärfenden weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen dem „Westen“ einerseits und China und Russland andererseits.

Neue Systemkonkurrenz

Dass der Gipfel solcherart geopolitisch aufgeladen wurde, war nicht ganz zu vermeiden. Denn die Herausforderungen, denen die nationale Demokratie in vielen der Teilnehmerstaaten ausgesetzt ist, kommen zwar zum großen Teil von innen: die Vervielfältigung medialer Diskursräume, neue Debatten um Inklusion und Exklusion von Bevölkerungsgruppen, der Aufstieg populistischer und autoritärer Parteien, eine zunehmende Bereitschaft zu constitutional hardball.

Doch gerade die russische Regierung hat in den vergangenen Jahren immer wieder auch aktiv versucht, mit Desinformationskampagnen und anderen Mitteln demokratische Prozesse in anderen Ländern zu stören. China wiederum hat die Demokratie in Hongkong zerstört und erhöht den Druck auf Taiwan. Umgekehrt wenden sich nationale liberal-demokratische Bewegungen – ob in Belarus oder Venezuela – auf der Suche nach internationaler Unterstützung bevorzugt an die USA und die EU. Die neue „Systemkonkurrenz“ zwischen demokratischen und autokratischen Großmächten ist nicht nur eine Erfindung westlicher Geopolitiker:innen.

Demokratie ist zu wichtig, um Geopolitik untergeordnet zu werden

Die geopolitische Aufladung des Gipfels ist aber auch ein Problem, denn sie droht von der eigentlichen Zielsetzung abzulenken. In der globalen Auseinandersetzung zwischen den USA und China (und der EU und Russland) geht es eben nicht um Verfassungswerte allein, sondern oft genug auch einfach um entgegengesetzte ökonomische Interessen: um die Kontrolle von Handelswegen, die Versorgung mit Rohstoffen, den Zugang zu Absatzmärkten. Und natürlich geht es um den Aufbau von strategischen Partnern, um die politische Präsenz in bestimmten Weltregionen, um diplomatische und militärische Allianzen – kurz: um das jahrhundertealte Spiel der Großmächte um die globale Hegemonie.

Sieht man den Demokratiegipfel durch diese Linse, so wirkt er allzu leicht als ein bloßer Versuch der USA, international gleichgesinnte Regierungen um sich zu scharen, um seine geopolitische Position zu verbessern – eine Art „Nato-plus“, die ihren Sinn vor allem aus der Konfrontation mit China und Russland bezieht. Die Versuchung dazu ist zweifellos auch auf amerikanischer Seite vorhanden. Doch das Ziel der Demokratieförderung ist zu wichtig, um geostrategischen Fragen untergeordnet zu werden. Wenn der Gipfel gelingen soll, dann muss er nach innen statt nach außen gerichtet sein: auf eine konkrete Agenda zur Verbesserung des politischen Systems der beteiligten Staaten, nicht auf ein politisches Kräftemessen mit anderen, nicht-demokratischen Ländern.

Eine defensive Gipfelagenda

In diesem Sinn ist es ein Problem, dass die Gipfelagenda stark defensiv geprägt ist: In den meisten Podiumsdiskussionen geht es um Gefahren, denen die Demokratie in den Mitgliedstaaten ausgesetzt ist, um Korruption und Desinformation, um „Resilienz“ und den „Schutz demokratischer Institutionen“. Diese ganze Rahmensetzung lädt dazu ein, sich auf die Feind:innen der Demokratie zu konzentrieren – und schlimmstenfalls in geopolitische Grabenkämpfe zu verfallen.

Zu kurz droht demgegenüber der Ausbau und die Weiterentwicklung der Demokratie zu kommen. Nur in einigen Sitzungstiteln (etwa „Democracy-Affirming Technology“ oder „Expanding Civic Space“) scheint eine solche Agenda durch. Insgesamt aber wirkt das Gipfelprogramm, als ginge es vor allem darum, das Modell des liberal-demokratischen Nationalstaats, mit dem der Westen einst den Kalten Krieg gewann, gegen neue Anfeindungen zu bewahren.

Demokratie im Weltmaßstab muss erst noch erschaffen werden

Das ist umso bedauerlicher, als Demokratie gerade im Weltmaßstab durchaus nichts Fertiges ist, das es nur noch zu verteidigen gälte. Im Gegenteil: Demokratische Prinzipien sind bislang fast überall auf der Welt nur auf nationaler (und in einigen Fällen auf kontinentaler) Ebene verwirklicht. Jenseits davon gibt es wenig mehr als intergouvernementale Organisationen und das immer wieder prekäre Völkerrecht – keine überstaatlichen Parlamente, in denen demokratisch legitimierte Abgeordnete grenzüberschreitend verbindliches Recht setzen, und keine Gerichte, vor denen Einzelne dieses Recht einklagen könnten.

Das mag, in der Theorie, so lange angegangen sein, wie die meisten gesellschaftlich relevanten politischen Fragen allein die nationale Ebene betroffen haben. Aber in einer Zeit, die von globaler Wirtschaftsverflechtung, von weltweiten Migrationsströmen, von einer planetaren Klimakrise und einer Pandemie geprägt ist, kann man rein nationalstaatliche Demokratien kaum als der demokratischen Weisheit letzten Schluss behandeln. Im Gegenteil: Auf die Dauer nimmt auch die nationale Demokratie Schaden, wenn sie durch die „Sachzwänge“ der Globalisierung ihre Handlungsfähigkeit verliert, ohne dass es Mechanismen gibt, die Globalisierung selbst demokratisch zu steuern. Das Rodrik-Trilemma lässt grüßen.

Vom Demokratiegipfel zur globalen demokratischen Union

Es müsste also darum gehen, in globalen Fragen den heutigen Intergouvernementalismus zu überwinden und gemeinsame Angelegenheiten auch in gemeinsam gewählten Institutionen zu behandeln. Der naheliegendste Weg dahin, eine Demokratisierung der Vereinten Nationen, ist nicht zuletzt aufgrund von China und Russland auf absehbare Zeit kaum realistisch. Aber was spräche denn dagegen, schon einmal in etwas kleinerem Rahmen mit einer weltweiten überstaatlichen Demokratie zu beginnen – etwa mit einer Gruppe von jenen Ländern, die jetzt bei dem Demokratiegipfel versammelt sind?

Warum schaffen wir nicht eine globale „Demokratische Union“ mit einem supranationalen Parlament, das über ausgewählte Themen, die alle Mitgliedstaaten angehen, echte Entscheidungsgewalt hat? Zudem scheint es recht offensichtlich, dass wir im Zuge der Klimakrise künftig nicht um ein wachsendes Ausmaß an globaler finanzieller Umverteilung herumkommen werden. Warum sollte dies zwischenstaatlich geschehen und nicht über supranationale Institutionen mit einem eigenen Budget? Und beobachten wir nicht gerade am Fall Polen, dass ein überstaatlicher Gerichtshof, der im Rahmen einer verbindlichen supranationalen Rechtsordnung echte Sanktionen verhängen kann, das wirksamste Mittel der Staatengemeinschaft gegen aufstrebende Autokrat:innen ist?

Und wenn das alles zu viel verlangt ist, warum dann nicht wenigstens mit einer parlamentarischen Versammlung und einem transnationalen Bürgerforum beginnen, die eine verstärkte globale Zusammenarbeit jenseits intergouvernementaler Foren in Gang setzen – und vielleicht den Weg ebnen, damit andere demokratische Fortschritte in Zukunft möglich werden?

Was ist uns der höhere Wert: Souveränität oder Demokratie?

Eine solche supranational-parlamentarische „Demokratische Union“ wäre in erster Linie nach innen gerichtet. Wenn sie gut funktioniert (und mit einem angemessenen Budget ausgerichtet ist), würden ihr natürlich weitere Staaten beitreten wollen, was – wie aus der Geschichte der EU bekannt – einen wichtigen Demokratisierungsanreiz bieten kann. Aber sie würde auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren und nicht der Konfrontation mit autoritären Regierungen dienen, die sich daran ohnehin nicht würden beteiligen wollen.

Auf dem globalen Gipfel für Demokratie werden solche Vorschläge heute jedoch aller Voraussicht nach kein Thema sein. Im Zweifel schreiben viele Regierungen der nationalen Souveränität dann doch einen höheren Wert zu als der (zumal überstaatlichen) Demokratie. Das gilt auch und gerade für den Gastgeber USA. Aber das muss ja nicht so bleiben. Und vielleicht lädt ja auch die Europäische Union in einem der nächsten Jahre noch einmal zu einem globalen Demokratiegipfel ein, der die supranationale Dimension ausdrücklich in den Blick nimmt? Es gäbe viel, über das es sich zu reden lohnen würde.

Dieser Beitrag ist in leicht gekürzter Form auch auf Englisch auf dem Blog von Democracy Without Borders erschienen.


Bilder: Porträt Joe Biden: A. Shaker/VOA, Public domain, via Wikimedia Commons; Weltkarte Teilnehmerländer: Sangjinhwa, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.

03 Dezember 2021

Differenzierte Integration als bewusste politische Entscheidung?

Von Vittoria Meißner und Funda Tekin.
Zugehörigkeit von europäischen Staaten zu überstaatlichen Organisationen. Die Organisationen sind nach Art eines Venn-Diagrammsdurch einander überlappende Rechtecke dargestellt. In den Rechtecken befinden sich die Nationalflaggen der jeweiligen Mitgliedstaaten. Dargestellt sind EU, Europarat, Schengen-Raum, EU-Zollunion, Europäischer Wirtschaftsraum, Eurozone, Assoziierte Euronutzer, EFTA, Common Travel Area UK-Ireland, Eurasische Wirtschaftsunion, GUAM und Mitteleuropäisches Freihandelsabkommen.
„Ein wesentliches Problem in der politischen Debatte über differenzierte Integration sind ein fehlendes gemeinsames Verständnis und teilweise begriffliche Verwirrung.“

Differenzierte Integration ist Teil der Realität der heutigen EU: Von der Wirtschafts- und Währungsunion über den Schengen-Raum bis zur verstärkten Zusammenarbeit gibt es eine Vielzahl von Beispielen dafür. Doch obwohl das Ausmaß an Differenzierung in Europa über die Jahre immer weiter zugenommen hat, wurde sie von den EU-Institutionen meist nur als eine Art Kollateralschaden der Integration angesehen – als eine „zweitbeste Option“, die hingenommen werden muss, wenn ein Fortschritt im Rahmen der Gesamt-EU nicht möglich ist.

Nur selten wurde bisher hingegen die Frage beleuchtet, ob Differenzierung auch eine bewusste politische Entscheidung der EU-Bürger:innen und der nationalen Entscheidungsträger:innen darstellen könnte – zum Beispiel, weil sie angesichts unterschiedlicher nationaler oder lokaler Präferenzen für ein bestimmtes Problem in einer bestimmten Politik die optimale Lösung widerspiegelt.

In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 untersuchte das Horizon-2020-Projekt EU IDEA in zwei Policy Papern (Nr. 15 und Nr. 17) Präferenzen von EU-Bürger:innen und nationalen politischen Entscheidungsträger:innen in der EU, aber auch in Nicht-EU-Mitgliedstaaten, in Bezug auf differenzierte Integration. Auf der Grundlage von zwei umfassenden Datensätzen, die durch eine Meinungsumfrage (August-September 2020) und mehr als 100 Interviews (Oktober 2020-Januar 2021) erhoben wurden, ergaben sich einige zentrale Beobachtungen.

Fehlendes Verständnis erschwert die Debatte

Ein wesentliches Problem in der politischen Debatte über differenzierte Integration sind ein fehlendes gemeinsames Verständnis und teilweise begriffliche Verwirrung. Tatsächlich herrscht schon in der Wissenschaft keine Einigkeit über eine einheitliche Definition des Begriffs. Umso schwieriger ist es, dieses Konzept einer breiten Öffentlichkeit klar zu vermitteln. Aber auch bei den politischen Akteur:innen wurde mangelndes Verständnis deutlich, wenn sie beispielsweise die Begriffe „verstärkte Zusammenarbeit“ und „Opt-outs“ als Synonym verwendeten, obwohl das eine die engere Kooperation zwischen mindestens neun EU-Mitgliedstaaten im Rahmen von Artikel 20 des Vertrags über die Europäische Union (z.B. die europäische Staatsanwaltschaft, die gegen grenzübergreifende Großkriminalität zulasten des EU-Haushalts vorgeht) und das andere eine in den Protokollen zu den Verträgen geregelte permanente Ausnahmeklausel für einen einzelnen EU-Staat darstellt (z.B. die Opt-outs Dänemarks von der Gemeinschaftswährung oder der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik).

Wie die Meinungsumfrage zeigte, ist unzureichendes Wissen zur differenzierten Integration in der Öffentlichkeit auch ein Hindernis für die politische Meinungsbildung. Über alle Bildungsschichten hinweg waren 37% der Befragten gleichgültig gegenüber der Idee, dass eine Gruppe von Mitgliedstaaten die Option haben sollte, in bestimmten Fragen enger zusammenzuarbeiten; 45% stimmten ihr zu, 18% lehnten sie ab. Unter Befragten mit niedrigem Bildungsgrad war der Anteil an Gleichgültigen dabei höher (44%) als bei denen mit höherem Bildungsgrad (30%).

Die allgegenwärtige Gefahr des Euroskeptizismus

Das fehlende gemeinsame Verständnis von differenzierter Integration erschwert es also offenbar, deren Bedeutung im Hinblick auf den allgemeinen EU-Integrationsprozess der Öffentlichkeit zu vermitteln. Besonders problematisch kann dies werden, wenn euroskeptische politische Akteur:innen das Ziel der Differenzierung zu ihren Gunsten verdrehen.

In Frankreich, Finnland und vor allem in der Tschechischen Republik befürworteten Vertreter:innen von euroskeptischen Parteien und Gruppierungen in den Interviews den Prozess der differenzierten Integration, da sie eine solche Form der Zusammenarbeit angesichts der Heterogenität der EU nicht nur für angemessen. Diese Präferenz ist jedoch hauptsächlich mit der Instrumentalisierung der Differenzierung zur Wahrung eigener nationaler Interessen verbunden, während das europäische Projekt insgesamt in Frage gestellt wird.

Eine solche Interpretation flexibler Formen der Zusammenarbeit steht im Gegensatz zu dem Grundgedanken einer stärkeren und tieferen EU-Integration. Wenn das eigentliche Ziel von Differenzierung die Erreichung einer effektiveren Union mit einem starken Zusammenhalt sein soll, dann muss solchen euroskeptischen Instrumentalisierungen entgegengewirkt werden.

Differenzierung als bevorzugter Weg – aber nur unter Bedingungen

Jenseits der Euroskeptiker:innen gibt es aber auch politische Akteur:innen, die differenzierte Integration als pragmatische und wirksame Alternative für eine stärkere europäische Integration in einigen Politikbereichen wahrnehmen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn sie einen integrativen Charakter hat. Entsprechend soll jegliche Form von Differenzierung jedem Staat die Möglichkeit bieten, zu einem späteren Zeitpunkt beizutreten. Daher sind permanente Opt-Outs keine bevorzugte Form der differenzierten Integration.

Eine differenzierte Integration wird insbesondere in den Bereichen der Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitik, die sensible Souveränitätsfragen von Nationalstaaten berühren, als bewusste politische Entscheidung gesehen. Befragte Entscheidungsträger:innen in Deutschland bevorzugen in diesem Bereich eine zeitliche begrenzte differenzierte Integration der mehreren Geschwindigkeiten, wie zum Beispiel im Fall der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion oder der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit PESCO, während Französ:innen eher eine permanente Differenzierung befürworten, wenn dies erforderlich ist.

Auch was die öffentliche Meinung betrifft, besteht für die Mehrheit der Befragten kein ausdrücklicher Widerspruch zwischen mehr Integration und Differenzierung. Unter Bürger:innen, die sich weniger Integration wünschen, unterstützen nur 35% den Differenzierungsansatz. Unter jenen, die die europäische Integration befürworten, sind hingegen 53% auch für Differenzierung.

Diese Präferenz ändert sich jedoch, wenn es um Krisen geht. Wenn die EU mit großen Herausforderungen konfrontiert ist – etwa der jüngsten Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit der Pandemie –, ist Differenzierung nicht mehr die bevorzugte Präferenz der EU-Bürger:innen. Für 63% der Befragten erfordern wirtschaftliche Herausforderungen vielmehr ein gemeinsames Vorgehen aller EU-Mitgliedstaaten.

Ein maßgeschneiderter Ansatz zur externen Differenzierung

Differenzierte Integration gibt es allerdings nicht nur im Inneren der EU, sondern auch nach außen: Häufig werden Nachbarländer in bestimmte EU-Politikbereiche eingebunden – so wie Island, Lichtenstein und Norwegen in den gemeinsamen Binnenmarkt oder Island, Norwegen und die Schweiz in den Schengen-Raum. Wie die Meinungsumfrage und die Interviews zeigen, kann auch diese Form der Einbindung eine bewusste Entscheidung sein. Zum Beispiel würden norwegische Vertreter:innen eine stärkere Kooperation mit der EU in den Politikbereichen, wie der Klima- und Umweltpolitik, eingehen, um die eigene Position nicht nur in der EU, sondern auch international zu stärken.

In den Beziehungen zwischen der EU und Drittländern ist ein maßgeschneiderter Ansatz für jede differenzierte Form der Zusammenarbeit unvermeidlich. So werten die befragten Bürger:innen in den Drittländern die Zusammenarbeit mit der EU als recht positiv, wenngleich die Wahrnehmungen je nach Stand und Form der etablierten Beziehungen variieren. In der Ukraine wünschen sich 57 % der Befragten engere Beziehungen zur EU, in Norwegen sind 37 % der Befragten mit dem Status quo voll und ganz zufrieden, während in der Türkei 25 % der Befragten keine Meinung dazu haben. Im Vereinigten Königreich sind mehr als 50 % der Befragten der Ansicht, dass eine engere Zusammenarbeit mit der EU von Vorteil wäre, während 42 % der Befragten lockerere Formen befürworten.

Unter den politischen Akteur:innen zeigt sich ein ähnliches Bild. Für viele politische Entscheidungsträger:innen in der Türkei und der Ukraine bleibt externe Differenzierung allerdings eine zweitbeste Lösung: Statt einer engen Außenbeziehung zur EU würden sie eher eine potenzielle Mitgliedschaft befürworten. Diese Perspektive ist jedoch für beide Länder derzeit nicht realisierbar, weder mittel- noch langfristig. In Norwegen wiederum ist die Mehrheit der befragten politischen Akteur:innen mit dem derzeitigen Status quo zufrieden. Dennoch könnte die EU in Erwägung ziehen, mit der Ukraine und Norwegen zu einer engeren Zusammenarbeit in bestimmten Politikbereichen wie der Sicherheits- und Umweltzusammenarbeit zu gelangen, um dadurch die Wirksamkeit der externen Differenzierung zu erhöhen bzw. eine engere Kooperation zu erzielen.

Im Vereinigten Königreich schließlich sprechen trotz des Brexits die Präferenzen insgesamt für mehr Zusammenarbeit und insbesondere für eine engere wirtschaftliche und sicherheitspolitische Beziehung mit der EU, zum Beispiel im Hinblick auf den Austausch von Informationen. Obwohl mittelfristig die Aushandlung eines Ad-hoc-Abkommens zwischen Brüssel und London das wahrscheinlichste Szenario bleibt, könnte die EU auf eine Beziehung hinarbeiten, die dem Modell des Europäischen Wirtschaftsraums folgt.

Differenzierung als bewusste Entscheidung?

Differenzierung sollte immer eine bewusste politische Entscheidung je nach Politikbereich sowie Präferenzen sein und nicht als Allheilmittel für eine festgefahrene Situation in der europäischen Integration verstanden werden. Dies gilt vor allem aus der Sicht von politischen Entscheidungsträger:innen, die Differenzierung bewusst befürworten, solange diese für alle offen ist und somit mehrere Geschwindigkeiten erlaubt. Insgesamt wird die differenzierte Integration von den politischen Eliten der an der Umfrage beteiligten EU-Mitglieder als wünschenswert und effektiv angesehen, solange sie nicht die Kernbereiche der EU, wie zum Beispiel die vier Freiheiten des Binnenmarkts, beeinträchtigt oder berührt. Auch darf es keine Flexibilität bei den Grundwerten der EU wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geben.

Die Befragten in den EU-Mitgliedstaaten sehen Formen der verstärkten Zusammenarbeit als positive Lösung an, während Opt-outs eine eindeutig negative Konnotation haben. Daraus folgt, dass eine Differenzierung der mehreren Geschwindigkeiten die vorherrschende politische Wahl darstellt, allerdings mit einigen Unterschieden zwischen den Politikbereichen und Ländern. Solange Formen von differenzierter Integration keine Risiken für die gesamte EU-Integration mit sich bringen, wie etwa im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sollten sie als ein Instrument für diejenigen Mitglieder betrachtet werden, die die EU-Integration vorantreiben wollen, ohne darauf warten zu müssen, dass alle Mitglieder an Bord sind.

Gleichzeitig sind die EU-Bürger:innen nicht gut über differenzierte Integration informiert und stehen ihr oft ablehnend gegenüber. Die Tatsache, dass der Anteil der Agnostiker:innen unter den Befragten bei den konkreteren Fragen zu einzelnen Politikbereichen deutlich geringer war, zeigt auch, dass das Framing der differenzierten Integration entscheidend ist und die Einschätzung der Befragten beeinflussen kann.

Porträt Vittoria Meißner

Dr. Vittoria Meißner ist wissenschaftliche Referentin der Geschäftsführung am Institut für Europäische Politik Berlin.


Porträt Funda Tekin

Dr. Funda Tekin ist eine der beiden Direktorinnen des Instituts für Europäische Politik Berlin.


Dieser Beitrag beruht auf unserem EU IDEA Policy Paper „Differentiated Integration as a Conscious Policy Choice: The Way Forward“.Zudem beinhaltet er Gedanken, Erkenntnisse und Ideen von Anna Stahl (Jacques Delors Centre), Autorin des EU IDEA Policy Papers „PublicOpinion on an Ever More Differentiated EU“. Beide Papers sind im September 2021 erschienen.


Bilder: Europäische Organisationen und ihre Mitgliedstaaten: The Emirr, Wdcf, Mrmw, NikNaks93, SomnusDe, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons; Porträt Vittoria Meißner, Funda Tekin: privat [alle Rechte vorbehalten].

19 November 2021

Heute vor vierzig Jahren: Warum Altiero Spinelli die Genscher-Colombo-Initiative ablehnte

Sagen Sie uns nicht, dass der Rat in fünf Jahren […] im Licht der gemachten Erfahrungen, falls notwendig, einen Vertrag vorschlagen wird, um die Union zu konsolidieren. Sagen Sie lieber, dass es hier keine Erfahrungen zu machen gibt, dass für die, die verstehen wollen, in dieser Angelegenheit bereits alles bekannt ist, aber dass Sie Ihr Möglichstes tun werden, um […] dem Parlament die notwendige [Zeit] zu geben, um das Projekt eines Grundgesetzes für die Europäische Union vorzubereiten und es den Mitgliedstaaten zur Ratifikation vorzulegen.

Altiero Spinelli, 19. November 1981

Porträtfoto Altiero Spinelli
Altiero Spinelli.

Wie gelingt eine europäische Vertragsreform? Darüber wurde heute vor genau vierzig Jahren im Europäischen Parlament diskutiert.

Anlass dafür war eine gemeinsame Initiative, die die Außenminister von Deutschland und Italien, Hans-Dietrich Genscher und Emilio Colombo präsentiert hatten, um die seit mehreren Jahren anhaltende Krise der Europäischen Gemeinschaften zu überwinden. Zunächst ohne die bestehenden Verträge zu verändern, sollten sich die Staats- und Regierungschefs mit einer „Europäischen Akte“ zu dem Ziel einer intensivierten politischen Zusammenarbeit bekennen. Fünf Jahre später sollte dann im Licht der gesammelten Erfahrungen über eine mögliche Vertragsreform beraten werden.

Die Spinelli-Initiative

Gleichzeitig war aber auch das Europäische Parlament aktiv geworden: Im Juli 1981 hatte es mit großer Mehrheit eine Resolution angenommen, nach der ein neu einzusetzender „Ausschuss für institutionelle Fragen“ (der heutige AFCO) eigene Vorschläge für eine Vertragsreform unterbreiten sollte. Berichterstatter für dieses Projekt wurde der 74-Jährige Altiero Spinelli – einst antifaschistischer Widerstandskämpfer, dann treibende Kraft in der Union Europäischer Föderalisten, Mitglied der Europäischen Kommission und seit 1976 parteiloser Europaabgeordneter auf der Liste der italienischen Kommunistischen Partei.

Spinellis Ansatz: Nicht eine Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten, sondern die Abgeordneten selbst sollten eine europäische Verfassung ausarbeiten – und dann direkt den nationalen Parlamenten zur Ratifikation vorlegen. Als am 19. November 1981 die beiden Außenminister ihre Initiative im Europäischen Parlament vorstellten, hielt er ihnen seine Überzeugung entgegen: Nicht durch Diplomatie, sondern nur durch überstaatlichen Parlamentarismus seien Fortschritte bei der europäischen Integration zu erwarten.


Der Wortlaut der Rede und ein von mir verfasster Essay über ihre Hintergründe sind auf dem Themenportal Europäische Geschichte von Clio-online zu finden.

Heute vor dreißig Jahren: Die turbulenten Wochen vor Maastricht

Und heute vor dreißig Jahren? Im November 1991 fieberten die Europäischen Gemeinschaften auf den Gipfel hin, der Anfang Dezember in Maastricht stattfinden sollte. Während die Staats- und Regierungschefs in bilateralen Vortreffen Allianzen schmiedeten und nach möglichen Kompromissen suchten, wetterte in Großbritannien die ein Jahr zuvor zurückgetretene Premierministerin Margaret Thatcher (Cons./ED) gegen ihren Nachfolger John Major (Cons./ED) und forderte ein nationales Referendum über die Ergebnisse des Gipfels.

Aber auch unter Proeuropäer:innen war die Frustration kurz vor Maastricht groß. Kommissionspräsident Jacques Delors (PS/BSPEG) schimpfte über die geplante Einstimmigkeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, und das Europäische Parlament spielte öffentlich mit der Idee, seine Zustimmung der Reform zu verweigern. Währenddessen liefen die deutschen Medien Sturm gegen das „Opfer der D-Mark“, und der spanische Regierungschef Felipe González (PSOE/BSPEG) drohte mit einem Veto, wenn die Währungsunion nicht von einem „Konvergenzfonds“ begleitet sein würde, der Finanztransfers an die ärmeren Mitgliedstaaten sicherstellen sollte.


Für alle, die die Ereignisse der turbulenten Wochen vor Maastricht tagesaktuell mitverfolgen wollen, gibt es hier einen „historischen Liveblog“ auf Twitter.
Und warum der Vertrag von Maastricht zwar zu einer Konstitutionalisierung des europäischen politischen Systems, aber nicht zu einem Verfassungsmoment in der europäischen Öffentlichkeit führte, lässt sich in meiner Dissertation nachlesen, die Anfang dieses Jahres erschienen ist.

Bild: Porträt Altiero Spinelli: uhbekannter Fotograf [Public Domain], via Wikimedia Commons.

16 November 2021

Europäische Listen mit nationalen Quoten? Die Vorschläge der Fraktionen zur EU-Wahlrechtsreform

Europaflagge mit Schriftzug VOTE
Die Debatte über gesamteuropäische Listen nimmt an Fahrt auf. Aber nicht alle Fraktionen im Europäischen Parlament stellen sich darunter dasselbe vor.

Die Reform des Europawahlrechts nimmt im Europäischen Parlament Gestalt an: Nachdem der zuständige Berichterstatter Domènec Ruiz Devesa (PSOE/SPE) Anfang Juli seinen Entwurf dafür vorgelegt hatte, konnten die übrigen Mitglieder im Ausschuss für konstitutionelle Fragen bis Anfang November Änderungsanträge vorlegen. Nun wird darüber verhandelt, bereits am 9. Dezember soll im Ausschuss abgestimmt werden. Eine Entscheidung im Parlamentsplenum ist dann für März 2022 geplant; anschließend muss sich der Rat mit der Reform befassen.

Das wichtigste und kontroverseste Thema bei diesen Verhandlungen sind, natürlich, die gesamteuropäischen Listen. Während sich ein Teil der Abgeordneten – vor allem bei Sozialdemokrat:innen, Liberalen und Grünen – von ihnen einen wichtigen Durchbruch für stärkere europäische Parteien und eine transnationale Öffentlichkeit verspricht, haben andere – vor allem die Europäische Volkspartei (EVP) und die Rechtsfraktionen – den Vorschlag in der Vergangenheit wiederholt blockiert. Und auch die nationalen Regierungen sind geteilt zwischen Unterstützer:innen wie Frankreich, Italien oder Spanien und Skeptiker:innen, darunter vor allem kleinere Mitgliedstaaten. (Warum ich selbst europäische Listen für den derzeit wichtigsten Hebel für eine demokratischere EU halte, habe ich hier beschrieben.)

Garantien für die kleinen Mitgliedstaaten

Im neuen Anlauf geht es den Befürworter:innen gesamteuropäischer Listen deshalb auch darum, Vorbehalte auszuräumen und Brücken zu bauen. Im Fokus stehen dabei besonders die kleineren Mitgliedstaaten, die befürchten, dass gesamteuropäische Listen de facto vor allem den größeren Ländern zugute kämen: Da die meisten EU-Bürger:innen in großen Mitgliedstaaten leben, wird erwartet, dass die europäischen Parteien die aussichtsreichsten Sitze auf den gesamteuropäischen Listen vor allem an Kandidat:innen aus größeren Ländern vergeben würden.

Um dem entgegenzuwirken, enthält der Devesa-Entwurf eine Quotenregelung, der sicherstellen soll, dass auf den gesamteuropäischen Listen größere, mittlere und kleinere Länder ausgewogen vertreten sind. Dieses Modell hat allerdings nicht alle Abgeordneten überzeugt: Sowohl die Fraktion der Grünen/EFA als auch die liberale RE-Fraktion haben eigene Vorschläge mit anderen Quotenregelungen vorgelegt. Einen weiteren Alternativvorschlag gibt es von dem französisch-italienischen RE-Abgeordneten Sandro Gozi (IV/EDP), der auch Präsident der Union Europäischer Föderalisten ist.

Die EVP schließlich hat ein gänzlich eigenes Modell präsentiert, das zwar die Begrifflichkeiten gesamteuropäischer Listen aufgreift, in der Praxis aber völlig anders funktionieren würde. In diesem Artikel sollen die verschiedenen Vorschläge näher beleuchtet und miteinander verglichen werden.

Der Devesa-Entwurf

Nach dem ursprünglichen Entwurf des Sozialdemokraten Ruiz Devesa soll es einen neuen EU-weiten Wahlkreis geben, über den 46 Sitze vergeben würden – zusätzlich zu den bestehenden nationalen Kontingenten, an denen sich nichts ändern würde. Die Gesamtgröße des Europäischen Parlaments wüchse also von derzeit 705 auf 751 Sitze.

Für diese 46 neuen Sitze würden die europäischen Parteien (oder auch ad hoc gebildete „europäische Wahlkoalitionen“, die nicht als europäische Parteien anerkannt sein müssten) Listen mit jeweils 46 Kandidat:innen aufstellen. Diese Listen sollen geschlossen sein – das heißt, es gäbe auf jeder Liste eine feste Kandidatenreihenfolge, die die Wähler:innen nicht durch Vorzugsstimmen verändern könnten.

Für diese Reihenfolge sollen nun zwei Quotenregelungen gelten: Erstens müssten alle Kandidat:innen bis zu Platz 14 (der aufgerundeten Hälfte der Anzahl der Mitgliedstaaten) aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten stammen (wobei nicht die Staatsbürgerschaft, sondern der Wohnsitz entscheidend wäre). Zweitens würden die Mitgliedstaaten abhängig von ihrer Bevölkerungszahl in fünf Gruppen von dreimal fünf und zweimal sechs Ländern eingeteilt. Auf der Liste müsste dann in jedem Fünferblock (Platz 1-5, Platz 6-10 etc.) jeweils ein:e Kandidat:in aus jeder der fünf Ländergruppen vertreten sein.

Was das effektiv bedeutet

Würde dieser Vorschlag umgesetzt, müssten die europäischen Parteien also Kandidat:innen aus mindestens 14 verschiedenen Ländern auf ihrer Liste platzieren. Da bei 46 gesamteuropäischen Sitzen auch die größten europäischen Parteien maximal mit ca. 12-15 Abgeordneten rechnen könnten, wären diese alle aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Abgesehen von Nachrücker:innen würde kein Land zwei „gesamteuropäische“ Abgeordneten derselben Partei stellen. Zudem würde durch die fünf Ländergruppen eine Durchmischung von großen, mittleren und kleinen Ländern unter den gewählten Abgeordneten sichergestellt. Insbesondere hätte jede Partei höchstens drei gewählte gesamteuropäische Abgeordnete aus großen Ländern.

Gleichzeitig bietet der Vorschlag aber keine Garantien für einzelne Länder. Grundsätzlich ist es denkbar, dass aus einem bestimmten Mitgliedstaat kein:e einzige Kandidat:in auf irgendeiner Liste erscheint – oder dass die Kandidat:innen eines Landes jeweils nur auf aussichtslosen Plätzen stehen. Umgekehrt könnte im Gesamtergebnis ein einzelnes Land im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl auch stark überrepräsentiert sein: Theoretisch könnte auf jeder europäischen Liste ein:e estnische, aber kein:e einzige slowenische Kandidat:in gewählt werden. In der Praxis wäre das aber eher unwahrscheinlich.

Tatsächlich hätten wohl vor allem nationale Parteien das Nachsehen, die in ihrem Land schwächer sind als ihre Parteifreund:innen in einem anderen Land ähnlicher Größe. So würde angesichts der begrenzten Zahl von aussichtsreichen Kandidat:innen aus großen Ländern die EVP auf ihrer transnationalen Liste wohl eher Bewerber:innen der deutschen CDU/CSU, der polnischen PO und des spanischen PP aufstellen als der kleineren französischen LR oder italienischen FI. Bei den Sozialdemokrat:innen hingegen kämen wohl eher die deutsche SPD, der italienische PD oder der spanische PSOE als der französische PS oder der polnische SLD zum Zuge.

Der Gozi-Vorschlag

Der Vorschlag von Sandro Gozi ist im Wesentlichen eine Vereinfachung des Devesa-Entwurfs. Er übernimmt die Regelung, dass sich bis zu Platz 14 kein Herkunftsland wiederholen darf. Allerdings würden bei Gozi die Mitgliedstaaten nicht in fünf, sondern nur in drei Gruppen (zu je neun Ländern) aufgeteilt; entsprechend müsste auf der Liste in jedem Dreierblock (Platz 1-3, Platz 4-6 etc.) jeweils ein großes, ein mittleres und ein kleines Land vertreten sein.

Neu hinzu kommt bei Gozi eine Regelung, nach der unter den 46 Kandidat:innen auf jeder Liste mindestens eine Person aus jedem Mitgliedstaat stammen muss.

Was das effektiv bedeutet

Dass aus jedem Land mindestens ein:e Kandidat:in auf jeder Liste stehen muss, dürfte sich auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments kaum auswirken: Schließlich wären die letzten 30 bis 40 Plätze auf jeder Liste ohnehin weitgehend aussichtslos, sodass die Kandidat:innen allenfalls als Nachrücker:innen eine Chance hätten, ins Parlament einzuziehen. 

Allerdings würde das zusätzliche Kriterium den kleineren Parteien die Aufstellung einer gültigen Liste erschweren. Nur die größten europäischen Parteien wie EVP und SPE sind tatsächlich in allen Mitgliedstaaten präsent. Für die mittelgroßen Parteien wie Grüne und Linke dürfte dieses Hindernis noch recht gut zu nehmen sein, da sie in den Ländern, in denen sie nicht vertreten sind, ja nur Einzelpersonen zur Kandidatur auf der Liste bewegen müssten. Für kleine Parteien wie die Europäische Freie Allianz (EFA) oder die Europäische Demokratische Partei (EDP) und für Newcomer wie Volt oder DiEM25 wäre das hingegen eine große organisatorische Herausforderung.

Ansonsten gibt der Gozi-Entwurf durch den Wechsel von Fünfer- auf Dreiergruppen den europäischen Parteien bei der Listenaufstellung etwas mehr Flexibilität. Die größten Parteien könnten nun Kandidat:innen aus vier bis fünf großen Ländern auf ihrer Liste unterbringen. Da die ersten 14 Plätze mit Kandidat:innen verschiedener Länder besetzt werden müssten, wäre es aber weiterhin faktisch ausgeschlossen, dass zwei gesamteuropäische Abgeordnete derselben Partei aus demselben Land kommen.

Der Vorschlag der Grünen/EFA

Für die Fraktion der Grünen/EFA hat Damian Boeselager, der derzeit einzige Europaabgeordnete der kleinen paneuropäischen Partei Volt, einen Änderungsvorschlag eingebracht, der eine weitere Vereinfachung des Devesa-Modells bedeuten würde. Insbesondere entfällt hier das Kriterium, dass sich bis Listenplatz 14 kein Herkunftsland wiederholen darf, und auch auf die Einteilung der Länder in Gruppen wollen die Grünen/EFA verzichten.

Stattdessen soll es nur eine einzige Quotenregelung geben, nämlich dass auf der Liste jeder Siebenerblock (Platz 1-7, 8-14 etc.) aus Kandidat:innen aus sieben unterschiedlichen Ländern bestehen muss.

Was das effektiv bedeutet

Der Vorschlag der Grünen/EFA lässt den europäischen Parteien die größte Freiheit bei der Listenaufstellung. Da die Gruppeneinteilung nach Ländergrößen entfällt, könnten theoretisch alle „gesamteuropäischen Abgeordneten“ aus großen Mitgliedstaaten stammen. Die Siebenerblöcke verhindern zwar, dass alle Kandidat:innen in denselben drei oder vier Ländern wohnhaft sind. Aber dieses Minimum an nationaler Diversität würden die Parteien wohl auch aus eigenem Antrieb und ohne institutionelle Vorgaben sicherstellen.

Da sich die Herkunftsländer in diesem Modell bereits ab Listenplatz 8 wiederholen können, könnten wenigstens bei den großen europäischen Parteien auch mehrere Abgeordnete aus demselben Land über die gesamteuropäischen Liste ins Parlament einziehen.

Der Vorschlag der Verhofstadt-Gruppe

Etwas stärker vom Devesa-Modell weicht ein weiterer Vorschlag ab, den eine Gruppe von RE-Abgeordneten um Schattenberichterstatter und Ex-Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) eingebracht hat. Wie beim Grüne/EFA-Vorschlag entfallen das Kriterium, dass sich bis Platz 14 kein Land wiederholen darf, sowie die Einteilung in Ländergruppen nach Bevölkerungszahl. Hingegen übernimmt Verhofstadt den Ansatz von Sandro Gozi, dass auf jeder Liste mindestens ein:e Kandidat:in aus jedem Land vertreten sein muss.

Der eigentliche Clou des Verhofstadt-Modells ist jedoch ein anderes Kriterium: nämlich dass über alle Listen hinweg unter den 46 gewählten Abgeordneten jedes Herkunftsland mit mindestens einem und höchstens sechs Abgeordneten vertreten sein muss. Hierzu nutzt Verhofstadt den Umstand, dass die Sitzzuteilung nach dem D’Hondt’schen Höchstzahlverfahren eine Reihung der Sitze ermöglicht. Man kann also sagen, welche europäische Liste den Anspruch auf den „ersten“ gesamteuropäischen Sitz hat, welche auf den „zweiten“ etc.

Wenn nach dieser Reihung nun bereits sechs Sitze an Kandidat:innen aus demselben Land gegangen sind, könnten nach dem Verhofstadt-Modell weitere Kandidat:innen aus diesem Land keinen Sitz mehr erhalten. Stattdessen würden sie innerhalb ihrer jeweiligen Parteiliste einfach übersprungen; der Sitz fiele an die Kandidat:in auf dem nächsten Listenplatz (sofern diese aus einem anderen Land stammt).

Umgekehrt gälte zudem: Sollte am Ende der Verteilung ein Land noch gar keine:n Abgeordnete:n abbekommen haben, würde für den „letzten“ (46.) gesamteuropäischen Sitz automatisch die Listenkandidat:in aus diesem Land zum Zuge kommen – egal auf welchem Listenplatz sie stünde. (Sollten am Ende noch mehrere Länder fehlen, könnte dieses Prinzip auch für mehrere Sitze angewandt werden. Dabei ginge dann der „letzte“ Sitz an das kleinste noch fehlende Land, der „vorletzte“ an das zweitkleinste etc.) Da alle Listen Kandidat:innen aus allen Ländern umfassen müssten, wäre sichergestellt, dass auf jeder Liste wenigstens eine Kandidat:in aus dem fehlenden Land zu finden ist. Im Ergebnis würde dadurch unter allen 46 gewählten Abgeordneten mindestens eine Person aus jedem Mitgliedstaat dabei sein.

Was das effektiv bedeutet

Durch die Anforderung, Listenkandidat:innen aus allen Mitgliedstaaten aufzustellen, ist das Verhofstadt-Modell für Klein- und Newcomerparteien ähnlich problematisch wie der Gozi-Vorschlag. Ansonsten aber lässt er den europäischen Parteien bei der Listenaufstellung viel Freiheit: Theoretisch ist es denkbar, dass auf den vordersten Listenplätzen mehrere Kandidat:innen aus demselben Land vertreten sind.

Gleichzeitig ist hier (anders als bei den anderen drei Vorschlägen) tatsächlich sichergestellt, dass jedes Land mindestens mit einem der 46 neuen Sitze vertreten ist. An welche Partei dieser Sitz geht, wäre bei Ländern, deren Kandidat:innen in allen Parteien nur auf den hinteren Listenplätzen antreten, allerdings weitgehend zufällig, da sich im Voraus nicht sagen lässt, welche Liste den „letzten“ gesamteuropäischen Sitz einnimmt. Dadurch könnten auch Kandidat:innen zum Zuge kommen, deren Parteien in dem jeweiligen Land eigentlich gar keine Rolle spielen – etwa maltesische Rechtsextreme oder lettische Grüne.

Zudem ist auch das Maximalkriterium (höchstens sechs Abgeordnete pro Land) potenziell problematisch für die kleineren europäischen Parteien, die bei der D’Hondt-Zuteilung erst recht spät überhaupt zum Zug kommen. Theoretisch ist es denkbar, dass alle sechs Sitze eines Landes zu diesem Zeitpunkt bereits verteilt sind, sodass die Spitzenkandidat:in der kleineren Partei nicht über die gesamteuropäische Liste ins Parlament einzieht. Diese Gefahr bestünde allerdings nur dann, wenn die größeren Parteien jeweils mehrere Kandidat:innen aus demselben Land auf den vordersten Listenplätzen antreten ließen. In der Praxis dürfte das kaum vorkommen, da die Parteien ja eher einen Anreiz hätten, auf den Listen ihre nationale Vielfalt zu präsentieren.

Der Vorschlag der EVP

Ein komplett anderes System schließlich hat Sven Simon (CDU/EVP) im Namen der Europäischen Volkspartei vorgeschlagen. Die EVP übernimmt darin zwar einige Begrifflichkeiten des Devesa-Entwufs und spricht von einem „EU-weiten Wahlkreis“, für den die europäischen Parteien „Listen“ aufstellen sollen. Tatsächlich definiert sie diese Begriffe jedoch völlig um, sodass ihr Modell wenig mit gesamteuropäischen Listen, wie sie die anderen Parteien diskutieren, zu tun hat.

Dies fängt damit an, dass die EVP kein zusätzliches gesamteuropäisches Sitzkontingent schaffen will. Stattdessen soll das neue Verfahren für 27 Sitze – einen pro Mitgliedstaat – gelten, die allerdings nicht zu den heutigen nationalen Kontingenten hinzukämen. Vielmehr würde jedes der derzeitigen nationalen Sitzkontingente um einen Platz reduziert, der dafür Teil des neuen Systems würde. Insgesamt gäbe es weiterhin nur 705 Europaabgeordnete.

Zudem sollen die 27 „EU-weiten“ Sitze auch nicht über eine gesamteuropäische Wahl vergeben werden. Vielmehr würde die Wahl weiterhin nach Mitgliedstaaten getrennt stattfinden. In jedem Land würde also genau ein:e Kandidat:in gewählt, wobei ein reines relatives Mehrheitsverfahren gälte. Die europäischen Parteien würden dabei nur insofern eine Rolle spielen, als jede von ihnen nur eine Kandidat:in pro Land nominieren dürfte. Nationale Parteien, die zur selben europäischen Partei gehören (etwa die liberalen VVD und D66 in den Niederlanden oder RE und KE in Estland), müssten also eine gemeinsame Kandidat:in präsentieren.

Außerdem soll auf dem Wahlzettel neben dem Namen der nationalen Kandidat:in jeweils auch der Name der europaweiten Spitzenkandidat:in der jeweiligen europäischen Partei erscheinen. Die Wähler:in würde also gleichzeitig eine nationale Kandidat:in und eine europäische Spitzenkandidat:in derselben Partei wählen. Nach der Wahl sollen dann die Stimmen für die Spitzenkandidat:innen europaweit zusammengezählt werden – nur in dieser Hinsicht würde es sich also um einen „EU-weiten Wahlkreis“ handeln.

Das Ergebnis dieser Spitzenkandidatenwahl hätte allerdings keinerlei konkrete Auswirkungen: Die Spitzenkandidat:in mit den meisten Stimmen würde nicht automatisch Kommissionspräsident:in und gewönne noch nicht einmal einen Sitz im Europäischen Parlament. Sie soll lediglich als Erste die Chance erhalten, eine Mehrheit im Europäischen Parlament zu suchen, um zur Kommissionspräsident:in gewählt zu werden. Gelingt ihr das nicht, weil die anderen Parteien sich verweigern, bliebe für das Spitzenkandidatenverfahren alles wie gehabt.

Was das effektiv bedeutet

Der EVP-Vorschlag ist jedenfalls originell – aber es fällt nicht ganz leicht zu sagen, ob er wirklich ernst gemeint ist oder ob er eher dazu dienen soll, in der Debatte über gesamteuropäische Listen Verwirrung zu stiften. Denn tatsächlich geht es darin eben gerade nicht um einen „EU-weiten Wahlkreis“ oder „europäische Listen“, sondern um eine Ein-Personen-Mehrheitswahl in nationalen Wahlkreisen.

Damit würden zahlreiche der Vorteile entfallen, die sich Befürworter:innen von EU-weiten Listen für die europäische Demokratie erhoffen. Europawahlen wären weiterhin in erster Linie eine nationale Angelegenheit; die europäischen Parteien hätten weiterhin keine nennenswerte Rolle bei der Kandidatenauswahl. Immerhin würden nach dem EVP-Entwurf die Spitzenkandidat:innen künftig auf dem Wahlzettel erscheinen. Das soll anscheinend dem häufig gegen das Spitzenkandidatenverfahren erhobenen Vorwurf entgegenwirken, dass man die Spitzenkandidat:innen ja gar nicht europaweit wählen könne. Allerdings hätte die Spitzenkandidatenwahl auch nach dem EVP-Entwurf nur symbolische, keine praktische Relevanz: Die Spitzenkandidat:innen stünden zwar auf dem Wahlzettel, erhielten durch die Wahl aber kein Amt.

In gewisser Weise würde den Wähler:innen damit eine Direktwahl der Kommissionspräsident:in vorgegaukelt, während in Wirklichkeit nur die Wahl eine:r nationalen Abgeordneten stattfände. Ob diese demokratische Mogelpackung der Glaubwürdigkeit des Spitzenkandidatenverfahrens – und der Europawahl im Allgemeinen – zuträglich wäre, erscheint mehr als zweifelhaft. Umso bemerkenswerter ist daran, dass die EVP selbst in einem anderen Änderungsantrag zum Devesa-Entwurf irreführende Wahlzettel explizit kritisiert. So will sie in die geplante Resolution einen neuen Punkt 19a einfügen, mit dem das Europäische Parlament ausdrücklich hervorheben würde „that ballot papers containing the list of candidates for the elections to the European Parliament must not under any circumstances be misleading or deceptive as to the candidate actually voted for“.

Schlüsselfrage für die Verhandlungen: Wie ernst ist es der EVP?

Welches Interesse verfolgt die EVP also mit ihrem eigenwilligen Vorschlag? Ein rein wahlstrategisches ist es eher nicht: Nach den aktuellen Umfragewerten würde die EVP bei einer Ein-Personen-Mehrheitswahl wohl in rund einem Viertel bis einem Drittel der Mitgliedstaaten den Sitz gewinnen. Das ist nur geringfügig mehr, als sie bei einer europaweiten Verhältniswahl mit echten gesamteuropäischen Listen erreichen würde.

Plausibler erscheint es, dass die Partei erkannt hat, dass die Debatte über gesamteuropäische Listen Fahrt aufgenommen hat und es nicht mehr genügt, sich auf eine einfache Blockadehaltung zurückzuziehen. Der vorliegende Vorschlag wäre dann als ein Beitrag zu verstehen, mit dem die EVP sich öffentlich konstruktiv zeigt – und dennoch einen tiefen Graben zu den anderen Parteien zieht. Denn während sich zwischen den Vorschlägen von Ruiz Devesa, Gozi, der Verhofstadt-Gruppe und der Grüne/EFA-Fraktion leicht Kompromisse finden lassen, bietet das EVP-Modell dafür kaum Anknüpfungspunkte. Wie ernst es der Partei mit ihrer Öffnung für „europäische Listen“ tatsächlich ist, werden wohl erst die Verhandlungen zeigen, die jetzt im Ausschuss für konstitutionelle Fragen anstehen.


Bei Europawahlen gibt es bislang keine transnationale Wahlgleichheit. Ein Verhältnisausgleich über gesamteuropäische Listen könnte das ändern. Wie das aussähe, habe ich in einem neuen Policy Paper beschrieben, das hier heruntergeladen werden kann.

Bild: Europaflagge mit Schriftzug VOTE: Marco Verch [CC BY 2.0], via Flickr (Original hier).