Die dramatischen
Auswirkungen der Eurokrise auf das Parteisystem in Griechenland
wurden in den Medien in ganz Europa diskutiert. Doch auch in anderen
südeuropäischen Ländern verschoben sich in den letzten Jahren die
Machtverhältnisse zwischen den politischen Lagern, und die Verlierer
waren dabei – sieht man von den jüngsten Ergebnissen in Italien ab
– oft die gemäßigt-linken, also sozialdemokratischen Parteien.
Der Grund dafür ist einfach: Ähnlich wie in Deutschland die SPD
(SPE) unter Gerhard Schröder einst die unpopuläre Agenda 2010
durchsetzte, waren es sowohl in Griechenland als auch in Spanien und
Portugal sozialdemokratische Regierungen, die in der Krise harte
Sparmaßnahmen beschließen mussten und damit die Gewerkschaften und
viele ihrer Stammwähler gegen sich aufbrachten.
Doch anders als Schröder
folgten die südeuropäischen Sozialdemokraten dabei nicht unbedingt
einer eigenen Überzeugung, dass der Austeritätskurs für ihr Land
die wirtschaftlich beste Lösung war. Angesichts des drohenden
Staatsbankrotts handelten sie vielmehr als Getriebene einer
liberal-konservativen Mehrheit auf europäischer Ebene: Unterstützt
von dem wirtschaftsliberalen Währungskommissar Olli Rehn
(Kesk./ELDR), waren es vor allem Angela Merkel (CDU/EVP) und Nicolas
Sarkozy (UMP/EVP), die im Europäischen Rat die Bedingungen für
Rettungskredite an Krisenstaaten vorgaben. Die sozialdemokratischen
Regierungen in Südeuropa setzten diesen Kurs lediglich um, wurden
jedoch anschließend auf nationaler Ebene dafür abgestraft. Gewinner
waren häufig die Konservativen – deren Wähler weniger
Schwierigkeiten mit den europäischen Sparbeschlüssen hatten –
sowie linkspopulistische und linksnationalistische Parteien.
Für die inzwischen
abgewählten Sozialdemokraten stellt diese Entwicklung ein Dilemma
dar: Sollen sie angesichts der unbeliebten und wirtschaftlich
erfolglosen Austeritätspolitik wieder nach links rutschen, gegen die
europäischen Beschlüsse polemisieren und dadurch ihre Stammwähler
zurückgewinnen? Oder sollen sie ihrer traditionell
europafreundlichen Linie treu bleiben, auch wenn damit eine
dauerhafte Diskreditierung bei den Wählern verbunden sein könnte?
Genau diese Frage stand im Raum, als die spanischen Sozialisten
(PSOE/SPE) am 16. Februar bei einem Parteitreffen über ihre künftige
Europapolitik diskutierten – mit bemerkenswerten Ergebnissen.
Proeuropäische
Tradition und Absturz in der Eurokrise
Nun ist es für einen
spanischen Sozialisten grundsätzlich nicht ganz einfach,
Europaskeptiker zu sein. Nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 war
der Wunsch nach Europäisierung ein zentraler Teil des
gesellschaftlichen Konsenses, auf den sich die junge spanische
Demokratie stützte – und besonders die PSOE, die in den 1980er
Jahren stärkste Partei des Landes wurde. 1985 schloss die
PSOE-Regierung unter Felipe González erfolgreich die spanischen
EG-Beitrittsverhandlungen ab und sicherte sich damit ihre Wiederwahl.
Und nachdem die konservative Regierung Aznar (PP/EVP) 2003 die
Verhandlungen zum EU-Verfassungsvertrag blockiert hatte, war es zwei
Jahre später mit José Luis Rodríguez Zapatero erneut ein
sozialistischer Regierungschef, unter dem Spanien den Vertrag in
einem Referendum mit über 75% Ja-Stimmen ratifizierte.
Jahrzehntelang war Europa in der spanischen Politik ein Thema, das in
der Bevölkerung auf emotionale Zustimmung stieß und vor allem den
Sozialisten beim Gewinnen von Wahlen half.
Doch dies änderte sich
mit der Eurokrise. Als 2008 mit der amerikanischen Subprime-
auch die spanische Immobilienblase platzte und in kurzer Zeit
Arbeitslosigkeit und öffentliche Defizite auf schwindelerregende
Höhen kletterten, reagierte die Regierung Zapatero zunächst mit
hilflosen Versuchen, das Ausmaß der Probleme zu leugnen. Ab 2010
jedoch schwenkte sie auf Druck des Europäischen Rates und der
Kommission auf einen Austeritätskurs mit massiven Ausgabenkürzungen
und einer unpopulären Arbeitsmarktreform ein – nicht förmlich gezwungen, da Spanien keine Rettungskredite beantragen musste, aber doch getrieben, da ihr in einem Umfeld der europäischen Austerität kein fiskalischer Handlungsspielraum mehr blieb. Und als nicht zuletzt
aufgrund der Sparmaßnahmen die Arbeitslosigkeit nur noch weiter
stieg, rief Zapatero Ende 2011 Neuwahlen aus.
Nach einem zunehmend resignierten Wahlkampf stürzte die Partei daraufhin von 43,9 auf 28,8
Prozent der Stimmen ab, während die konservative PP (EVP) eine
absolute Mehrheit erreichte. Auch dass die neue Regierung unter
PP-Chef Mariano Rajoy bereits nach wenigen Wochen mit ersten
Wahlversprechen brach, um weitere Sozialkürzungen
anzukündigen, half den Sozialisten nicht auf die Beine: Zu sehr
hatten sie bei ihren Stammwählern an Glaubwürdigkeit verloren.
Selbst von den jüngsten Korruptionsskandalen der PP konnte die PSOE
nicht profitieren. Zuletzt sahen Umfragen beide Parteien ungefähr gleichauf bei 24%, während vor allem die
kleinen Parteien, die linke IU (EL) und die liberale UPyD, in den
letzten Monaten deutlich zulegen konnten.
Die europaskeptische
Versuchung
In dieser Situation
begann die PSOE unter ihrem neuen Parteichef Alfredo Pérez Rubalcaba
eine umfassende inhaltliche Neuausrichtung, die im Oktober 2013 in ein neues
Parteiprogramm münden soll. Zur Vorbereitung dienen fünf
thematische Konferenzen, von denen gleich die erste der Europapolitik
gewidmet war. Bereits im Vorfeld machte Rubalcaba dabei klar, dass
die Zeit des weitgehend kritiklosen Pro-Europäertums, wie es in Spanien lange Jahre vorherrschte, vorüber ist. Bei einem Treffen von
SPE-Politikern in Turin beklagte er den Nord-Süd-Gegensatz in der
EU, der auch die europäische Sozialdemokratie spalte. Angesichts der
Krise wachse in Spanien „die Skepsis gegenüber einem Europa, das uns nicht mag und uns nur tadelt“.
Auf der Tagung selbst
wurde Rubalcabas Stellvertreterin Elena Valenciano noch schärfer: Für viele Bürger wirke Europa heute wie „ein
Alptraum“ und eine „Brüsseler Diktatur“. Javier Solana,
ehemaliger Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik, hielt dem entgegen, es könne nicht darum gehen,
sich „von der EU zu befreien“, sondern „mit ihr zu arbeiten“.
Und auch in einem Disput zwischen Rubalcaba und dem früheren
PSOE-Generalsekretär und jetzigen EU-Wettbewerbskommissar Joaquín
Almunia zeigte sich ein deutlicher Gegensatz zwischen der Versuchung des
nationalen Parteichefs, die zunehmend europaskeptische Stimmung in
der Bevölkerung aufzugreifen, und dem Bemühen des Europapolitikers,
die Legitimität der Union zu verteidigen.
Institutionelle Reformen der EU
Umso beeindruckender
jedoch ist das Dokument mit dem Titel Hacia una Europa federal („Auf
dem Weg zu einem föderalen Europa“), das die Parteiführung auf der Konferenz
präsentierte und das die Grundlage für die weitere europapolitische
Programmdebatte sein soll (Wortlaut).
Es listet nicht nur verschiedene bekannte Forderungen für die Reform der
Währungsunion – etwa eine Bankenunion mit gemeinsamer
Einlagensicherung, einen Schuldentilgungsfonds, eine Ausweitung des
EU-Haushalts und eine europäische Arbeitslosenversicherung – und
für europaweite soziale Mindeststandards auf. Das eigentlich
Interessante sind die institutionellen Reformvorschläge, die ich in meiner eigenen Wunschliste kaum schöner hätte formulieren können.
Unter anderem sind dies:
● die
Zusammenlegung der Ämter des Kommissionspräsidenten und des
Präsidenten des Europäischen Rates,
● die Wahl dieses
Präsidenten durch das Europäische Parlament und die Möglichkeit
einer Abwahl durch ein konstruktives Misstrauensvotum,
● die Einführung
transnationaler Listen bei der Europawahl, auf denen 50 Abgeordnete
gewählt würden (womit die PSOE über die Forderungen des Duff-Berichts hinausgeht, wo für die transnationalen Listen
nur 25 Mandate vorgesehen waren),
● ein Initiativrecht
für das Europäische Parlament bei der Gesetzgebung und die
Abschaffung nationaler Vetorechte im Ministerrat in der Steuer- und
Sozialpolitik,
● eine Reform des
mehrjährigen Finanzrahmens, sodass seine Dauer künftig mit der
Legislaturperiode des Europäischen Parlaments zusammenfällt und
damit die Debatte über den EU-Haushalt Teil des Europawahlkampfs wird.
Und da die Einführung
transnationaler Listen natürlich die Rolle der
gesamteuropäischen Parteien stärken würde, schlägt die PSOE auch
gleich noch eine Reform der Sozialdemokratischen Partei Europas vor:
Außer einem gemeinsamen Spitzenkandidaten bei der Europawahl 2014
brauche sie ein „gemeinsames Regierungsprogramm für die
Europäische Union“ und eine besser organisierte Parteispitze,
damit in der Öffentlichkeit nicht nur die Chefs der nationalen
Mitgliedsparteien wahrgenommen würden. Der Höhepunkt
des Dokuments ist schließlich die Forderung, die Zugehörigkeit zur
SPE auch im Namen und Logo der PSOE selbst zum Ausdruck zu bringen
und die Partei dauerhaft in Partido Socialista Europeo – PSOE
umzubenennen.
Politische
Verantwortlichkeiten erkennbar machen
Was
von diesen Vorschlägen im Oktober tatsächlich in das neue
Parteiprogramm aufgenommen wird, ist natürlich offen. Doch erst
einmal scheint mir, dass die PSOE mit dieser Forderung nach einer
umfassenden Föderalisierung der EU eine gute Antwort auf das Dilemma
der südeuropäischen Sozialdemokraten gefunden hat. Noch besser als
die chaotischen Entwicklungen in Griechenland oder Italien zeigt der
spanische Fall, an welche Grenzen die nationale Demokratie in der Eurozone gestoßen ist. Im Wahlkampf 2011 hatten die spanischen Bürger keine
Möglichkeit, über alternative Lösungen für die katastrophale
wirtschaftliche Lage im Land zu entscheiden, da sowohl PSOE als auch
PP wussten, dass sie letztlich von den europäischen Institutionen
abhängig sein würden.
Wenn
aber demokratische Beschlüsse über solche zentralen Fragen auf
nationaler Ebene nicht mehr möglich sind, so lässt sich die
Legitimität des politischen Systems nur durch eine Demokratisierung
der europäischen Ebene wiederherstellen: eben durch eine Stärkung
des Europäischen Parlaments und der gesamteuropäischen Parteien.
Dadurch würde die Europawahl zur zentralen Richtungsentscheidung,
wovon am Ende auch die unterlegenen Parteien, die im Europäischen
Parlament in die Opposition gehen müssten, profitieren könnten.
Denn für die Öffentlichkeit würde klar erkennbar, welches
politische Lager die Verantwortung für die Ausrichtung der
europäischen Politik trägt – und die Bürger würden nicht mehr
nationale sozialdemokratische Regierungen für einen Austeritätskurs
abstrafen, der eigentlich auf eine konservativ-liberale Mehrheit in
den europäischen Institutionen zurückgeht. (Und dasselbe gilt
natürlich auch umgekehrt für nationale konservative Regierungen,
wenn auf europäischer Ebene einmal die Sozialdemokraten in der
Mehrheit sind.)
Der
PSOE jedenfalls ist zu wünschen, dass sie ihren föderalistischen
Kurs beibehält und damit mittelfristig auch die spanischen Wähler
wieder überzeugen kann. Und vielleicht bekommt sie dabei ja auch Unterstützung von der ein oder anderen Partei aus der nördlichen Hälfte der Europäischen
Union. Was zum Beispiel würde die deutsche SPD davon halten, die genannten Forderungen in ihrem
diesjährigen Bundestagswahlprogramm zu übernehmen?
Bild: By Petronas (Own work) [CC-BY-SA-1.0], via Wikimedia Commons.