14 Mai 2020

Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen

„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: Dominik Hierlemann. (Zum Anfang der Serie.)

People outside the European Parliament in Brussels
„Das Element der Bürgerbeteiligung entscheidet mit über das Ansehen und Potential der Zukunftskonferenz als Ganzes.“
An großen Worten herrschte wahrlich kein Mangel. Ursula von der Leyen kündigte als frisch auserwählte Kommissionspräsidentin Mitte vergangenen Jahres eine Konferenz zur Zukunft Europas an. Die Konferenz sollte Anfang 2020 starten, zwei Jahre dauern und einzelne Bürger, Zivilgesellschaft und europäische Institutionen als gleichwertige Partner zusammenbringen. Umfang und Ziele der Konferenz galt es gemeinsam mit Europäischem Parlament und den Mitgliedstaaten festzulegen.

Was ist seither passiert? Viel und wenig zugleich. Das Europaparlament witterte Morgenluft. Rasch gab es konkrete Vorschläge zu Konzeption und Inhalten der Zukunftskonferenz. Auch die Kommission machte sich ans Werk. Unter Leitung der explizit für die Zukunftskonferenz zuständigen Kommissionsvizepräsidentin Dubravka Šuica bot sie sich als ehrlicher Makler zwischen Parlament und Rat an. Denn hier, das zeigte sich rasch, liegt das Problem: Viele Mitgliedstaaten wollen nicht so richtig. Sie sehen keine Notwendigkeit für eine Diskussion, die möglicherweise im Vorschlag für Vertragsänderungen münden könnte.

Die Corona-Krise hat zwar die Bedeutung von funktionierenden Demokratien in den Vordergrund der Debatten gebracht. Doch der Rest ist Schweigen. Die Diskussionen um die Zukunftskonferenz sind arg ins Stocken gekommen. Von der aktuellen, eher unterhalb des politischen Radars fliegenden kroatischen Ratspräsidentschaft erwartet im politischen Brüssel niemand mehr einen Konsensvorschlag.

Immer noch kein Mandat

So bleibt es der deutschen Ratspräsidentschaft überlassen, die verschiedenen Ideen und Diskussionsfäden zu verknüpfen und mit den europäischen Institutionen überein zu kommen. Nach wie vor zu klären sind Ziele und Mandat der Konferenz. Ein enges Mandat bedeutet, dass Format, Zeitrahmen und Struktur möglicher Ergebnisse klar benannt werden. Ein weniger enges Mandat überlässt der Konferenz und deren Führung mehr Möglichkeiten bei der Ausgestaltung und lässt offen, wie sich die zweijährige Dynamik entfaltet.

Das Problem ist: Trotz eines deutsch-französischen Papiers mit Eckdaten der Konferenz sowie der jüngsten Wortmeldung einiger kleinerer Mitgliedstaaten sind immer noch viele (darunter etwa manche Osteuropäer sowie die nordischen Staaten) nicht sonderlich an Dynamik interessiert.

Macht Corona alles neu? Themen für die Konferenz

Eine zweite Grundsatzfrage bezieht sich auf die Themen der Konferenz. Anfänglich war viel von einer Reform der leidigen Spitzenkandidatenfrage und der Auswahl der Kommissionspräsidentin die Rede. Auch transnationale Listen zu Europawahlen sollten, so etwa der Wunsch des Europaparlaments, (wieder) auf den Diskussionstisch. Doch je länger die Diskussion dauert, desto eher scheinen sich viele in Kommission und Rat auf strategische Policy-Fragen konzentrieren zu wollen. Kommissionsvize Šuica hat jüngst angesichts von Corona selbst Gesundheitspolitik als Thema ausgemacht.

All das kann man machen. Allerdings ist zu bedenken: Sollte die Konferenz diesen Herbst oder Anfang 2021 beginnen, wird die EU in einer der schwierigsten wirtschaftlichen Phasen seit ihrem Bestehen stecken. Die Fliehkräfte innerhalb der EU werden zunehmen, der Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten weiter bröckeln. In dieser Situation geht es ans Eingemachte. Die EU muss neue gemeinsame Projekte definieren – und mehr denn je Bürgerinnen und Bürger an dieser Diskussion beteiligen.

Ohne Bürger:innen keine Zukunft(skonferenz)

Die Beteiligung von Bürgern an der Zukunftskonferenz könnte eine echte Innovation sein. Neben organisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen sollten einzelne Bürgerinnen und Bürger mitwirken können. Auch speziell für die Beteiligung von jungen Menschen könnte es eigene Formate geben. Das Europaparlament setzt sich für eine möglichst breite und repräsentative Beteiligung von Menschen an der Konferenz ein. Das Parlamentsgebäude selbst könnte symbolisch als Tagungsort genutzt werden.

Gerade dieses Element entscheidet mit über das Ansehen und Potential der Zukunftskonferenz als Ganzes. Denn gut gemacht kann Bürgerpartizipation die Legitimität politischer Entscheidungen erhören. Schlecht gemacht führt sie allerdings zu Desillusionierung der beteiligten Bürgerinnen und Bürger oder gar zu Delegitimierung von Politik. Gerade deshalb müssen Qualitätsgrundsätze der partizipativen Demokratie berücksichtigt werden.

Beteiligung mit Einfluss, oder warum Bürger:innen mitmachen sollten

Viele verstehen unter Bürgerbeteiligung sehr unterschiedliche Dinge. Für manche Politiker geht es lediglich um neue Formen der Kommunikation. Viele Bürger dagegen erwarten oft (wenn auch nicht immer) eine direkte Beteiligung an Entscheidungen. Die europäischen Institutionen müssen klarmachen, dass Bürgerinnen und Bürger echten Einfluss erhalten auf Agenda und Ergebnisse der Zukunftskonferenz.

Gleich wie das finale Beteiligungsformat aussehen wird, Bürger wollen wissen, welchen Anteil ihre Arbeit an den Beratungen hat: Sollen sie nur konsultiert werden oder haben sie direkte Mitentscheidung über die Konferenzergebnisse? Das ist eine Gretchenfrage, die vorab beantwortet muss.

Die „üblichen Verdächtigen“ vermeiden

Welche Bürger sollen an der Zukunftskonferenz beteiligt werden? Wer hat dazu Zeit, Lust und Interesse? Viele klassische EU-Dialoge leiden unter einem Überhang an EU-Befürwortern. Ein wirklicher Meinungsaustausch findet oft nicht statt. Hier sollte die Zukunftskonferenz Neues ausprobieren. Das Europaparlament hat in seiner Resolution den Vorschlag von „Bürgerforen“ gemacht bestehend aus zufällig ausgewählten Europäern. Irland, Frankreich, Ostbelgien, aber auch die EU selbst mit ihrem ersten Bürgerpanel im Mai 2018 bieten hierfür spannende Beispiele.

Die gewichtete Zufallsauswahl bietet eine Reihe von Vorteilen: Jeder Bürger kann ausgelost werden. Die Teilnehmerschaft repräsentiert in ihrer Zusammensetzung die Vielfalt der Gesellschaft – üblicherweise wird darauf geachtet, dass Frauen und Männer jeweils hälftig vertreten sind, ebenso verschiedene Altersgruppen sowie diverse sozio-ökonomische Hintergründe. Bürger mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Interessen, Meinungen und Perspektiven werden beteiligt. Gerade in der EU hat dieser Ansatz seinen besonderen Reiz. In den meisten EU-Beteiligungsverfahren werden lediglich „organisierte Bürger“ berücksichtigt. Der „einzelne Bürger“, mit seinen Interessen, Ideen und Vorstellungen bleibt außen vor. Durch diesen Ansatz könnten die transnationale Komponente und damit die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit gefördert werden.

Doch die Entscheidung für eine Beteiligungsvariante mit „Zufallsbürgern“ löst weitere Fragen aus: Wo soll der Schwerpunkt der Beteiligung liegen? Auf nationaler, dezentraler oder transnationaler, zentraler Ebene? Tagen Bürger alleine oder gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern der Zukunftskonferenz? Wie gelingt ein Austausch der Bürger bei insgesamt 24 Amtssprachen in der EU? Diese Fragen zeigen, eine Zukunftskonferenz unter Beteiligung von Bürgern ist keine normale Konferenz. Vielen ist das noch nicht bewusst.

Gerade in Corona-Zeiten: Endlich echte E-Partizipation

Neben einer physischen Beteiligungskomponente braucht es auch eine virtuelle Seite, um eine breite europäische Öffentlichkeit an der Zukunftskonferenz zu beteiligen. Während die Einladung von zufällig ausgewählten europäischen Bürgern eine qualitativ hochwertige Form der Beteiligung darstellt, kann die Online-Beteiligung zu einer breiten Wahrnehmung in den Mitgliedstaaten führen.

Eine virtuelle Diskussion, an der sich mehrere Millionen Menschen EU-weit beteiligen, kombiniert mit (wenn es die Corona-bedingte Lage zulässt) einer späteren physischen Beteiligung von Bürgern, hätte das Potential, in einem Schneeballeffekt weitere Debatten auszulösen. Online könnten Ideen gesammelt und kategorisiert werden. In face-to-face-Formaten (sei es in Form von Video-Konferenzen oder persönlich vor Ort) gelingt die Ausarbeitung konkreter Bürgervorschläge. Wenn die Zukunftskonferenz tatsächlich den Anspruch hat, einen breiten europäischen Reflektionsprozess auszulösen, dann liegt der Schlüssel dazu in der Integration und Interaktion von Online und Offline.

Legitimität und Wirkung statt „democracy wash“

Die Zukunftskonferenz braucht also eine eigene Dramaturgie. Doch derzeit scheint die Debatte in Brüssel und den Mitgliedstaaten wie weggesackt. Weil die Diskussion sich eher lustlos dahinzieht, scheint die Gefahr eines faden, aber gesichtswahrenden Institutionenkompromiss immer größer. Doch Vorsicht: Manche oder mancher könnte sich noch erinnern, was ursprünglich versprochen wurde.

Die direkte Beteiligung von EU-Bürgern an einer EU-Zukunftskonferenz wäre Neuland – und damit Chance und Risiko zugleich. Chance, weil die EU endlich das Schlagwort vom Europa der Bürger mit Leben füllen kann. Gut gemachte Bürgerbeteiligung steigert das Vertrauen der Menschen in die Politik. Risiko, weil eine große Öffentlichkeit auf den Prozess schaut und der Eindruck vermieden werden muss, dass Bürger für politische Zwecke missbraucht werden.

Wenn Teilnehmer eines Beteiligungsprozesses das Gefühl erlangen, instrumentalisiert zu werden, kehrt sich ihr Engagement in Widerstand um. An einem „democracy wash“ sollte niemand Interesse haben. Damit würde man dem Bemühen, die EU partizipativer zu gestalten, einen Bärendienst erweisen.

Dr. Dominik Hierlemann ist Senior Expert bei der Bertelsmann-Stiftung und leitet das Projekt „Demokratie und Partizipation in Europa“.
Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
  1. Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
  2. Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
  3. Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
  4. Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
  5. Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
  6. Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
  7. Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
  8. Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
  9. Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
  10. Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
  11. Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller

Bilder: Blick auf das Europäische Parlament: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr; Porträt Dominik Hierlemann: privat [alle Rechte vorbehalten].

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