In Goethes Faust stellt Gretchen ihrem Geliebten eine gezielte Frage: Woran glaubt er? Es ist ein Moment, der den Protagonisten dazu zwingt, seine innersten Überzeugungen zu offenbaren – oder sich ihnen ganz zu entziehen. Ich gebe zu, es ist ein Klischee, mich als Deutscher an einem unserer nationalen Literaturschätze zu bedienen, aber in diesem Fall ist es sehr passend. Die EU steht heute vor ihrer eigenen Gretchenfrage: Wie soll sie ihr Verhältnis zu China definieren?
Oberflächlich betrachtet scheint sich Brüssel auf eine härtere Linie zuzubewegen. Bei seiner Anhörung im Europäischen Parlament nannte der neue Verteidigungs- und Raumfahrtkommissar Andrius Kubilius neben Russland, Iran und Nordkorea auch China als einen Gegner, gegen den sich die EU verstärkt zur Wehr setzen müsse. Diese Rhetorik spiegelt das Framing Washingtons wider, wo man die vier Länder oft als „Axis of Upheaval“ in einen Topf wirft, ohne sich die Mühe zu machen, zwischen den unterschiedlichen mit ihnen jeweils verbundenen Bedrohungen und Dynamiken zu unterscheiden.
Ein Paradox strategischer Prioritäten
Es wäre naiv, die Sorgen über Chinas Aktivitäten von der Hand zu weisen. Vorfälle wie die Sabotage von Unterseekabeln in der Ostsee im November, bei der ein chinesisches Frachtschiff verdächtigt wurde, führen das deutlich vor Augen. Die neu gewonnene Klarheit der EU über die Rolle Chinas scheint jedoch auch durch die Wiederwahl von Donald Trump in den USA beeinflusst zu sein. Trumps scharfer Fokus auf China als „Feind Nummer eins“ veranlasst die Europäer:innen, eine gemeinsame Linie mit Washington zu signalisieren.
Doch die Rhetorik steht im Kontrast zu den sanfteren Realitäten in den täglichen Beziehungen zwischen Brüssel und Beijing. Chinesische Diplomat:innen sind Stammgäste an Brüsseler Konferenzbuffets, wo sie bei faden Häppchen die Vorzüge der Zusammenarbeit preisen. Während auf den Fluren der EU-Institutionen von wirtschaftlichem „De-Risking“ und strategischer Autonomie gesprochen wird, scheint unter den Brüsseler Anwohner:innen die größte Sorge das Parkchaos zu sein, das durch die Erweiterung der chinesischen Botschaft zu erwarten ist.
Das Paradox erstreckt sich auch auf die strategischen Prioritäten. Während die EU die Notwendigkeit anerkennt, ein Gegengewicht zum chinesischen Einfluss zu schaffen, hofft sie gleichzeitig auf Beijings Kooperation bei der Bewältigung drängender globaler Herausforderungen. Nirgendwo zeigt sich dieses Dilemma deutlicher als in der Ukraine. Die EU möchte ihre unerschütterliche Unterstützung für Kyjiw als Teil einer umfassenderen Anstrengung zur Eindämmung revisionistischer Mächte wie China und Russland darstellen – eine Botschaft, die direkt an Washington gerichtet ist. Gleichzeitig erkennen aber sowohl die Staats- und Regierungschef:innen der EU als auch die ukrainische Regierung an, dass China einen wichtigen Einfluss auf Moskau ausübt und sein Engagement deshalb für den Frieden unverzichtbar ist.
Glück, Herz, Liebe, Gott
Diese Gratwanderung droht zu scheitern, wenn Trump den Druck auf Europa erhöht, eine härtere Gangart gegenüber Beijing einzuschlagen. Unterdessen soll der Präsident des Europäischen Rates, António Costa, bereits nach Terminen für ein neues Gipfeltreffen mit China suchen, um ein strategisches Vakuum zu vermeiden und den Dialog aufrechtzuerhalten. Solche Gipfeltreffen lösen unweigerlich intensive Vorbereitungsdebatten aus, die der EU helfen könnten, eine einheitliche Botschaft für den Umgang mit China zu formulieren.
Und wie hat nun Faust auf Gretchens bohrende Frage nach seinem Glauben geantwortet? Ausweichend. „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!“, sagt er, strategisch zweideutig in seinem Versuch, sie für sich zu gewinnen. Auch Brüssel könnte feststellen, dass strategische Ambiguität die beste Antwort ist. Angesichts wirtschaftlicher Abhängigkeiten, geopolitischer Herausforderungen und des Drucks von Seiten der Verbündeten könnte Brüssel zu dem Schluss kommen, dass Ambivalenz – ein Gleichgewicht zwischen Entschlossenheit und Engagement – der einzige Weg ist, um mit seiner chinesischen Gretchenfrage umzugehen.
Niklas Helwig ist ein in Brüssel ansässiger Leading Researcher am Finnish Institute of International Affairs (FIIA), dessen persönliche Gretchenfrage darin besteht, ob er zu seinen belgischen Pommes frites Mayonnaise oder Sauce andalouse nehmen soll. |
Die Kolumne „Brüsseler Maulwurf“ erscheint in Zusammenarbeit mit Ulkopolitiikka, der finnischen Zeitschrift für internationale Politik. Der finnische Originaltext ist hier zu finden. Sämtliche Ausgaben des Brüsseler Maulwurfs gibt es hier.