„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: Dominik Hierlemann. (Zum Anfang der Serie.)
- „Das Element der Bürgerbeteiligung entscheidet mit über das Ansehen und Potential der Zukunftskonferenz als Ganzes.“
An großen Worten herrschte wahrlich kein Mangel. Ursula von der Leyen kündigte als frisch auserwählte Kommissionspräsidentin Mitte vergangenen Jahres eine Konferenz zur Zukunft Europas an. Die Konferenz sollte Anfang 2020 starten, zwei Jahre dauern und einzelne Bürger, Zivilgesellschaft und europäische Institutionen als gleichwertige Partner zusammenbringen. Umfang und Ziele der Konferenz galt es gemeinsam mit Europäischem Parlament und den Mitgliedstaaten festzulegen.
Was
ist seither passiert? Viel und wenig zugleich. Das Europaparlament
witterte Morgenluft. Rasch gab es konkrete
Vorschläge zu Konzeption und Inhalten der Zukunftskonferenz.
Auch die Kommission machte sich ans Werk. Unter Leitung der explizit
für die Zukunftskonferenz zuständigen Kommissionsvizepräsidentin
Dubravka Šuica bot sie sich als ehrlicher Makler zwischen Parlament
und Rat an. Denn hier, das zeigte sich rasch, liegt das Problem:
Viele Mitgliedstaaten wollen nicht so richtig. Sie sehen keine
Notwendigkeit für eine Diskussion, die möglicherweise im Vorschlag
für Vertragsänderungen münden könnte.
Die
Corona-Krise hat zwar die Bedeutung von funktionierenden Demokratien
in den Vordergrund der Debatten gebracht. Doch der Rest ist
Schweigen. Die Diskussionen um die Zukunftskonferenz sind arg ins
Stocken gekommen. Von der aktuellen, eher unterhalb des politischen
Radars fliegenden kroatischen Ratspräsidentschaft erwartet im
politischen Brüssel niemand mehr einen Konsensvorschlag.
Immer
noch kein Mandat
So
bleibt es der deutschen Ratspräsidentschaft überlassen, die
verschiedenen Ideen und Diskussionsfäden zu verknüpfen und mit den
europäischen Institutionen überein zu kommen. Nach wie vor zu
klären sind Ziele und Mandat der Konferenz. Ein enges Mandat
bedeutet, dass Format, Zeitrahmen und Struktur möglicher Ergebnisse
klar benannt werden. Ein weniger enges Mandat überlässt der
Konferenz und deren Führung mehr Möglichkeiten bei der
Ausgestaltung und lässt offen, wie sich die zweijährige Dynamik
entfaltet.
Das
Problem ist: Trotz eines deutsch-französischen
Papiers
mit Eckdaten der Konferenz sowie der jüngsten Wortmeldung
einiger kleinerer Mitgliedstaaten
sind immer noch viele (darunter etwa manche Osteuropäer sowie die
nordischen Staaten) nicht sonderlich an Dynamik interessiert.
Macht Corona alles neu? Themen für die Konferenz
Eine
zweite Grundsatzfrage bezieht sich auf die Themen der Konferenz.
Anfänglich war viel von einer Reform der leidigen
Spitzenkandidatenfrage und der Auswahl der Kommissionspräsidentin
die Rede. Auch transnationale Listen zu Europawahlen sollten, so etwa
der Wunsch des Europaparlaments, (wieder) auf den Diskussionstisch.
Doch je länger die Diskussion dauert, desto eher scheinen sich viele
in Kommission und Rat auf strategische Policy-Fragen konzentrieren zu
wollen. Kommissionsvize Šuica hat jüngst angesichts von Corona
selbst Gesundheitspolitik
als Thema ausgemacht.
All
das kann man machen. Allerdings ist zu bedenken: Sollte die Konferenz
diesen Herbst oder Anfang 2021 beginnen, wird die EU in einer der
schwierigsten wirtschaftlichen Phasen seit ihrem Bestehen stecken.
Die Fliehkräfte innerhalb der EU werden zunehmen, der Zusammenhalt
zwischen den Mitgliedstaaten weiter bröckeln. In dieser Situation
geht es ans Eingemachte. Die EU muss neue gemeinsame Projekte
definieren – und mehr denn je Bürgerinnen und Bürger an dieser
Diskussion beteiligen.
Ohne
Bürger:innen keine Zukunft(skonferenz)
Die
Beteiligung von Bürgern an der Zukunftskonferenz könnte eine echte
Innovation sein. Neben organisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen
sollten einzelne Bürgerinnen und Bürger mitwirken können. Auch
speziell für die Beteiligung von jungen Menschen könnte es eigene
Formate geben. Das Europaparlament setzt sich für eine möglichst
breite und repräsentative Beteiligung von Menschen an der Konferenz
ein. Das Parlamentsgebäude selbst könnte symbolisch als Tagungsort
genutzt werden.
Gerade
dieses Element entscheidet mit über das Ansehen und Potential der
Zukunftskonferenz als Ganzes. Denn gut gemacht kann
Bürgerpartizipation die Legitimität politischer Entscheidungen
erhören. Schlecht gemacht führt sie allerdings zu Desillusionierung
der beteiligten Bürgerinnen und Bürger oder gar zu Delegitimierung
von Politik. Gerade deshalb müssen Qualitätsgrundsätze der
partizipativen Demokratie berücksichtigt werden.
Beteiligung
mit Einfluss, oder warum Bürger:innen mitmachen sollten
Viele
verstehen unter Bürgerbeteiligung sehr unterschiedliche Dinge. Für
manche Politiker geht es lediglich um neue Formen der Kommunikation.
Viele Bürger dagegen erwarten oft (wenn auch nicht immer) eine
direkte Beteiligung an Entscheidungen. Die europäischen
Institutionen müssen klarmachen, dass Bürgerinnen und Bürger
echten Einfluss erhalten auf Agenda und Ergebnisse der
Zukunftskonferenz.
Gleich
wie das finale Beteiligungsformat aussehen wird, Bürger wollen
wissen, welchen Anteil ihre Arbeit an den Beratungen hat: Sollen sie
nur konsultiert werden oder haben sie direkte Mitentscheidung über
die Konferenzergebnisse? Das ist eine Gretchenfrage, die vorab
beantwortet muss.
Die
„üblichen Verdächtigen“ vermeiden
Welche
Bürger sollen an der Zukunftskonferenz beteiligt werden? Wer hat
dazu Zeit, Lust und Interesse? Viele klassische EU-Dialoge leiden
unter einem Überhang an EU-Befürwortern. Ein wirklicher
Meinungsaustausch findet oft nicht statt. Hier sollte die
Zukunftskonferenz Neues ausprobieren. Das Europaparlament hat in
seiner Resolution den Vorschlag von „Bürgerforen“ gemacht
bestehend aus zufällig ausgewählten Europäern. Irland,
Frankreich,
Ostbelgien,
aber auch die EU selbst mit ihrem ersten
Bürgerpanel im Mai 2018
bieten hierfür spannende Beispiele.
Die
gewichtete Zufallsauswahl bietet eine Reihe von Vorteilen: Jeder
Bürger kann ausgelost werden. Die Teilnehmerschaft repräsentiert in
ihrer Zusammensetzung die Vielfalt der Gesellschaft – üblicherweise
wird darauf geachtet, dass Frauen und Männer jeweils hälftig
vertreten sind, ebenso verschiedene Altersgruppen sowie diverse
sozio-ökonomische Hintergründe. Bürger mit ganz unterschiedlichen
Erfahrungen, Interessen, Meinungen und Perspektiven werden beteiligt.
Gerade in der EU hat dieser Ansatz seinen besonderen Reiz. In den
meisten EU-Beteiligungsverfahren werden lediglich „organisierte
Bürger“ berücksichtigt. Der „einzelne Bürger“, mit seinen
Interessen, Ideen und Vorstellungen bleibt außen vor. Durch diesen
Ansatz könnten die transnationale Komponente und damit die
Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit gefördert werden.
Doch
die Entscheidung für eine Beteiligungsvariante mit „Zufallsbürgern“
löst weitere Fragen aus: Wo soll der Schwerpunkt der Beteiligung
liegen? Auf nationaler, dezentraler oder transnationaler, zentraler
Ebene? Tagen Bürger alleine oder gemeinsam mit den übrigen
Mitgliedern der Zukunftskonferenz? Wie gelingt ein Austausch der
Bürger bei insgesamt 24 Amtssprachen in der EU? Diese Fragen zeigen,
eine Zukunftskonferenz unter Beteiligung von Bürgern ist keine
normale Konferenz. Vielen ist das noch nicht bewusst.
Gerade
in Corona-Zeiten: Endlich echte E-Partizipation
Neben
einer physischen Beteiligungskomponente braucht es auch eine
virtuelle Seite, um eine breite europäische Öffentlichkeit an der
Zukunftskonferenz zu beteiligen. Während die Einladung von zufällig
ausgewählten europäischen Bürgern eine qualitativ hochwertige Form
der Beteiligung darstellt, kann die Online-Beteiligung zu einer
breiten Wahrnehmung in den Mitgliedstaaten führen.
Eine
virtuelle Diskussion, an der sich mehrere Millionen Menschen EU-weit
beteiligen, kombiniert mit (wenn es die Corona-bedingte Lage zulässt)
einer späteren physischen Beteiligung von Bürgern, hätte das
Potential, in einem Schneeballeffekt weitere Debatten auszulösen.
Online könnten Ideen gesammelt und kategorisiert werden. In
face-to-face-Formaten (sei es in Form von Video-Konferenzen oder
persönlich vor Ort) gelingt die Ausarbeitung konkreter
Bürgervorschläge. Wenn die Zukunftskonferenz tatsächlich den
Anspruch hat, einen breiten europäischen Reflektionsprozess
auszulösen, dann liegt der Schlüssel dazu in der Integration und
Interaktion von Online und Offline.
Legitimität
und Wirkung statt „democracy wash“
Die
Zukunftskonferenz braucht also eine eigene Dramaturgie. Doch derzeit
scheint die Debatte in Brüssel und den Mitgliedstaaten wie
weggesackt. Weil die Diskussion sich eher lustlos dahinzieht, scheint
die Gefahr eines faden, aber gesichtswahrenden
Institutionenkompromiss immer größer. Doch Vorsicht: Manche oder
mancher könnte sich noch erinnern, was ursprünglich versprochen
wurde.
Die
direkte Beteiligung von EU-Bürgern an einer EU-Zukunftskonferenz
wäre Neuland – und damit Chance und Risiko zugleich. Chance, weil
die EU endlich das Schlagwort vom Europa der Bürger mit Leben füllen
kann. Gut gemachte Bürgerbeteiligung steigert das Vertrauen der
Menschen in die Politik. Risiko, weil eine große Öffentlichkeit auf
den Prozess schaut und der Eindruck vermieden werden muss, dass
Bürger für politische Zwecke missbraucht werden.
Wenn
Teilnehmer eines Beteiligungsprozesses das Gefühl erlangen,
instrumentalisiert zu werden, kehrt sich ihr Engagement in Widerstand
um. An einem „democracy wash“ sollte niemand Interesse haben.
Damit würde man dem Bemühen, die EU partizipativer zu gestalten,
einen Bärendienst erweisen.
Dr. Dominik Hierlemann ist Senior Expert bei der Bertelsmann-Stiftung und leitet das Projekt „Demokratie und Partizipation in Europa“. |
Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
- Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
- Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
- Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
- Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
- Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
- Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
- Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
- Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
- Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
- Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
- Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller
Bilder: Blick auf das Europäische Parlament: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Porträt Dominik Hierlemann: privat [alle Rechte vorbehalten].
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.