Wenn
man über das Europawahlrecht und die demokratische Legitimation des
Europäischen Parlaments diskutiert, kommt die Rede früher oder
später unweigerlich auf die Frage der Wahlgleichheit. Darunter wird
das grundlegende Prinzip verstanden, dass jeder Wähler eine gleich
gute Chance haben muss, das Gesamtergebnis der Wahl zu beeinflussen.
Dieses Prinzip gehört im intuitiven Verständnis der meisten
Menschen zum Kern dessen, was Demokratie ausmacht. Bei der Europawahl
aber ist es bis heute nicht verwirklicht – was die Frage aufwirft,
ob das Europäische Parlament überhaupt legitimiert ist, als
Repräsentationsorgan der EU-Bürger im Mittelpunkt
einer gesamteuropäischen parlamentarischen Demokratie zu stehen.
Dabei
ist der simple Grundsatz „one person, one vote“ bei der
Europawahl eigentlich durchaus gewahrt: Jeder Wähler hat nur eine
Stimme. Problematisch ist aber, wie diese Stimmen in Parlamentssitze
umgerechnet werden: Der Stimmenanteil, den die europäischen Parteien
bei der Europawahl erzielen, stimmt nicht unbedingt mit dem Sitzanteil
ihrer Fraktionen im Europäischen Parlament überein. Welche
Auswirkungen das bei der Europawahl 2014 im Einzelnen hatte, habe ich
hier
vor einigen Jahren berechnet. Der auffälligste und
folgenreichste Effekt: Obwohl die Europäische Volkspartei etwas
weniger Stimmen erhielt als die europäischen Sozialdemokraten,
erreichte sie deutlich mehr Sitze und wurde zur stärksten Fraktion
im Parlament.
Degressive
Proportionalität
Die wichtigste Ursache für diese Verzerrungen ist die sogenannte
„degressive Proportionalität“ bei der Größe der nationalen Sitzkontingente. Bekanntlich findet
die Europawahl derzeit in Form von 28 nationalen Teilwahlen statt,
bei denen die EU-Bürger in jedem Mitgliedstaat eine feste Anzahl von
Europaabgeordneten wählen. Dabei werden in größeren Staaten zwar
mehr Abgeordnete gewählt als in kleineren, doch die Zahl der Sitze
steigt nicht in derselben Geschwindigkeit wie die Einwohnerzahl der
Staaten. Kleine Staaten stellen deshalb mehr Abgeordnete pro
Einwohner als große.
Durch
diese degressive Proportionalität werden die Erfolgschancen der
Stimmen verzerrt: Stimmen, die in kleinen Ländern abgegeben werden,
wirken sich auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments
stärker aus als Stimmen in großen Ländern. Die beiden
Extreme bilden dabei Deutschland mit 96 Sitzen auf 62 Millionen
Wahlberechtigte und Malta mit 6 Sitzen auf 0,3 Millionen
Wahlberechtigte.
Ein
weiteres Problem ist die unterschiedliche nationale Wahlbeteiligung:
Durch die festen nationalen Sitzkontingente haben Stimmen, die in
einem Land mit niedriger Wahlbeteiligung abgegeben werden, ein
relativ größeres Gewicht als Stimmen in einem Land mit hoher
Wahlbeteiligung. Was die europäischen Sozialdemokraten 2014 den Sieg
kostete, war, dass sie einen großen Teil ihrer Stimmen in Italien
erzielten – einem großen Land mit hoher Wahlbeteiligung, in dem
die einzelne Stimme deshalb besonders wenig zählt.
Ein
Kompromiss aus Bürger- und Staatengleichheit?
Nun
ist das Prinzip der degressiven Proportionalität natürlich nicht
vom Himmel gefallen. Vielmehr hat es seine eigene Logik, die sich aus
den enormen Größenunterschieden der Mitgliedstaaten erklärt:
Würden die nationalen Sitzkontingente bei der Europawahl jeweils
getreu die Bevölkerungszahlen widerspiegeln, so stünden Deutschland
rund 200 Mal so viele Sitze zu wie Malta, Luxemburg oder Estland.
Selbst wenn die kleinsten Staaten nur jeweils einen einzelnen
Europaabgeordneten wählen dürften, würde das Europäische
Parlament auf über tausend Mitglieder anwachsen und wäre damit
weitaus
größer als jedes andere demokratische Parlament der Welt.
Die degressive Proportionalität ist deshalb der Versuch eines
Kompromisses: Sie soll einerseits auch in den kleinsten
Mitgliedstaaten eine bedeutungsvolle Europawahl mit mehreren
konkurrierenden Parteien ermöglichen, andererseits aber verhindern,
dass das Parlament insgesamt auf eine nicht mehr handlungsfähige
Größe wächst. Der Philosoph Jürgen Habermas rechtfertigte dies
vor einigen Jahren mit dem Argument, dass das Europawahlrecht die Idee der „Bürgergleichheit“ mit jener der „Staatengleichheit“ verknüpfe.
Die
Meinung des Bundesverfassungsgerichts
Aber kann dieses Argument wirklich eine so offensichtliche Abweichung vom
Prinzip der Wahlgleichheit rechtfertigen? Vor allem in Deutschland –
das als größter Mitgliedstaat besonders stark von der degressiven
Proportionalität betroffen ist – wird das „undemokratische“
Europawahlrecht seit langem immer wieder kritisiert. Und diese Kritik
geht keineswegs nur von Europaskeptikern aus: Auch die
Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, Gründerin des European
Democracy Lab und Aktivistin für eine „Europäische
Republik“, sieht die fehlende Wahlgleichheit als eines der größten Probleme der heutigen
Europäischen Union.
Besonders
harsch ist auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, das in seinem
Lissabon-Urteil
von 2009 (Abs. 279ff.) ebenfalls ausführlich auf die degressive
Proportionalität einging. Aufgrund der fehlenden Wahlgleichheit, so
befanden die Richter, „fehlt es der Europäischen Union […] an
einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen
politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen
Repräsentation des Volkswillens“. Das Europäische Parlament
vertrete deshalb nicht das europäische Volk, sondern sei nur „eine
Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten“ im Plural.
Daraus
zog das Verfassungsgericht die Schlussfolgerung, dass eine
gesamteuropäische Demokratie, die sich vor allem auf das Europäische
Parlament stütze, nicht möglich sei. Und das wiederum ließ die
Richter darauf beharren, dass in entscheidenden europapolitischen
Fragen stets ein deutsches Vetorecht erhalten bleiben müsse – und
dass „insbesondere die Bildung einer eigenständigen und mit den in
Staaten üblichen Machtbefugnissen ausgestatteten Regierung aus dem
[Europäischen] Parlament heraus“ abzulehnen sei. Kurz gesagt: Mit
einem solch ungleichen Wahlrecht könne die EU niemals eine
demokratische „Bürgerunion“ sein, sondern immer nur ein „Verbund
souveräner Staaten“.
Furcht,
die kleinen Staaten zu brüskieren
Angesichts
dieser Argumente sollte man meinen, dass gerade die europäischen
Föderalisten sich besonders vehement für europaweite Wahlgleichheit
einsetzen müssten. Doch weit gefehlt: Im Programm
der föderalistischen Europa-Union Deutschland spielt das Thema
nur eine sehr untergeordnete Rolle; lediglich von einer „Wahl des
Europäischen Parlaments auf der Grundlage eines einheitlichen
Wahlrechts“ ist vage die Rede. Tatsächlich vermeidet die
Europa-Union das Thema anscheinend, da sie fürchtet, dass ein
solcher Vorstoß die kleineren Mitgliedstaaten brüskieren könnte. Nachdem die deutsche Bundesregierung in den letzten Jahren
im
Europäischen Rat eine zunehmend dominante Rolle gespielt hat,
soll nicht auch noch das Europäische Parlament in den Ruf geraten,
eine Institution zur Durchsetzung deutscher Interessen zu sein.
Verteidiger
des Status quo verweisen deshalb gerne darauf, dass ja auch in
anderen Parlamenten Verzerrungen zwischen Stimm- und Sitzanteil der
Parteien durchaus üblich sind. Bei den US-amerikanischen
Präsidentschaftswahlen gewann sowohl 2000
als auch 2016
der Kandidat mit der niedrigeren Stimmenzahl – was sicherlich zu
Kontroversen führte, aber nicht zu einer Einstufung der USA als
undemokratischer Staat. Und die Wahlen zum spanischen Parlament
basieren auf
einem System degressiver Proportionalität, das dem der
Europawahl grundsätzlich gar nicht unähnlich ist – nur dass die
Größenunterschiede zwischen den spanischen Provinzen nicht so krass
sind wie die zwischen den EU-Mitgliedstaaten.
Die
Ungleichheit beschädigt die Legitimität der EU-Organe
Was ist davon zu halten? Auch mir scheint, dass die degressive
Proportionalität jedenfalls nicht die wichtigste Ursache für das
Demokratiedefizit der Europäischen Union ist. Der übermäßige
Einfluss der nationalen Regierungen, der daraus folgende
permanente Zwang zu einer großkoalitionären Zusammenarbeit und das Fehlen einer echten Opposition sind für das Funktionieren einer
europäischen Demokratie weitaus größere Probleme.
Auf
der anderen Seite ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die
degressive Proportionalität ein enormes Maß an politischer
Ungleichheit erzeugt. Und auch die Begründung des deutschen
Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil ist zwar nicht in allen
Punkten schlüssig. (Zum Beispiel gehen die Richter fälschlicherweise
davon aus, dass das Europawahlrecht an die Staatsangehörigkeit
gekoppelt sei. Schon seit 1993 dürfen Unionsbürger jedoch im Land
ihres Wohnsitzes an der Europawahl teilnehmen – sodass das
Europäische Parlament jedenfalls keine „Vertretung der Völker“
ist, sondern allenfalls der Einwohnerschaften der Mitgliedstaaten.) Doch sein
Kernargument lässt sich nicht einfach ignorieren: Die Ungleichheit
beschädigt die demokratische Legitimität der europäischen Organe.
Und auch der Habermas’sche Verweis auf die „Staatengleichheit“ kann
gerade aus föderalistischer Perspektive nicht überzeugen. In
einem demokratischen Mehrebenensystem mögen intergouvernementale Staatenkammern wie der Rat der EU oder der
deutsche Bundesrat ihren Platz haben, um die Politik der
verschiedenen Ebenen miteinander zu verflechten. Doch
Staaten sind keine Individuen und „Staatengleichheit“ deshalb
auch kein demokratisches Prinzip. Wenn
die supranationale Ebene der EU selbst demokratisch sein soll, dann
darf die Staatengleichheit bei der Zusammensetzung ihrer Organe keine
ausschlaggebende Rolle spielen.
Das Verfassungsgericht ist ein Veto-Akteur
Und noch ein praktisches Argument spricht dafür, dass die europäischen Föderalisten der Wahlgleichheit etwas mehr
Beachtung schenken sollten: nämlich die Machtposition des Bundesverfassungsgerichts. Die
deutschen Verfassungsrichter sind de facto ein Veto-Akteur bei jeder
EU-Vertragsreform, und ihre restriktive Lissabon-Rechtsprechung stellt
ein wichtiges Hindernis bei vielen künftigen Integrationsschritten
dar, von der Fiskalunion
über die EU-Armee
bis hin zur Wahl der Kommission allein durch das Parlament.
Um dieses Hindernis zu überwinden, gibt es zwei Möglichkeiten:
entweder eine
neue deutsche Verfassung, die sich über die Bedenken des Gerichts
hinwegsetzt – oder ein Meinungswechsel des Gerichts selbst, das dann
in künftigen Urteilen seine frühere Rechtsprechung korrigieren und eine integrationsfreundlichere Linie einschlagen
könnte. Um eine solche Kursänderung zu begründen, bräuchten die Richter jedoch Argumente: Sie müssten erklären können, warum sie Bedenken, die sie früher gegen die supranationalen Institutionen hegten, nun nicht mehr als relevant betrachten. Würde das Europäische Parlament endlich den im Lissabon-Urteil formulierten Kriterien an ein „durch gleiche
Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenes politisches
Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen
Repräsentation des Volkswillens“ entsprechen, könnte dies genau
solch ein Argument sein.
Ein Lösungsvorschlag
Wie
aber könnte ein Europawahlrecht aussehen, das dem Prinzip der
Wahlgleichheit aller Bürger gerecht wird und dennoch für die
Regierungen der kleineren Mitgliedstaaten (die ja ebenfalls über ein
Vetorecht für jede Wahlrechtsreform verfügen) akzeptabel sein
könnte? Wie ich in diesem Blog bereits an anderer Stelle beschrieben
habe, scheint mir die beste Lösung ein
europaweiter Verhältnisausgleich mithilfe von transnationalen Listen
zu sein.
Bei
diesem Modell würden die existierenden nationalen Sitzkontingente in
ihrer heutigen Form erhalten bleiben. Darüber hinaus gäbe es
allerdings ein weiteres,
gesamteuropäisches Sitzkontingent, das über Listen der europäischen
Parteien besetzt würde. Dabei erhielte jede europäische Partei
so viele Sitze aus dem gesamteuropäischen Kontingent, dass ihre
Gesamtsitzzahl – einschließlich der Sitze aus den nationalen
Kontingenten – genau ihrem gesamteuropäischen Stimmenanteil
entspricht. (Ein kleines Rechenbeispiel dazu findet sich hier.)
Gehen
wir der Debatte nicht aus dem Weg!
In
Bezug auf die Vertretung der Mitgliedstaaten wäre das System also
weiterhin degressiv-proportional: Luxemburg und Zypern dürften
weiterhin jeweils sechs Abgeordnete stellen, und niemand müsste
befürchten, dass das Europäische Parlament künftig allein von den
Deutschen dominiert wird. Was die politische Vertretung der
europäischen Bürger betrifft, gäbe es jedoch eine europaweite
Wahlgleichheit: Jede Stimme, egal ob in Italien oder der Slowakei
abgegeben, hätte denselben Einfluss auf den Sitzanteil der
Fraktionen im Europäischen Parlament.
Ich
bin der Überzeugung, dass ein solches System sowohl für die kleinen
Staaten als auch für das deutsche Bundesverfassungsgericht annehmbar
sein könnte – von den anderen
Vorteilen transnationaler Listen ganz zu schweigen. Auch die
europäischen Föderalisten täten deshalb gut daran, der Debatte
über die Wahlgleichheit nicht länger aus dem Weg zu gehen, sondern
sich ihr mit eigenen Reformvorschlägen zu stellen.
Bild: Thomas Hawk [CC BY-NC 2.0 de], via Flickr.
Das ist ja alles weitgehend richtig, aber wenn man eine Sperrklausel fordert, braucht man sich über solche Details der Wahlgleichheit eigentlich keine Gedanken mehr zu machen (vorallem dann, wenn man auch noch niedrige Schwellen für eine Kandidatur will). Und eine wertlose Erststimme kann auch Überhang produzieren, der (je nach daraus resultierendem Wahlverhalten) die gegenwärtige Verzerrung übersteigen kann.
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