09 Januar 2025

Brüsseler Maulwurf: Gretchenfrage China

Von Niklas Helwig
Faust und Gretchen im Garten, Gemälde von James Tissot (1861)


Nun sag, wie hast du’s mit China?

In Goethes Faust stellt Gretchen ihrem Geliebten eine gezielte Frage: Woran glaubt er? Es ist ein Moment, der den Protagonisten dazu zwingt, seine innersten Überzeugungen zu offenbaren – oder sich ihnen ganz zu entziehen. Ich gebe zu, es ist ein Klischee, mich als Deutscher an einem unserer nationalen Literaturschätze zu bedienen, aber in diesem Fall ist es sehr passend. Die EU steht heute vor ihrer eigenen Gretchenfrage: Wie soll sie ihr Verhältnis zu China definieren?

Oberflächlich betrachtet scheint sich Brüssel auf eine härtere Linie zuzubewegen. Bei seiner Anhörung im Europäischen Parlament nannte der neue Verteidigungs- und Raumfahrtkommissar Andrius Kubilius neben Russland, Iran und Nordkorea auch China als einen Gegner, gegen den sich die EU verstärkt zur Wehr setzen müsse. Diese Rhetorik spiegelt das Framing Washingtons wider, wo man die vier Länder oft als „Axis of Upheaval“ in einen Topf wirft, ohne sich die Mühe zu machen, zwischen den unterschiedlichen mit ihnen jeweils verbundenen Bedrohungen und Dynamiken zu unterscheiden.

Ein Paradox strategischer Prioritäten

Es wäre naiv, die Sorgen über Chinas Aktivitäten von der Hand zu weisen. Vorfälle wie die Sabotage von Unterseekabeln in der Ostsee im November, bei der ein chinesisches Frachtschiff verdächtigt wurde, führen das deutlich vor Augen. Die neu gewonnene Klarheit der EU über die Rolle Chinas scheint jedoch auch durch die Wiederwahl von Donald Trump in den USA beeinflusst zu sein. Trumps scharfer Fokus auf China als „Feind Nummer eins“ veranlasst die Europäer:innen, eine gemeinsame Linie mit Washington zu signalisieren.

Doch die Rhetorik steht im Kontrast zu den sanfteren Realitäten in den täglichen Beziehungen zwischen Brüssel und Beijing. Chinesische Diplomat:innen sind Stammgäste an Brüsseler Konferenzbuffets, wo sie bei faden Häppchen die Vorzüge der Zusammenarbeit preisen. Während auf den Fluren der EU-Institutionen von wirtschaftlichem „De-Risking“ und strategischer Autonomie gesprochen wird, scheint unter den Brüsseler Anwohner:innen die größte Sorge das Parkchaos zu sein, das durch die Erweiterung der chinesischen Botschaft zu erwarten ist.

Das Paradox erstreckt sich auch auf die strategischen Prioritäten. Während die EU die Notwendigkeit anerkennt, ein Gegengewicht zum chinesischen Einfluss zu schaffen, hofft sie gleichzeitig auf Beijings Kooperation bei der Bewältigung drängender globaler Herausforderungen. Nirgendwo zeigt sich dieses Dilemma deutlicher als in der Ukraine. Die EU möchte ihre unerschütterliche Unterstützung für Kyjiw als Teil einer umfassenderen Anstrengung zur Eindämmung revisionistischer Mächte wie China und Russland darstellen – eine Botschaft, die direkt an Washington gerichtet ist. Gleichzeitig erkennen aber sowohl die Staats- und Regierungschef:innen der EU als auch die ukrainische Regierung an, dass China einen wichtigen Einfluss auf Moskau ausübt und sein Engagement deshalb für den Frieden unverzichtbar ist.

Glück, Herz, Liebe, Gott

Diese Gratwanderung droht zu scheitern, wenn Trump den Druck auf Europa erhöht, eine härtere Gangart gegenüber Beijing einzuschlagen. Unterdessen soll der Präsident des Europäischen Rates, António Costa, bereits nach Terminen für ein neues Gipfeltreffen mit China suchen, um ein strategisches Vakuum zu vermeiden und den Dialog aufrechtzuerhalten. Solche Gipfeltreffen lösen unweigerlich intensive Vorbereitungsdebatten aus, die der EU helfen könnten, eine einheitliche Botschaft für den Umgang mit China zu formulieren.

Und wie hat nun Faust auf Gretchens bohrende Frage nach seinem Glauben geantwortet? Ausweichend. „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!“, sagt er, strategisch zweideutig in seinem Versuch, sie für sich zu gewinnen. Auch Brüssel könnte feststellen, dass strategische Ambiguität die beste Antwort ist. Angesichts wirtschaftlicher Abhängigkeiten, geopolitischer Herausforderungen und des Drucks von Seiten der Verbündeten könnte Brüssel zu dem Schluss kommen, dass Ambivalenz – ein Gleichgewicht zwischen Entschlossenheit und Engagement – der einzige Weg ist, um mit seiner chinesischen Gretchenfrage umzugehen.

Porträt Niklas Helwig
Niklas Helwig ist ein in Brüssel ansässiger Leading Researcher am Finnish Institute of International Affairs (FIIA), dessen persönliche Gretchenfrage darin besteht, ob er zu seinen belgischen Pommes frites Mayonnaise oder Sauce andalouse nehmen soll.


Die Kolumne „Brüsseler Maulwurf“ erscheint in Zusammenarbeit mit Ulkopolitiikka, der finnischen Zeitschrift für internationale Politik. Der finnische Originaltext ist hier zu finden. Sämtliche Ausgaben des Brüsseler Maulwurfs gibt es hier.



Übersetzung: Manuel Müller.
Bild: Faust und Gretchen im Garten: James Tissot, 1861 [public domain], via Wikimedia Commons; Porträt Niklas Helwig: FIIA [alle Rechte vorbehalten].

The Brussels Mole: A Chinese Gretchenfrage

By Niklas Helwig
Faust and Gretchen in the Garden, painting by James Tissot (1861)


How is’t with thy relationship with China, pray?

In Goethe’s Faust, Gretchen asks her lover a pointed question: What does he believe in? It’s a moment that forces the protagonist to reveal his core convictions – or evade them entirely. As a German, I admit it’s a cliché to invoke one of our national literary treasures, but in this case, it feels apt. Today, the EU faces its own Gretchenfrage: how to define its relationship with China.

On the surface, Brussels appears to be shifting toward a more hawkish stance. During his confirmation hearing, Andrius Kubilius, the new Commissioner for Defence and Space, listed China alongside Russia, Iran, and North Korea as adversaries against whom the EU must strengthen its defense. This rhetoric mirrors Washington’s framing, where the four countries are often lumped together as the “Axis of Upheaval,” often with a lack of effort to distinguish their differing threats and dynamics.

A paradox of strategic priorities

It would be naïve to dismiss concerns about China’s activities, with incidents like the sabotage of undersea cables in the Baltic Sea in November – when Chinese ships were involved – serving as stark reminders. However, the EU’s newfound clarity on China’s role may also be influenced by the re-election of Donald Trump in the US. Trump’s sharp focus on China as the “enemy number one” has spurred European efforts to signal alignment with Washington.

Yet the rhetoric contrasts with the softer realities of Brussels’ day-to-day dealings with Beijing. Chinese diplomats are regulars at Brussels’ conference buffets, extolling the virtues of cooperation over stale sandwiches. While the corridors of EU institutions buzz with talk of economic “de-risking” and strategic autonomy, the biggest concern for local residents in Brussels seems to be the parking chaos expected from the expansion of the Chinese embassy.

The paradox extends to strategic priorities. While the EU recognizes the need to counterbalance Chinese influence, it also holds out hope for Beijing’s cooperation on urgent global challenges. Nowhere is this conundrum more apparent than in Ukraine. The EU wants to present its unwavering support for Kyiv as part of a broader effort to contain revisionist powers like China and Russia – a message aimed squarely at Washington. Simultaneously, both EU leaders and the Ukrainian government acknowledge China’s leverage over Moscow, making its engagement essential to achieving peace.

Bliss, Heart, Love, God

This tightrope walk risks collapse if Trump intensifies pressure on Europe for a tougher stance against Beijing. Meanwhile, European Council President António Costa is reportedly scouting for dates for a new summit with China, hoping to prevent a strategic void and maintain dialogue. Such summits inevitably spark intense preparatory debates, which could help the EU refine a unified message on how to engage with China.

So, how did Faust respond to Gretchen’s probing question about his faith? Evasively. “Call it Bliss! Heart! Love! God!” he said, strategically ambiguous in his bid to win her over. Brussels, too, may find that strategic ambiguity is its best answer. Facing economic dependencies, geopolitical challenges, and pressure from allies, Brussels might find that ambivalence – balancing firmness with engagement – is the only way to navigate its Gretchenfrage with China.

Porträt Niklas Helwig
Niklas Helwig is a Brussels-based Leading Researcher at the Finnish Institute of International Affairs (FIIA), whose personal Gretchenfrage is whether to take mayonnaise or sauce andalouse with his Belgian fries.


The Brussels Mole column is published in cooperation with Ulkopolitiikka, the Finnish Journal of Foreign Affairs. The original Finnish text can be found here. To see all Brussels Mole articles, click here.



Pictures: Faust and Gretchen in the Garden: James Tissot, 1861 [public domain], via Wikimedia Commons;; portrait Niklas Helwig: FIIA [all rights reserved].