- Alle sieben Jahre gibt es in der EU großen Streit ums Geld, an dessen Ende üblicherweise ein Kompromiss steht – aber keine Sinnstiftung.
In
einer parlamentarischen Demokratie gehören Haushaltsdebatten
regelmäßig zu den Höhepunkten des politischen Jahres. Ohne Geld
können die meisten politischen Ziele nicht verwirklicht werden, Höhe
und Ausgestaltung des Etats sind deshalb entscheidend für die
Handlungsfähigkeit einer Regierung. Entsprechend war die power of
the purse – die Macht, über
Steuern und den Haushalt zu entscheiden – einer der wichtigsten
Hebel, über den sich Parlamente in früheren Zeiten Einfluss auf die
Regierungsführung sicherten. Und noch heute hängen die Stärke und
Stabilität einer Regierung wesentlich davon ab, ob sie im
Parlament eine Mehrheit für den
von ihr gewünschten Haushalt erreicht.
Haushaltsdebatten sind deshalb üblicherweise Generaldebatten, in
denen über die großen demokratischen Richtungsentscheidungen
gestritten wird. Sie zwingen die Regierung dazu, ihre Prioritäten
zu begründen und ihrem Handeln einen übergeordneten Sinn zu
unterlegen, und geben der Opposition Gelegenheit, Kritik zu üben und
Alternativen zu präsentieren.
Einstimmigkeit
So
weit die Praxis in einer parlamentarischen Demokratie. Und in der
Europäischen Union? Hier sind die Dinge, wie so oft, ein wenig
komplizierter. Zunächst einmal gibt es hier nicht nur den üblichen
jährlichen Haushaltsplan, sondern darüber hinaus den „mehrjährigen
Finanzrahmen“, der für jeweils sieben Jahre im Voraus die
maximale Höhe der Ausgaben sowohl im Gesamtbudget als auch für die
wichtigsten Politikbereiche festlegt. Außerdem liegt das Budgetrecht
nicht allein beim Europäischen Parlament, sondern bei Parlament und
Rat gemeinsam. Und dann muss der Rat den mehrjährigen Finanzrahmen
(anders als den jährlichen Haushaltsplan) nach Art.
312 AEUV auch noch einstimmig beschließen.
Und
das ist nur die Ausgabenseite. Für die Einnahmen der EU
gibt es den sogenannten Eigenmittel-Beschluss,
der üblicherweise für dieselbe Laufzeit verabschiedet wird wie der
mehrjährige Finanzrahmen. Nach Art.
311 AEUV muss auch der Eigenmittelbeschluss von den Regierungen
einstimmig beschlossen werden. Formal unterscheidet sich das
Beschlussverfahren dadurch, dass das Europäische Parlament dem
Finanzrahmen zustimmen muss, beim Eigenmittelbeschluss hingegen vom
Rat überstimmt werden kann. In der Praxis sind beide Beschlüsse so
eng miteinander verbunden, dass die Verhandlungen darüber in eins
fallen.
Traumatische
Verhandlungen
Und
was
für Verhandlungen! Die
ersten Vorschläge
für
den nächsten Finanzrahmen
und
den neuen Eigenmittelbeschluss, die für
den Zeitraum 2021-2027 gelten sollen,
legte die Europäische Kommission bereits im
Mai 2018 vor. Das
Europäische Parlament verabschiedete mehrere Resolutionen (sowohl
vor
als auch nach
der Europawahl 2019), in denen es seine eigene
Position
festlegte. Im
Rat wiederum legten sowohl die österreichische
Präsidentschaft 2018 als auch die finnische
Präsidentschaft 2019 sogenannte „Verhandlungsboxen“ vor, die
die Grundlage für weitere Diskussionen sein sollten.
Seit
dem gestrigen Donnerstag tagt nun ein Sondergipfel
des Europäischen Rates, der nach dem Wunsch von Ratspräsident
Charles Michel (MR/ALDE) den Durchbruch bringen soll. Wirklich
glauben will
daran aber kaum jemand, zu
weit sind die Positionen der einzelnen Regierungen voneinander
entfernt. Als vor sieben Jahren das letzte Mal über den mehrjährigen
Finanzrahmen verhandelt wurde, endete der erste Sondergipfel im
Dezember 2012 ebenfalls ohne Erfolg, erst eine Wiederaufnahme zwei
Monate später führte zu einer Einigung. Teilnehmer der damaligen
Verhandlungen sprechen von „traumatischen“
Erfahrungen.
Warum
so viel Streit und Frust?
Und
das, obwohl der Haushalt der EU gerade einmal rund ein Prozent des
europäischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht – während
beispielsweise der deutsche Bundeshaushalt gut
zehn Prozent des deutschen BIP beträgt (und die Staatsquote
einschließlich Sozialversicherungen rund 45 Prozent). Selbst in
absoluten Zahlen ist der deutsche Bundeshaushalt 2020 (362,0 Mrd.
Euro) noch mehr als doppelt so groß wie derjenige der EU (168,7 Mrd.
Euro).
Warum
also fallen dann die Verhandlungen auf europäischer Ebene so viel
nervenzehrender aus, warum sind sie mit so viel Streit und Frust
verbunden?
Immer
wieder ähnliche Grundkonflikte
Die Antwort auf diese Frage liegt, natürlich, im Verfahren. Durch die notwendige Einstimmigkeit im Rat kann jede nationale Regierung die Verhandlungen jederzeit durch ein Veto blockieren. Anders als in einer parlamentarischen Demokratie sind europäische Haushaltsdebatten deshalb weniger von der Auseinandersetzung über politische Prioritäten geprägt als vielmehr von dem Ziehen und Zerren der Mitgliedstaaten, von denen jeder in einem Nullsummenspiel das meiste für sich herauszuholen versucht.
Spätestens
seit die britische Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er
Jahren mit ihrem berühmten „I want my money back!“ über
Jahre hinweg die Europapolitik lahmlegte, stehen
dabei die jeweiligen nationalen Nettobeiträge im Zentrum der
Debatte. Und alle sieben Jahre arbeitet sich die EU an immer wieder
ähnlichen Grundkonflikten ab, bei denen immer wieder dieselben
Interessen gegeneinanderstehen.
Der
Streit um die Gesamthöhe des Haushalts
Der
erste dieser Konflikte betrifft die Gesamthöhe der
Ausgaben-Obergrenze. Natürlich ist die Höhe des Staatshaushalts
auch in parlamentarischen Demokratien regelmäßig ein politisches
Streitthema, wobei in der Regel liberale Parteien eher für ein
kleines, linke Parteien für ein großes Budget plädieren. Auf
europäischer Ebene hingegen besteht in der Kommission und unter den
großen Fraktionen des Parlaments weitgehend Einigkeit, dass die EU
eigentlich mehr Geld benötigt, um ihren Aufgaben nachzukommen.
Hingegen sind es die nationalen Regierungen, und zwar speziell die
Regierungen der Nettozahler-Staaten, die das europäische Budget
klein halten wollen.
Neu
an dieser Auseinandersetzung ist in diesem Jahr nur der Brexit. Zum
einen führte er zu einer Verschiebung der Akteursebene: Während die
lauteste Stimme unter den Haushalts-Kleinhaltern früher dem
Vereinigten Königreich gehörte, sind es nun die sogenannten Frugal
Four (Niederlande, Österreich,
Dänemark und Schweden).
Zum
anderen führte der Brexit auch zu einer Verschärfung des Problems,
da mit Großbritannien ein wichtiger europäischer Nettozahler
wegfällt. Damit die EU ihre finanzielle Handlungsfähigkeit auf dem
bisherigen Niveau erhalten kann, müssten deshalb alle anderen
Mitgliedstaaten ihre Nettobeiträge erhöhen. Geht es nach den Frugal
Four, soll das Gegenteil
passieren: Trotz der immer
neuen Aufgaben der EU könnte der Anteil
ihres Haushalts
am BIP künftig deutlich
kleiner ausfallen als im letzten Finanzrahmen.
Der
Streit um die Prioritätensetzung
Ein
zweiter ritueller Streit betrifft die Verteilung des EU-Haushalts auf
die wichtigsten Politikbereiche. Seit den 1950er Jahren macht die
gemeinsame Agrarpolitik den größten Posten im EU-Haushalt aus, seit
den 1970ern kam als zweiter, etwa ebenso großer Posten die Struktur-
und Kohäsionspolitik hinzu, mit der vor allem ärmere
Mitgliedstaaten und Regionen gefördert werden. Angesichts der
zahlreichen neuen Aufgaben der EU – etwa bei Klimaschutz,
Digitalisierung, Forschung, innerer und äußerer Sicherheit –
setzen sich Kommission und Parlament regelmäßig für eine
Verschiebung der Ausgabenprioritäten zu diesen neuen Aufgaben ein.
Das
Problem dabei: Bei Agrarpolitik und Strukturfonds lässt sich recht
gut im Voraus berechnen, welche Mitgliedstaaten davon finanziell
profitieren werden. Die nationalen Regierungen der
Nettoempfängerländer haben sich deshalb zu strategischen Allianzen
zusammengeschlossen (die „Friends
of Cohesion“ und – etwas
informeller –
die „Friends of the Farmers“
oder „Friends of CAP“),
um diese Ausgaben zu verteidigen.
Für
die neuen Politikbereiche gibt es hingegen keine solchen
eigeninteressegeleiteten Allianzen. Einige Nettozahler, etwa
Deutschland, signalisieren
zwar, dass sie zu höheren Beiträgen nur bereit sind, wenn diese für
die richtigen „Zukunftsfragen“ verwendet werden. Trotzdem:
Der
einfachste Kompromiss zwischen den Frugal Four und
den Friends of Cohesion besteht
darin, bei Klimaschutz,
Sicherheit und Forschung zu sparen.
Der
Streit um die „politische Konditionalität“
Eine
dritte Konfliktlinie in den diesjährigen Verhandlungen ist neu, in
der Form ihrer Austragung aber ebenfalls nicht überraschend: Die
Kommission und eine Reihe von Mitgliedsregierungen, vor allem
Deutschland und die nordischen Länder, wollen Zahlungen aus den
EU-Strukturfonds künftig daran
koppeln, dass Mitgliedstaaten Prinzipien von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit einhalten. Auf Widerstand stößt diese Idee
wenig überraschend bei den Ländern, denen Verstöße gegen diese
Prinzipien vorgeworfen werden – allen voran Ungarn
und Polen.
Die
Schlüsselfrage ist dabei, nach welchem Verfahren solche Verstöße
festgestellt werden und eine Strukturfonds-Sperre verhängt werden
kann. Geht es nach der Kommission, so soll die Entscheidung darüber
bei ihr selbst liegen und nur gestoppt werden können, wenn der Rat
sich mit qualifizierter Mehrheit dagegen
ausspricht. Ratspräsident Charles Michel schlug hingegen
zuletzt vor, dass eine Strukturfonds-Sperre nur
verhängt wird, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit dafür
stimmt.
Setzt
sich Michel damit durch, wäre die Lösung recht wahrscheinlich
zahnlos: Die Erfahrung zeigt, dass die nationalen Regierungen im Rat
sehr, sehr ungern Sanktionen gegen eine der ihren aussprechen und
einer Entschlussfassung zu dem Thema wohl eher aus dem Weg gehen
würden, als tatsächlich eine Sperre zu verhängen. Andererseits
könnten vom
EuGH verhängte Zwangsgelder der Kommission am Ende ohnehin noch
einen anderen Weg eröffnen, um autoritären Mitgliedsregierungen
Strukturfonds vorzuenthalten.
Der
Streit um die Rabatte
Rituelle
Konflikte gibt es aber nicht nur bei den Ausgaben, sondern auch auf
der Einnahmenseite des EU-Haushalts. Einer dieser Konflikte betrifft
die sogenannten „Haushaltskorrekturmechanismen“
(oder „Rabatte“), von denen verschiedene Nettozahler-Staaten
derzeit profitieren. Der größte und bekannteste von ihnen war der
„Britenrabatt“, durch den dem Vereinigten Königreich seit den
1980er Jahren ein beträchtlicher Anteil seines Nettobeitrags wieder
zurücküberwiesen wurde. Aber auch Deutschland, die Niederlande,
Schweden, Dänemark und Österreich profitieren derzeit von
Sonderregelungen, die ihren Anteil am EU-Haushalt verringern.
Diese
Rabatte sind im Einzelnen schwer nachzuvollziehen und zu begründen:
Immerhin führen sie dazu, dass einige der reichsten Mitgliedstaaten
einen kleineren Anteil ihres BIP in den EU-Haushalt einzahlen als die
ärmeren. Kommission und Parlament wollen sie
deshalb seit langem gerne abschaffen. Im Rat wird diese Idee von
den meisten Regierungen unterstützt, während die Rabatt-Profiteure
wenig überraschend darauf
beharren, sie auch in Zukunft beizubehalten.
Der
Streit um die EU-Steuern
Und
dann gibt es schließlich noch die Frage nach den Eigenmitteln. Nach
Art.
311 AEUV soll sich der EU-Haushalt „komplett aus Eigenmitteln“
finanzieren; in der Anfangszeit der europäischen Integration waren
das vor allem die gemeinsamen Zolleinnahmen. Doch da die Zollsätze
im Lauf der Jahre sanken, während der Finanzbedarf der EU stieg,
speist sich der größte Teil der EU-Einnahmen heute aus den
sogenannten Bruttonationaleinkommen-Eigenmitteln – faktisch aus
Beitragszahlungen der Mitgliedstaaten in Abhängigkeit von ihrer
Wirtschaftskraft.
Da
dieses System nationaler Beiträge die Nettozahler-Debatte befeuert,
fordern Befürworter einer stärkeren supranationalen Integration
schon seit
längerem, künftig wieder verstärkt auf echte
Eigenmittel zu setzen – also etwa auf Steuern, die direkt in
den EU-Haushalt fließen. Konkret setzen Kommission und Parlament
sich für
eine europäische Plastiksteuer ein. Bei den nationalen
Regierungen stieß diese Idee lange auf wenig Sympathien, wohl auch,
weil sie ihre Möglichkeit einschränken würde, die eigenen
nationalen Beiträge politisch auszuschlachten. Angesichts der
Finanzierungslücke durch den Brexit scheint im Rat nun jedoch die
Bereitschaft zu einer Plastiksteuer zu wachsen.
Am
Ende steht Flickschusterei
Und
wie werden all diese Streitigkeiten nun ausgehen? Zum großen Ritual
der EU-Haushaltsverhandlungen gehört auch, dass sie am Ende nicht
vollständig scheitern, sondern irgendeine Kompromisslösung zwischen
den Regierungen gefunden wird – ob das nun an diesem Wochenende ist
oder erst in einigen Wochen oder Monaten. Doch dieser Kompromiss wird
nicht nach einem großen Wurf aussehen, sondern nach sehr viel
Flickschusterei. Er wird eine große Zahl an kleinen Nebendeals, an
Spezialrabatten und Sondertöpfen beinhalten, die einzelne Akteure
zufriedenstellen, aber keinem übergeordneten Ziel folgen.
Anschließend
wird noch einmal das Europäische Parlament ins Spiel kommen, das den
Kompromiss des Europäischen Rates kritisieren, Nachbesserungen
fordern und mit seinem eigenen Vetorecht drohen wird. Daraufhin wird
es noch einmal Nachverhandlungen zwischen Parlament, Rat und
Kommission geben, in denen allerdings keine allzu gravierenden
Veränderungen mehr vorgenommen werden; schließlich lässt sich ein
Kompromiss zwischen 27 Regierungen nicht so einfach wieder
aufschnüren. Am Ende wird irgendwann in der zweiten Jahreshälfte
2020 der finale Finanzrahmen verabschiedet werden. Und eine von all
dem zwischenstaatlichen Zank ausgelaugte europäische Öffentlichkeit
wird das nur noch mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen.
Ein
fatales öffentliches Bild
Denn
das ist letztlich der Effekt der Rituale der Vetokratie, wie sie in
den Verhandlungen zum Finanzrahmen zum Tragen kommen. In der Theorie
soll das nationale Vetorecht über das mehrjährige EU-Budget die
Haushaltssouveränität der nationalen Parlamente sichern und damit
die Akzeptanz der europäischen Integration in der Öffentlichkeit
erhöhen.
In
Wirklichkeit hingegen reduziert es die demokratische Kontrolle
der Bürger, da diese im Rat allenfalls auf ihre jeweils eigene
Regierung Einfluss nehmen können – nicht aber auf die Art der
Kompromisse, mit denen die zahlreichen zwischenstaatlichen Konflikte
in den Verhandlungen gelöst werden. Und am Ende steht in der
Öffentlichkeit auch nicht eine höhere Zustimmung zur EU, sondern
das fatale Bild einer Abfolge scheiternder Gipfel, bei denen jede
nationale Regierung auf ihre eigenen Interessen pocht, ohne dass ein
übergeordneter Sinn und eine nachvollziehbare gemeinsame
Prioritätensetzung erkennbar würden.
Demokratie
ist die Auswahl zwischen Alternativen, und eine demokratische
Öffentlichkeit ist eine Öffentlichkeit, die dem Bürger diese
Alternativen und seine Wahlmöglichkeiten verdeutlicht. Bei den
europäischen Haushaltsverhandlungen ist davon nicht viel zu
erkennen. 27 Vetospieler – 28 mit dem Europäischen Parlament –
machen eine Menge Lärm, aber keinen politischen Diskurs. Alle
sieben Jahre wieder.