Am heutigen Europatag hätte es losgehen sollen: Ab dem 9. Mai 2020 sollte die Konferenz über die Zukunft Europas zwei Jahre lang darüber diskutieren, wie es mit der europäischen Einigung weitergeht. Inzwischen ist klar, dass dieser Zeitplan nicht eingehalten werden kann. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie sind die vorbereitenden Gespräche zwischen Parlament, Kommission und Rat, die in eine gemeinsame Erklärung zur Struktur und Arbeitsweise der Konferenz hätten münden sollen, zum Erliegen gekommen. Mitte April erklärte die zuständige Kommissions-Vizepräsidentin Dubravka Šuica (HDZ/EVP), die Eröffnung werde
frühestens im September stattfinden.
Diese Verzögerung ist angesichts von social distancing und Reisebeschränkungen in ganz Europa einerseits nachvollziehbar. Doch andererseits wird der Reformbedarf der Europäischen Union dadurch natürlich nicht kleiner: Schon seit allzu vielen Jahren konzentriert sich die europapolitische Debatte oft nur auf das Management der jeweils aktuellen Krise, hinter der der mittel- und langfristige Horizont der europäischen Integration verschwinden. Die Konferenz über die Zukunft Europas bietet die wichtige Chance, das zu ändern. Trotz – oder gerade wegen – der Verschiebung ist es deshalb notwendig, jetzt die öffentliche Auseinandersetzung darüber zu beginnen: Was erwarten wir eigentlich von dieser Konferenz, was genau soll sie erreichen und bewirken?
„Neuer
Schwung für die Demokratie“
Ihren Anfang nahm die Idee der Konferenz in einem öffentlichen Brief, den der französische Staatspräsident Emmanuel Macron (LREM/–) einige Wochen vor der Europawahl 2019 an die „Bürgerinnen und Bürger Europas“ richtete. Macron schlug darin vor, „noch vor Ende dieses Jahres […] eine Europakonferenz ins Leben rufen, um alle für unser politisches Projekt erforderlichen Änderungen vorzuschlagen, ohne Tabus, einschließlich einer Überarbeitung der Verträge“.
Nach
der Europawahl machte sich die designierte Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen (CDU/EVP) diese Idee in ihren politischen
Leitlinien zu eigen. Unter der Überschrift Neuer Schwung für die Demokratie in Europa versprach von der Leyen dem Europäischen Parlament eine Zukunftskonferenz, die von 2020 bis 2022 tagen und bei der „die Bürgerinnen und Bürger […] zu Wort kommen“ sollten. Das Parlament griff diesen Vorstoß bereitwillig auf. Bis zum Jahresende 2019 erarbeitete eine neunköpfige Arbeitsgruppe einen Vorschlag zur Ausgestaltung der Konferenz, der Mitte Januar vom Parlamentsplenum verabschiedet wurde. Kurz darauf zog auch die Kommission nach und präsentierte ein eigenes Konzept.
Verzögerung im Rat
Auf weniger Begeisterung stieß die Idee der Zukunftskonferenz unter den nationalen Regierungen. Zwar gab es auch aus deren Kreis einige konstruktive Beiträge dazu, etwa in Form eines gemeinsamen
deutsch-französischen Non-Papers von November 2019. Doch in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Dezember fanden sich zu der Konferenz nur drei knappe Absätze unter der Rubrik „Sonstiges“, und auch später gelang es den Regierungen nicht, sich auf einen gemeinsamen Standpunkt zu einigen.
Ohne eine klare Position des Rates aber blieb auch der notwendige nächste Schritt unmöglich: die Formulierung einer gemeinsamen Erklärung, in
der Parlament, Rat und Kommission Zusammensetzung, Ablauf und Ziel der Konferenz hätten festlegen müssen. Mit der Corona-Pandemie blieben die Gespräche dann endgültig stecken, die Regierungen hatten andere Prioritäten.
Vorfreude auf die Konferenz
Immerhin: In ihrer Corona-Resolution
vom 17. April forderten die Europaabgeordneten noch einmal, dass „die Konferenz so bald wie möglich einberufen werden
und dass sie, unter anderem durch direkte Kontakte zu den Bürgern, klare Vorschläge für die Herbeiführung einer tiefgreifenden Reform
der Union vorlegen muss, durch die sie wirksamer, einiger, demokratischer, souveräner und widerstandsfähiger wird“. Und
Ende April forderten die Europaministerinnen und -minister von Belgien, Bulgarien, Griechenland, Irland und
Österreich in einem gemeinsamen
Schreiben ihre Amtskollegen auf, „jetzt mit unserer Arbeit zu beginnen“.
Und auch unter proeuropäischen Aktivistinnen und Aktivisten ist die Vorfreude auf die Konferenz ungebrochen. Unter der Überschrift Citizens Take Over Europe organisieren am heutigen Europatag Gruppierungen aus ganz Europa den ganzen Tag über Online- und Offline-Veranstaltungen, die als Auftakt einer zweijährigen, parallel zur Zukunftskonferenz stattfindenden Graswurzelkampagne dienen sollen.
Was soll die Konferenz eigentlich erreichen?
Was die Vorbereitungen auf die Konferenz über die Zukunft Europas schon vor dem Ausbruch der Pandemie so schwierig machte, ist allerdings nicht nur die skeptische Haltung einiger nationaler Regierungen. Auch unter den Befürwortern gehen die Vorstellungen, was mit der Konferenz erreicht werden soll, teilweise weit auseinander.
Wie
auf diesem Blog an anderer Stelle ausführlicher beschrieben, verschob sich im Lauf der Zeit der Fokus der Debatte. Standen am Anfang noch institutionelle Reformen wie das Spitzenkandidatenverfahren oder die Einführung gesamteuropäischer Wahllisten im Mittelpunkt, so war später von einem sehr viel breiteren Themenspektrum die Rede, dem sich die Konferenz widmen sollte: etwa dem Klimawandel, dem europäischen Sozialmodell, der Digitalisierung, der europäischen Rolle in der Welt – und natürlich der Gesundheitspolitik, die seit der Coronakrise allgegenwärtig ist.
Anderen Akteuren wiederum geht es überhaupt nicht so sehr um die Inhalte der Konferenz, sondern eher darum, auf europäischer Ebene neue, innovative Formate der Bürgerbeteiligung zu erproben. Weitgehend Einigkeit besteht darüber, dass an der Konferenz neben den EU-Institutionen, nationalen Regierungen und Parlamenten auch Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft beteiligt sein werden. Aber wie sollen sie ausgewählt werden? Und in welcher Form sollen sie mit den Repräsentantinnen und Repräsentanten der demokratisch gewählten Organe interagieren?
Sprechen wir über unsere Wünsche und Hoffnungen
Die Konferenz über die Zukunft Europas präsentiert sich damit gleich in mehrerer Hinsicht als ein spannender, offener Prozess. Das
bringt Chancen und Risiken mit sich: Sie könnte bislang feststeckende Steine ins Rollen bringen und wichtige Impulse für die weitere Entwicklung der EU geben – oder sich in widersprüchlichen Zielsetzungen verstricken, ihr politisches Momentum verschenken und zuletzt vor allem Frustration und Enttäuschung verursachen. Damit die Konferenz zum Erfolg wird, ist es deshalb notwendig, dass wir Europäerinnen und Europäer uns zunächst über unsere Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an sie verständigen.
In den kommenden Wochen wird dieses Blog in einer Serie von Gastbeiträgen eine Vielfalt von Perspektiven darstellen, um die Debatte über die
Erwartungen an die Konferenz in Gang zu setzen. Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft werden
beschreiben, was die Konferenz aus ihrer Sicht erreichen sollte und welche Aspekte – Inhalte, Zusammensetzung, Verfahren – besonders wichtig sind, um dieses Ziel zu erfüllen. Den Anfang macht in Kürze die österreichische Europaabgeordnete Claudia Gamon (Neos/ALDE).
Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
- Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
- Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
- Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
- Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
- Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
- Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
- Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
- Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
- Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
- Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
- Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller
Bild: Manuel Müller.
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