„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: John Erik Fossum. (Zum Anfang der Serie.)
- „Eine wichtige Lehre aus der Arbeit des Konvents war, dass politische Führung erforderlich ist, um einen Prozess bei einem breiten und unbestimmten Mandat zu seinem gewünschten Ende zu führen.“
Die
Europäische Union bereitet sich derzeit auf eine groß angelegte
Debatte über ihren künftigen Kurs und Ausrichtung vor. Eine
Schlüsselfrage ist, ob dies vor allem eine sichtbarere und
hochskalierte Fortsetzung der verschiedenen Formen bürgerschaftlichen
Engagements sein wird, die bereits seit einigen Jahren bestehen, oder
ob die Konferenz eine qualitativ neue Dimension hinzufügen und auf
etwas Neues hinauslaufen wird.
Die Vorschläge der Institutionen
Wenn
wir uns die mandatierten Funktionen ansehen, wie sie in den
Vorschlägen der drei Kerninstitutionen der EU – des Europäischen
Parlaments,
der Europäischen
Kommission
und des Europäischen
Rates
– dargelegt sind, stellen wir fest, dass diese sehr breit und
umfassend sind. Tatsächlich gibt es in den Vorschlägen aller drei
Institutionen keine wirklichen Grenzen für das, was diskutiert
werden könnte. Das Parlament, aber auch die Kommission betonen, dass
die Konferenz eine Bottom-up-Struktur haben soll, die die Beteiligung
der Bürgerinnen und Bürger aktiviert und ein Bindeglied zwischen
ihnen und dem politischen System der EU darstellt, auch im Sinne der
Entscheidungsfindung. Insbesondere das Parlament unterstreicht diese
partizipatorische Dimension und macht einen sehr ehrgeizigen,
umfassenden und detailliert ausgearbeiteten Vorschlag, wie die
Bürgerinnen und Bürger durch Bürger- und Jugendforen direkt in den
Prozess eingebunden werden sollen.
Umgekehrt
ist der Vorschlag des Europäischen Rates viel stärker auf die
EU-Institutionen ausgerichtet und enthält nur vage Hinweise darauf,
wie die Zivilgesellschaft einbezogen werden soll. Man könnte
versucht sein zu sagen, dass sich in den Vorschlägen die
unterschiedliche demokratische Sensibilität und gesellschaftliche
Offenheit dieser Institutionen widerspiegelt. Schließlich haben sie
ihre Wurzeln in verschiedenen Sphären des politischen Lebens: das
Europäische Parlament in der repräsentativ-partizipatorischen Welt
und der Rat in der Welt der zwischenstaatlichen Diplomatie.
Schwache
und starke Öffentlichkeiten verbinden
Demokratisches Regieren besteht aus zwei Kernkomponenten: der demokratischen Deliberation, um Probleme zu identifizieren und Lösungen zu diskutieren, und darauf aufbauend einem Entscheidungsprozess, der Vorschläge auswählt, ihnen Ressourcen zuweist und sie durchführt. Idealtypisch organisieren politische Systeme dies in drei Stufen: erstens eine allgemeine oder „schwache“ Öffentlichkeit, die Fragen diskutiert; zweitens Parlamente und andere repräsentative Gremien als „starke“ Öffentlichkeiten, die diese Debatten interpretieren, fortentwickeln und zur Entscheidung bringen; drittens Regierungen und ihre Verwaltungen, die die Entscheidungen durchführen.
Das
Europäische Parlament stellt fest, dass es sich „verpflichtet […],
die Ergebnisse der Konferenz unverzüglich und ernsthaft mit
Legislativvorschlägen, durch die Vertragsänderungen oder
anderweitige Änderungen eingeleitet werden, weiterzuverfolgen“,
und „fordert die anderen beiden Organe auf, dieselbe Verpflichtung
einzugehen“. Die Kommission stellt fest, dass sie „bereit [ist],
die Rückmeldungen und Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger in
ihrer Legislativagenda zu berücksichtigen“. Der Rat stellt fest,
dass „(d)ie Ergebnisse der Konferenz in einem Bericht an den
Europäischen Rat im Jahr 2022 wiedergegeben werden sollten […].
Die Konferenz fällt nicht in den Anwendungsbereich von Artikel
48 EUV“.
Diese
verschiedenen angestrebten Ergebnisse legen nahe, dass das
Europäische Parlament versucht, eine möglichst enge Verbindung
zwischen schwacher und starker Öffentlichkeit zu entwickeln. Auch
die Kommission befindet sich auf einem ähnlichen Weg. Der Rat
hingegen definiert die Konferenz als eine schwache Öffentlichkeit
oder als ein nur beratendes Gremium. In diesem Zusammenhang ist es
bemerkenswert, dass die vom Rat vorgeschlagene Zusammensetzung der
Konferenz im Großen und Ganzen aus ähnlichen Kategorien besteht wie
die des Europäischen Konvents, der 2003-04 die Verfassung für
Europa erarbeitet hat.
Die Konventserfahrung
In der Erklärung
von Laeken wurde der Europäische Konvent damals lediglich als Vorbereitungsgremium benannt. Es gelang dem Konvent jedoch, selbst
genügend Dynamik zu entwickeln, um einen Verfassungsvorschlag zu
schmieden – eine Leistung, die sich bei der ursprünglichen Verkündung der Erklärung von Laeken nur wenige vorgestellt hatten.
Auch die spätere Ablehnung der Europäischen Verfassung lässt sich nur schwer dem Europäischen Konvent zuschreiben.
Soweit die Erfahrungen des Konvents überhaupt in die Vorschläge zur Konferenz eingeflossen sind, scheint es, dass die Hauptaufgabe des
Europäischen Parlaments darin besteht, sein Engagement mit der Zivilgesellschaft zu erweitern, um genügend Druck für die
notwendigen Reformen aufzubauen. Umgekehrt versucht der Rat, die Tür
für eine Wiederholung der Konventserfahrung zu verschließen, also
zu verhindern, dass die Konferenz die notwendige Dynamik für eine Vertragsänderung erzeugt.
Drei Kernfragen: Probleme, Instrumente, Zeitrahmen
In meinen Augen war eine wichtige Lehre aus der Arbeit des Konvents,
dass politische Führung erforderlich ist, um einen Prozess bei einem breiten und unbestimmten Mandat zu seinem gewünschten Ende zu
führen. Es wäre hilfreich, mehr darüber zu erfahren, wie das
Parlament dies im Zusammenhang mit der Konferenz sicherstellen will.
Im gegenwärtigen Kontext, in dem die Staats- und Regierungschefs
anscheinend nicht bereit sind, der Konferenz eine entscheidende Rolle
zuzubilligen, kommt der Führung in der EU eine wichtige
Sortierfunktion zu. Die Corona-Pandemie hat neue Herausforderungen
und neue Dringlichkeiten mit sich gebracht, die natürlich völlig
unvorhergesehen waren, als die Idee zur Einrichtung der Konferenz
aufkam. Drei Fragen scheinen besonders relevant zu sein: Welches
sind die Hauptprobleme, die gelöst werden müssen? Wann müssen die
Probleme gelöst werden? Welche Instrumente benötigt die EU zur
Lösung dieser Probleme?
Bedarf
an politischer Führung
Die
Rolle der Konferenz muss im Zusammenhang mit diesen drei Fragen
betrachtet werden. Es besteht ein klarer Bedarf an politischer
Führung in dem Sinne, dass die Führungskräfte die richtigen
Probleme den richtigen Instrumenten innerhalb des richtigen
Zeitrahmens zuweisen müssen. Der zeitliche Rahmen der Konferenz
beträgt zwei Jahre; ein Vertragsänderungsverfahren wird weitere
Jahre in Anspruch nehmen. Je
mehr
sich die Konferenz deshalb mit der wirklichen Lösung
von Problemen befassen
soll, desto
wichtiger
ist es, dass sie sich auf
die Fragen
und Zeitvorgaben konzentriert,
die von einem solchen Gremium vernünftigerweise erwartet werden
können.
Für
die Lösung drängender Probleme mit kurzen Zeitvorgaben und für die
Lösung von Problemen, zu denen die Konferenz nicht viel beitragen
kann, sind hingegen andere Reformen und Initiativen erforderlich.
Solche Maßnahmen müssten so
ausgestaltet sein,
dass
sie die Rolle
der Konferenz stützen
und
verhindern, dass sie entgleist.
Zwei
grundlegende Probleme zu lösen
Was
die erste Frage betrifft, so möchte ich zwei grundlegende Probleme
nennen, mit denen die EU derzeit zu kämpfen hat. Das erste ist die
„Erwartungs-Kapazitäten-Lücke“
der EU: eine deutliche Diskrepanz zwischen den an die EU gestellten
Erwartungen einerseits
und
den Ressourcen und Fähigkeiten, die die Mitgliedstaaten bereit sind,
der EU zu übertragen, andererseits.
Die Corona-Pandemie
hat diese Lücke nicht nur aufgedeckt, sondern auch erheblich
vergrößert, insofern
sie die
Diskrepanz zwischen dem, was die EU tun kann, und dem, was
insbesondere die mächtigen und einfallsreichen Mitgliedstaaten
allein tun können, aufgedeckt hat.
Das
zweite Problem betrifft das Demokratiedefizit oder das, was wir als
zwei Formen der demokratischen Abkoppelung bezeichnen können:
vertikal
(schwächere
Verbindungen zwischen Institutionen und
Bürger:innen/Zivilgesellschaft) und
horizontal (Einflussverlust der Parlamente durch die krisenbedingte Schwerpunktverlagerung auf den Europäischen Rat und durch größere Informalität). Durch
die horizontale Abkoppelung wird die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger geschwächt, die Exekutive über ihre direkt gewählten Vertreter zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sich der
Ort der Entscheidungsfindung hin zu Gremien wie dem Europäischen Rat
verschiebt, die nur schwachen Kontrollen unterliegen, zwischen
Regierungsebenen wechseln und Entscheidungen im Geheimen treffen.
Die
strukturellen
Ungleichgewichte
der EU legen
ein Dilemma
für das Europäische
Parlament dar:
Mehr
Macht
zu
erlangen,
um
die horizontale Abkoppelung
zu verringern, setzt
voraus, dass es
sich
gegenüber
den anderen Institutionen kooperativ
und entgegenkommend verhält.
Die Ausübung von Kontrolle und Rechenschaftspflicht führt zu
interinstitutionellen Konflikten, macht eine schrittweise Zunahme des
parlamentarischen Einflusses weniger wahrscheinlich und lenkt die
Aufmerksamkeit von den Bürgern ab (vertikale Abkoppelung). Es
ist zu erwarten, dass das Parlaments die Konferenz als Vehikel zur Mobilisierung
öffentlicher Unterstützung zu nutzen versucht, um sich aus
dieser Zwangsjacke zu
befreien.
Die
Frage der richtigen Zeit
Die
Konferenz kann etwas gegen beide Probleme unternehmen. Doch
welchen Erfolg sie dabei hat,
hängt nicht nur davon ab, ob ihre
Empfehlungen
tatsächlich umgesetzt werden, sondern auch von einer banaleren
Frage: Wann
müssen die Probleme gelöst werden? Auch
wenn die
beiden oben aufgeführten Probleme eindeutig struktureller Natur
sind, haben sie eine unmittelbare und eine langfristige Dimension.
Einige Probleme erfordern sofortiges Handeln, wie z.B. eine
angemessene Reaktion auf COVID-19; andere Probleme können zu einem
späteren Zeitpunkt behandelt werden. Der Wiederaufbaufonds
ist
eine wichtige kurzfristige Antwort; die Frage des
ökologischen Wandels und
die künftige Nachhaltigkeit der EU hängt hingegen von einer
Weiterentwicklung und Ausweitung der EU-Eigenmittel ab.
Die
Frage der Reihenfolge ist nicht einfach. In manchen Fällen kann
die
Lösung bestimmter
Probleme
Blockaden überwinden,
mit positiven
Nebeneffekten auf
die allgemeine Problemlösungsfähigkeit der EU. Wenn
es zum Beispiel in der Steuer- und Finanzpolitik einen
Übergang von einstimmigen
Abstimmungen zu
irgendeiner Form von Mehrheitsentscheidungen gibt, kann das die
Blockaderolle
einer Minderheit von Veto-Akteuren beseitigen und dadurch einen
Prozess des Kapazitätsaufbaus in Gang setzen, der der EU eine ganz
andere Fähigkeit zur Bewältigung verschiedener Arten von Problemen
verleiht.
Die
Frage
der
richtigen Zeit hat noch eine
weitere Dimension, nämlich ob die Reform der EU aus einer Position
der Stärke oder
der
Schwäche heraus erfolgt. Mit anderen Worten: Die Arbeit der
Konferenz wird von der Fähigkeit der EU beeinflusst werden, sich mit
den unmittelbaren Problemen zu befassen, die die Corona-Pandemie
aufgeworfen hat. Die Einigung über den Wiederaufbaufonds
könnte
wichtige Seiteneffekte
auf die Konferenz haben.
Der
Werkzeugkasten der EU
Schließlich
müssen
wir die Rolle der Konferenz im Zusammenhang mit der breiteren
Frage
prüfen: Welches
sind die erforderlichen Instrumente, die die EU zur Lösung ihrer
Hauptprobleme benötigt? Der
Politikstil der EU hat
derzeit eine Schlagseite, da einem
hervorragenden
Repertoire
an Regulierungsinstrumenten nur
schwache
fiskalpolitische
Fähigkeiten gegenüberstehen.
Die
Entwicklung einer
eigenen EU-Fiskalkapazität
würde diese Diskrepanz verringern, den
Werkzeugkasten der
EU vergrößern, die Erwartungs-Kapazitäten-Lücke
verringern
und politische
Verantwortlichkeiten klären.
Insofern die EU dazu
in
der Lage ist, könnte
die
Konferenz selbst ein Werkzeug
sein, um den Werkzeugkasten in diesem Sinn zu erweitern.
John Erik Fossum ist Professor am ARENA Centre for European Studies der Universität Oslo, Norwegen, und Forschungskoordinator für EU3D.
Seine Forschungsschwerpunkte umfassen politische Theorie, Demokratie, Konstitutionalismus in der EU und Kanada sowie die Europäisierung und Transformation des Nationalstaats. Seine Forschung trug umfassend zur Entwicklung und Anwendung von Föderalismus- und Demokratietheorie auf die EU als eigenständiges politisches System bei.
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Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
- Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
- Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
- Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
- Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
- Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
- Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
- Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
- Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
- Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
- Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
- Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller
Bilder: EU-Heißluftballon: European External Action Service [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Porträt John Erik Fossum: University of Oslo [alle Rechte vorbehalten].
Übersetzung: Manuel Müller.
Übersetzung: Manuel Müller.