- Es ist ja nicht so, als ob die Vielfalt im Europäischen Parlament vor dem jüngsten Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts allzu einfach zu überblicken gewesen wäre.
Wie viele Parteien von
dem gestrigen Urteil, mit dem das Bundesverfassungsgericht die
Drei-Prozent-Sperrklausel im deutschen Europawahlgesetz für nichtig
erklärt hat (Wortlaut,
Presseerklärung),
tatsächlich profitieren werden, ist derzeit noch kaum vorauszusagen.
Deutschland wird im nächsten Europäischen Parlament 96 Abgeordnete
stellen, sodass (je nach Rundungszufällen) knapp 1 Prozent der
Stimmen für ein Mandat genügen könnte. Nach den Ergebnissen
der Europawahl 2009 hätten damit die Freien Wähler, die
Republikaner, die Tierschutzpartei, die Familienpartei, die
Piratenpartei, die Rentnerpartei sowie die ÖDP jeweils ein bis zwei Sitze
gewonnen. Und auch die rechtsextreme NPD dürfte im kommenden Mai
dank des Urteils ziemlich sicher ins Europäische Parlament
einziehen – womöglich nur wenige Monate, bevor sie dann von
demselben Gericht als verfassungsfeindlich verboten wird.
Das Parlament bleibt
handlungsfähig
Aber damit es keine
Missverständnisse gibt: Die Bedrohung, die von dem Karlsruher Urteil
ausgeht, besteht nicht darin, dass im Europäischen Parlament künftig
der ein oder andere deutsche Rechtsextreme sitzen wird. Und auch die
anderen Kleinparteien werden, jede für sich genommen, keinen großen
Unterschied machen. Vielmehr werden sie aller
Wahrscheinlichkeit nach nur die jetzt schon recht gut besetzten Reihen
der fraktionslosen Abgeordneten weiter füllen, sie werden die ein
oder andere Rede für die Kameras halten, und wenn es an die
eigentlichen Entscheidungen geht, wird man sie schlicht ignorieren. Denn wie in jedem anderen funktionierenden Parlament
fallen auch in der Straßburger Europakammer die wichtigsten
Beschlüsse inzwischen innerhalb und zwischen den Fraktionen. Der
politische Einfluss eines einzelnen Abgeordneten aus einer nicht
gesamteuropäisch organisierten Kleinpartei ist minimal.
Und auch eine andere
Kritik an dem Karlsruher Urteil, die jetzt verschiedentlich zu hören
ist, trifft nur bedingt zu: Die Handlungsfähigkeit des Europäischen
Parlaments wird durch den Wegfall der Sperrklausel nur wenig
beeinträchtigt werden. Selbst wenn sich, was nach
aktuellen Umfragen realistisch erscheint, die Zahl der derzeit
knapp dreißig fraktionslosen Abgeordneten nach der Europawahl
ungefähr verdoppelt, und selbst wenn man dazu noch einmal etwa
dreißig bis vierzig Abgeordnete der rechtspopulistischen
EFD-Fraktion (oder einer anderen, noch stärker rechtsgerichteten
Nachfolgegruppierung) zählt, würden sie kaum ein Siebtel des
Parlaments ausmachen. Die Parteien, die an einer konstruktiven
Politik interessiert sind, werden in Straßburg also weiterhin die
große Mehrheit stellen. Auch der Vergleich mit der Weimarer
Republik, in der ab 1930 fast die Hälfte, ab 1932 sogar die Mehrheit
der Reichstagsabgeordneten systemfeindlich eingestellt war, geht
daher fehl.
Demokratie ist mehr
als Repräsentation und Handlungsfähigkeit
Dass ich die jüngste
Entscheidung dennoch für eine Gefahr für die europäische
Demokratie halte, hat einen anderen Grund. Denn wie ich im
Zusammenhang mit der Europawahl-Sperrklausel bereits an
anderer Stelle ausführlicher geschrieben habe, besteht der Sinn
demokratischer Wahlen ja nicht nur darin, ein repräsentatives und
irgendwie handlungsfähiges Parlament hervorzubringen. Vielmehr dienen
das Wahlverfahren und die Gruppierung der Abgeordneten in Fraktionen auch der Reduktion
von Komplexität: Aus einer millionenfachen Vielfalt von einzelnen Überzeugungen soll ein überschaubares Spektrum von
politischen Akteuren herausgefiltert werden. Dies ermöglicht zum einen die Entscheidungsfindung innerhalb des Parlaments und ist zum anderen auch
für die öffentliche Kontrolle von Bedeutung. Denn während kaum ein
Bürger das Abstimmungsverhalten von hunderten Einzelabgeordneten
mitverfolgen könnte, kann er sich über eine Handvoll Fraktionen
sehr wohl eine Meinung bilden – und wird erst dadurch in die Lage
versetzt, bei der Wahl eine aufgeklärte Entscheidung zu treffen.
Einer der zentralen
Mechanismen, durch die Demokratien Legitimität hervorbringen, ist
deshalb das
Wechselspiel zwischen Regierungsmehrheit und Opposition.
Unabhängig davon, wie vernünftig und „gut“ eine Regierung ihre
Herrschaft ausübt, wird sie mit manchen ihrer Entscheidungen immer
wieder Unzufriedenheit und Frustration in Teilen der Bevölkerung
auslösen. Wenn diese Unzufriedenheit kein Ventil findet, dann
richtet sie sich rasch gegen das politische System als Ganzes – was
unter anderem dazu führt, dass technokratisch-autoritäre Regime
ihre Macht zuletzt in der Regel nur durch Repression und Gewalt
erhalten können. Die Stärke einer parlamentarischen Demokratie
hingegen besteht darin, dass sie Menschen, die mit der Regierung
enttäuscht sind, weitere Alternativen
zur Verfügung stellt, ohne dabei die Legitimität des politischen
Systems insgesamt zu gefährden. Wem nicht gefällt, wie er regiert
wird, kann bei der nächsten Wahl für die Opposition stimmen und
dadurch einer neuen Mehrheit an die Macht verhelfen.
Damit
ein Parlament funktioniert, muss es also nicht nur repräsentativ und
politisch handlungsfähig sein, sondern in irgendeiner Form auch die
Möglichkeit demokratischer Alternanz bieten. Voraussetzung dafür
ist jedoch nicht nur, dass es überhaupt eine Opposition gibt,
sondern auch, dass diese Opposition eine plausible Alternative zu der
aktuellen Regierung bietet. Radikaloppositionelle Splitterparteien
und fraktionslose Einzelabgeordnete mögen sich zum Sprachrohr
einzelner unzufriedener Gruppen in der Gesellschaft machen oder
bestimmte Sonderanliegen in die politische Debatte einschleusen. Aber
da sie kaum eine Chance haben, nach einer zukünftigen Wahl
ihrerseits eine Mehrheit zu stellen, tragen sie nur begrenzt zur
Legitimation des politischen Systems insgesamt bei.
Die Mehrheitsbildung
im Europäischen Parlament
Und
genau hier liegt in meinen Augen auch die größte Schwäche des
Europäischen Parlaments. Mit derzeit sieben Fraktionen und über
zwei Dutzend fraktionslosen Abgeordneten ist es seit jeher eines der
buntesten Parlamente des Kontinents. Es gibt darin schon heute links-
wie rechtsextreme Parteien, Progressive und Reaktionäre, europäische
Föderalisten und radikale Nationalisten. Doch gerade diese Vielfalt
führt dazu, dass seit der Gründung des Parlaments fast alle
wesentlichen Entscheidungen auf einer Einigung zwischen den beiden
stärksten Fraktionen, der christdemokratischen EVP und der
sozialdemokratischen S&D, beruhen. Denn natürlich ist es immer
einfacher, zu einem Kompromiss zu finden, wenn dabei nicht allzu
viele verschiedene Positionen unter einen Hut gebracht werden müssen. Und wegen der starken Zersplitterung sind EVP und S&D nun
einmal die einzigen Fraktionen, die zu zweit eine Mehrheit im
Parlament erreichen.
Daneben
gab es in der Vergangenheit immer
wieder auch Abstimmungen, bei denen sich entweder ein
Mitte-Rechts-Bündnis (aus der christdemokratischen, der
liberalen und der nationalkonservativen Fraktion) oder ein
Mitte-Links-Bündnis (aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen
und Linken) zu einer Mehrheit zusammenfanden. Allerdings sind diese
in sich so heterogen und fragil, dass sie bislang nicht als Grundlage für
eine dauerhafte Zusammenarbeit taugen – ganz davon abgesehen, dass
das Mitte-Rechts-Bündnis nach der kommenden Europawahl aller
Voraussicht nach im Parlament keine Mehrheit mehr aufbringen wird.
Eine permanente Große
Koalition verhindert demokratische Alternanz
Faktisch
führt die große Zahl kleiner und kleinster Parteien im Europäischen
Parlament also keineswegs dazu, dass die Bürger bei der Wahl unter
einer besonders großen Vielfalt von politischen Positionen auswählen
könnten. Im Gegenteil: Gerade weil das Parlament so stark
zersplittert ist, dominiert darin eine permanente Große Koalition.
Und auch wenn die kommenden Europawahlen voraussichtlich einen
gewissen politischen
Linksruck mit sich bringen werden,
ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sich an dieser
Grundkonstellation in absehbarer Zeit etwas ändern wird.
Doch eine permanente Große Koalition verhindert eben auch die
demokratische Alternanz. Auf nationaler Ebene sind Parlamentswahlen
immer eine Richtungsentscheidung, in der über die Fortsetzung der
bisherigen Politik oder ihre Ablösung durch eine neue Mehrheit mit
einem anderen Programm entschieden wird. Auf europäischer Ebene aber
ist es nahezu unmöglich, eine solche neue Mehrheit zu bilden. Etwas
überspitzt formuliert, kann der Wähler lediglich über die Nuancen
im Kräftegleichgewicht zwischen den beiden größten Fraktionen
entscheiden – und darüber, wer zu ihrer Politik von den Bänken
der Minderheitenfraktionen und der fraktionslosen Abgeordneten aus
das Hintergrundrauschen bilden darf.
Was nun tun?
Natürlich sollte man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht
überbewerten. Das Problem der fehlenden Alternanz im Europäischen
Parlament ist nichts Neues, und es wiegt viel schwerer, als dass ein
paar zusätzliche fraktionslose Abgeordnete aus Deutschland hier von
entscheidendem Gewicht wären. Immerhin aber waren im Parlament in
den letzten Jahren einige zaghafte Fortschritte zu beobachten – vor
allem, was die interne Kohärenz der Fraktionen angeht, die natürlich
eine Vorbedingung dafür ist, dass es in Zukunft auch einmal ein
stabiles linkes oder rechtes Mehrfraktionenbündnis jenseits der
großen Koalition geben könnte. Diese Fortschritte werden durch die
weitere Zersplitterung des Parlaments infolge des Urteils
konterkariert.
Und
was kann man tun, wenn man sich damit nicht einfach abfinden will?
Ich sehe vor allem drei Handlungslinien, die der Politik jetzt
offenstehen. Die erste deuten die Richter selbst gegen Ende der
Entscheidung an, wo es heißt, der Gesetzgeber könne auch in Zukunft
„[s]ich etwa konkret abzeichnenden Fehlentwicklungen
[…] Rechnung tragen“ (Rn. 82). Mit anderen Worten: Der
Bundestag könnte einfach in einigen Jahren erneut die Einführung
einer Sperrklausel beschließen und hoffen, dass sich das
Verfassungsgericht vielleicht dann von ihrem Sinn und ihrer
Rechtmäßigkeit überzeugen lässt.
Nur noch europäisch
organisierte Parteien zur Wahl zulassen
Eleganter wäre eine zweite Alternative, die ich an
anderer Stelle bereits vorgeschlagen habe: Im
Bundestagswahlgesetz findet sich seit jeher eine Klausel, nach der
sich nur in Deutschland anerkannte Parteien mit Wahllisten bewerben
dürfen (§27
Abs. 1 Satz 1 BWG). Wie wäre es, eine ähnliche Klausel auch in
die deutsche Europawahlordnung zu übernehmen – in dem Sinn, dass
dort nur noch Organisationen zugelassen sind, die einer Partei
auf europäischer Ebene angehören?
Eine solche Regelung würde die Zersplitterung des Parlaments noch
effektiver bekämpfen als eine nationale Sperrklausel: All die rein
nationalen Kleinparteien, die auf europäischer Ebene keinen
Anknüpfungspunkt finden und nur die Reihen der Fraktionslosen
füllen, würden gar nicht erst auf dem Wahlzettel stehen. Zugleich
wäre das Prinzip der Wahlgleichheit, auf dem das
Bundesverfassungsgericht so herumreitet, nicht gefährdet, sodass
kaum rechtliche Bedenken gegen den Vorschlag bestehen dürften. Und
schließlich wäre die Regelung auch kein zwingendes Hindernis für
Newcomer-Parteien. Für die AfD beispielsweise dürfte es kein
Problem sein, sich auf europäischer Ebene der nationalkonservativen
AECR
oder dem europaskeptischen MELD
anzuschließen. Die neue Bestimmung würde sie lediglich dazu
verpflichten, schon vor den Wahlen zu erklären, wie sie sich im
Parlament positionieren wollen.
Für ein einheitliches
Europawahlrecht
Vor allem aber zeigt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in
meinen Augen, wie dringend wir endlich ein europaweit einheitliches
Wahlrecht brauchen. Der EU-Direktwahlakt,
der zwar einen allgemeinen Rahmen setzt, aber den Mitgliedstaaten bei
der Ausgestaltung des Europawahlrechts weitgehend freie Hand lässt,
ist nicht mehr zeitgemäß. Das Europäische Parlament repräsentiert
nach Art. 14
EU-Vertrag nicht einzelne Staatsvölker, sondern alle
Unionsbürger: Es ist deshalb nur angebracht, wenn auch die Wahl
seiner Abgeordneten künftig nach gemeinsam festgelegten,
einheitlichen Standards erfolgt – einschließlich einer europaweit einheitlichen Sperrklausel.
Doch leider sind auch verhältnismäßig bescheidene Vorschläge zu
einer Vereinheitlichung des Europawahlrechts in der Vergangenheit
immer wieder gescheitert. Die letzte derartige Initiative war vor
knapp zwei Jahren der Duff-Bericht, über den ich in diesem Blog
ausführlich
berichtet habe. Allerdings erreichte dieser damals keine Mehrheit im
Parlament, was vor allem an
der Ablehnung der christdemokratischen EVP-Fraktion lag. In der
neuen Wahlperiode sollte es jetzt unbedingt einen neuen Anlauf geben.
Und es stünde den europäischen Parteien gut zu Gesicht, wenn sie
schon vorher, im Wahlkampf, ihre Vorschläge dazu unterbreiten. Jedenfalls wäre das ein spannenderes Diskussionsthema als die Frage, was eigentlich die deutsche Familienpartei künftig mit ihrem Sitz im Europäischen Parlament anfangen will.
Bild: By Claude TRUONG-NGOC (Own work) [CC BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.