Dieser Text wurde im Licht neuer Ereignisse in unregelmäßigen Abständen aktualisiert. Letztes Update: November 2019.
Die Tage der Kommission Juncker sind gezählt: Am 26. Mai haben die europäischen Bürgerinnen und Bürger ein neues Europäisches Parlament gewählt, das im Herbst 2019 über die nächste Europäische Kommission abstimmen wird.
Doch bis tatsächlich ein neuer Chef (oder eine neue Chefin) ins Brüsseler
Berlaymont-Gebäude einziehen kann, ist es ein weiter Weg, auf dem erst zwei von drei Etappen hinter uns liegen: In der Vorwahl-Saison nominierten die europäischen Parteien ihre Spitzenkandidaten und verabschiedeten ihre Wahlprogramme. Im Frühjahr 2019 folgte der eigentliche Wahlkampf, in dem sich die Bewerber der europäischen Bevölkerung vorstellten. Wirklich entschieden wird das Rennen um die Kommissionspräsidentschaft jedoch erst nach der Wahl – wenn es darum geht, sich sowohl im Europäischen Parlament als auch unter den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat eine Mehrheit zu sichern.
Hier ein Überblick
über die wichtigsten Stationen und Termine in zeitlicher Reihenfolge. Um direkt zu dem aktuell nächsten Schritt zu springen, klicken Sie bitte hier.
Die Vorwahl-Saison
Wer Kommissionspräsident werden will, tut gut
daran, sich zuvor von seiner europäischen Partei zum Spitzenkandidaten
nominieren zu lassen: In einer Resolution von Februar 2018 hat das
Europäische Parlament gewarnt, dass es „bereit ist, jeden Kandidaten
abzulehnen, der im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament nicht als
Spitzenkandidat benannt wurde“. Das genaue Verfahren und der Zeitplan
dieser Spitzenkandidaten-Nominierungen unterschieden sich allerdings je
nach Partei. Parallel dazu verabschiedeten die europäischen Parteien auch
ihre – meist als „Manifesto“ bezeichneten – europaweiten Wahlprogramme.
Die Vorwahl-Saison dauerte von Herbst 2018 bis Frühling 2019 an.
19.-20. Oktober 2018: Allianz der Konservativen und Reformer in Europa (AKRE) | |
Ausrichtung: | nationalkonservativ-europaskeptisch |
Mitgliedsparteien: | u.a. PiS (Polen), ODS (Tschechien) |
Fraktion: | EKR (derzeit 75 Sitze) |
Spitzenkandidat | |
Nominiert: | Jan Zahradil (Tschechien), Europaabgeordneter und AKRE-Parteichef |
Wann und wo: | Parteirat in Chisinau, 19./20. Oktober 2018 |
Verfahren: | Wahl durch Delegierte der nationalen Mitgliedsparteien und der AKRE-Unterorganisationen |
Anmerkung: | Die AKRE lehnt das Spitzenkandidaten-Verfahren grundsätzlich ab, tritt aber – anders als noch bei der letzten Europawahl 2019 – mit einem eigenen Spitzenkandidaten an, um ihre Sichtbarkeit im Wahlkampf erhöhen. Da der Deutsche Hans-Olaf Henkel Ende September seine Bewerbung um die Spitzenkandidatur zurückzog und aus der Partei austrat, blieb Zahradil vor dem Parteirat in Chisinau als einziger Bewerber übrig. |
Wahlprogramm | |
Präsentation: | Kampagnenauftakt, 28. Oktober 2018 |
Volltext: | PDF (Englisch) |
Anmerkung: | Bei dem Wahlprogramm handelt es sich offiziell um das Programm des Spitzenkandidaten Jan Zahradil, nicht um ein gemeinsames Programm der Partei AKRE. |
7.-8. November 2018: Europäische Volkspartei (EVP) |
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Ausrichtung: | christdemokratisch-konservativ |
Mitgliedsparteien: | u.a. CDU/CSU (Deutschland), PO (Polen), PP (Spanien), Fidesz (Ungarn) |
Fraktion: | EVP (derzeit 217 Sitze) |
Spitzenkandidat | |
Nominiert: |
Manfred Weber (Deutschland), EVP-Fraktionschef
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Wann und wo: | Parteikongress in Helsinki, 7./8. November 2018 |
Verfahren: | Wahl durch 734 Delegierte der nationalen Mitgliedsparteien und der EVP-Unterorganisationen (z.B. Jugendverband YEPP) |
Anmerkung: | Auf dem Kongress setzte sich Weber mit 492 Delegiertenstimmen (ca. 79%) gegen den früheren finnischen Ministerpräsidenten Alexander Stubb durch. |
Wahlprogramm | |
Verabschiedung: | April 2019 |
Volltext: | PDF (Englisch) |
23.-25. November 2018: Europäische Grüne Partei (EGP) |
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Ausrichtung: | grün |
Mitgliedsparteien: | u.a. Grüne (Deutschland), EELV (Frankreich), GroenLinks (Niederlande) |
Fraktion: | Grüne/EFA (derzeit 52 Sitze) |
Spitzenkandidaten | |
Nominiert: |
Ska Keller (Deutschland), G/EFA-Fraktionschefin
Bas Eickhout (Niederlande), Europaabgeordneter |
Wann und wo: | |
Verfahren: | Wahl durch 108 Delegierte der nationalen Mitgliedsparteien sowie EGP-Unterorganisationen (z.B. Jugendverband FYEG). Die EGP ernennt zwei Spitzenkandidaten, darunter mindestens eine Frau. Eine offene europaweite Online-Vorwahl wie 2014 gibt es diesmal nicht. |
Anmerkung: | Von den zunächst vier Bewerbern um die Spitzenkandidatur erhielt Atanas Schmidt (Bulgarien) nicht die nötige Unterstützung durch fünf nationale EGP-Mitgliedsparteien und schied deshalb aus dem Verfahren aus. Auf dem Parteitag in Berlin setzten sich Keller und Eickhout in der Abstimmung gegen die dritte Bewerberin, die belgische Senatorin Petra de Sutter, durch. |
Wahlprogramm | |
Verabschiedung: | Parteitag in Berlin, 23.-25. November 2018 |
Volltext: | PDF (Langversion, Englisch) PDF (Kurzversion, Englisch) |
26.-27. Januar 2019: Europäische Linke (EL) |
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Ausrichtung: | links |
Mitgliedsparteien: | u.a. Die Linke (Deutschland), Syriza (Griechenland), IU (Spanien) |
Fraktion: | GUE/NGL (derzeit 52 Sitze) |
Spitzenkandidaten | |
Nominiert: |
Violeta Tomič (Slowenien), Mitglied des slowenischen Parlaments
Nico Cué (Belgien), ehemaliger Generalsekretär der belgischen Metallgewerkschaft |
Wann und wo: | Parteivorstandstreffen in Brüssel, 26./27. Januar 2019 |
Verfahren: | Die Spitzenkandidaten wurden vom 41-köpfigen Parteivorstand ernannt. |
Anmerkung: | Da einzelne Mitgliedsparteien das Verfahren ablehnten, war lange Zeit unklar, ob die Europäische Linke tatsächlich einen oder mehrere Spitzenkandidaten ernennen würde. Ein Parteibeschluss Ende September 2018 übertrug die Entscheidung darüber auf den Parteivorstand. Vorschläge für die Spitzenkandidatur konnten die Mitgliedsparteien bis zum 16. November 2018 einreichen, wobei auch „Persönlichkeiten außerhalb der Europäischen Linken“ in Frage kommen sollten. |
Wahlprogramm | |
Verabschiedung: | Parteivorstandstreffen in Brüssel, 26./27. Januar 2019 |
7.-8. Dezember 2018 / 23. Februar 2019: Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) |
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Ausrichtung: | sozialdemokratisch |
Mitgliedsparteien: | u.a. SPD (Deutschland), PSOE (Spanien), PD (Italien), PSD (Rumänien) |
Fraktion: | S&D (derzeit 187 Sitze) |
Spitzenkandidat | |
Nominiert: | Frans Timmermans (Niederlande), Erster Vizepräsident der Europäischen Kommission |
Wann und wo: | |
Verfahren: | Nach einem im Sommer 2018 beschlossenen Wahlverfahren sollten vor dem Parteikongress auch die Mitglieder der nationalen Mitgliedsparteien an der Vorwahl beteiligt werden. Dieses Mitgliedervotum sollte für die Kongressdelegierten bindend sein. |
Anmerkung: | Das vorgesehene Verfahren entfiel, da bis auf Timmermans alle Kandidaten – Christian Kern (Österreich) und Maroš Šefčovič (Slowakei) – ihre Bewerbung zurückzogen. Timmermans stand damit bereits im November 2018 als Spitzenkandidat fest und wurde auf dem Kongress nur formal bestätigt. |
Wahlprogramm | |
Verabschiedung: | Parteikongress in Madrid am 23. Februar 2019 |
Volltext: | PDF (Deutsch), Links zum Volltext in weiteren Sprachen |
Anmerkung: | Als Grundlage für das Wahlprogramm verabschiedete die SPE auf dem Kongress im Dezember 2018 acht weitere inhaltliche Resolutionen. |
6.-9. März 2019: Europäische Freie Allianz (EFA) |
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Ausrichtung: | regionalistisch/separatistisch |
Mitgliedsparteien: | u.a. N-VA (Belgien/Flandern), ERC (Spanien/Katalonien), BNG (Spanien/Galicien), SNP (Großbritannien/Schottland) |
Fraktion: | Grüne/EFA (derzeit 52 Sitze) |
Spitzenkandidat | |
Nominiert: |
Oriol Junqueras (Spanien), Mitglied des katalanischen Regionalparlaments und früherer katalanischer Vizepräsident
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Wann und wo: | |
Verfahren: | Wahl durch gut 100 Delegierte der nationalen Mitgliedsparteien. |
Anmerkung: | Die EFA bildet mit den europäischen Grünen eine Fraktionsgemeinschaft. Anders als bei der Europawahl 2014 tritt sie diesmal aber mit einem eigenen Spitzenkandidaten an. Die Mitgliedsparteien konnten dafür bis zum 1. Februar 2019 Bewerber nominieren. Einziger Kandidat war Oriol Junqueras, der sich derzeit in Untersuchungshaft befindet, da ihm verschiedene Delikte in Zusammenhang mit dem katalanischen Unabhängigkeitsreferendum 2017 vorgeworfen werden. Junqueras ist gleichzeitig auch Spitzenkandidat seiner Partei ERC für die spanische nationale Parlamentswahl am 28. April. |
Wahlprogramm | |
Verabschiedung: | Parteitag in Brüssel, 6.-9. März 2019 |
Volltext: | PDF (Englisch) |
8.-11. November 2018 / 21. März 2019: Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) |
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Ausrichtung: | liberal |
Mitgliedsparteien: | u.a. FDP (Deutschland), Ciudadanos (Spanien), ANO (Tschechien), VVD (Niederlande) |
Fraktion: | ALDE (derzeit 68 Sitze) |
Wahlkampfteam | |
Nominiert: |
Nicola Beer (Deutschland), Mitglied des Bundestags
Emma Bonino (Italien), Mitglied des italienischen Senats Violeta Bulc (Slowenien), Verkehrskommissarin Katalin Cseh (Ungarn), Ärztin Luis Garicano (Spanien), Ökonom, ALDE-Vizeparteichef Guy Verhofstadt (Belgien), ALDE-Fraktionschef Margrethe Vestager (Dänemark), Wettbewerbskommissarin |
Wann und wo: | Treffen der ALDE-Parteispitzen (Pre-Summit), 21. März 2019 |
Verfahren: | Nach einem Parteibeschluss am 9. November 2018 sollte ALDE-Parteichef Hans van Baalen ein mindestens siebenköpfiges Wahlkampfteam („Team Europe“) vorschlagen. Auf dem Pre-Summit am 21. März 2019 wurden die sieben von der Parteispitze vorgeschlagenen Mitglieder formal bestätigt. Bei dem Pre-Summit handelt es sich um das regelmäßig am Vorabend des Europäischen Rates stattfindende Treffen der zur ALDE gehörenden Regierungschefs und Kommissionsmitglieder. Am 21. März nahmen zusätzlich auch die Vorsitzenden aller nationalen Mitgliedsparteien teil. |
Anmerkung: | Mit diesem Verfahren wich die ALDE von ihrem im Mai 2018 beschlossenen Zeitplan ab, der die Ernennung eines einzelnen Spitzenkandidaten auf einem Parteikongress Ende Februar vorsah. Die Entscheidung, stattdessen ein mehrköpfiges Team zu nominieren, galt auch als Zugeständnis an die französische Regierungspartei LREM, mit der die ALDE nach der Europawahl eine gemeinsame Fraktion bilden will und die das Spitzenkandidaten-Verfahren strikt ablehnt. Die Ernennung des Wahlkampfteams sollte zunächst auf dem ALDE-Parteikongress in Berlin am 9. Februar 2019 erfolgen, wurde dann aber auf den Pre-Summit am 21. März verschoben. |
Wahlprogramm | |
Verabschiedung: | Parteikongress in Madrid, 8.-11. November 2018 |
Volltext: | PDF (Englisch) |
Frühjahr 2019: Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit (BENF) |
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Ausrichtung: | rechtsaußen |
Mitgliedsparteien: | u.a. Lega (Italien), RN (Frankreich), FPÖ (Österreich) |
Fraktion: | ENF (derzeit 37 Sitze) |
Kein Spitzenkandidat | |
Anmerkung: | Als inoffizielle Führungsfigur der Rechtsaußen-Parteien gilt der italienische Innenminister Matteo Salvini. Wie schon 2014 nominiert die BENF jedoch formell keinen gemeinsamen Spitzenkandidaten. |
Kein Wahlprogramm | |
Anmerkung: | Wie schon 2014 verabschiedet die BENF kein gemeinsames Wahlprogramm. |
Der Wahlkampf
In der Vergangenheit wurden Europawahlkämpfe vor allem auf nationaler
Ebene ausgetragen – und es ist damit zu rechnen, dass das auch diesmal
wieder der Fall sein wird. Doch auch den europäischen Spitzenkandidaten
wird in dieser Zeit nicht langweilig werden. Einige Ereignisse in den
Wochen vor der Wahl dürften europaweit Widerhall finden und den
Wahlkampf beeinflussen.
29. März 2019 / 12. April 2019: Kein Brexit (oder doch?) |
Nach dem ursprünglichen Zeitplan sollte Großbritannien vor der Europawahl aus der EU austreten. Mit dem Brexit tritt eine Reform der nationalen Sitzkontingente im Europäischen Parlament in Kraft: Von den 73 britischen Sitzen werden 27 auf andere EU-Staaten umverteilt. Die übrigen 46 bleiben unbesetzt, sodass die Gesamtgröße des Parlaments von 751 auf 705 Abgeordnete schrumpft. |
Auf Bitten der britischen Regierung wurde der zunächst für den 29. März 2019 vorgesehene Austrittstermin jedoch zweimal verschoben: zunächst auf den 12. April, dann auf den 31. Oktober 2019. Sofern das britische Parlament vor diesem Datum den bereits mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag ratifiziert, erfolgt der Austritt am ersten Tag des auf die Ratifikation folgenden Monats. |
Da das Vereinigte Königreich den Vertrag bis zum 30. April nicht ratifiziert hat, steht nunmehr fest, dass es noch einmal an der Europawahl teilnehmen wird. Es bleibt deshalb zunächst bei der bisherigen Sitzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten; die Reform der Sitzkontingente wird erst nach dem Austritt in Kraft treten. Die Mitgliedstaaten, denen dann zusätzliche Sitze zukommen, wählen jedoch schon jetzt die Ersatzkandidaten, die dann zum Zuge kommen werden. |
Die Wahlteilnahme des Vereinigten Königreichs dürfte sich auch auf das Kräftegleichgewicht zwischen den Fraktionen im Europäischen Parlament auswirken: In Großbritannien sind europaskeptische Parteien überdurchschnittlich stark, die EVP hingegen überhaupt nicht vertreten. |
9. Mai 2019: Europäischer Rat in Sibiu |
Zweieinhalb Wochen vor der Wahl trafen sich die nationalen Staats- und Regierungschefs im rumänischen Sibiu, um über ihre „Strategische Agenda für 2019-2024“ zu beraten. Außerdem verabschiedeten sie eine feierliche Erklärung, in der sie sich zu dem Ziel bekannten, „unsere Union zu stärken und unsere Zukunft strahlender zu gestalten“. Das symbolisch aufgeladene, gezielt auf den Europatag am 9. Mai gelegte Treffen sollte Einigkeit und eine positive Aufbruchstimmung signalisieren. |
April / Mai 2019: Spitzenkandidaten-Debatten |
Wie bereits 2014 wird es vor der Wahl eine Reihe von öffentlichen Debatten geben, an denen die Spitzenkandidaten einiger oder aller europäischer Parteien teilnehmen. Diese Debatten werden teils im Fernsehen, teils als Online-Livestream übertragen. |
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23.-26. Mai 2019: Europawahl |
Wie üblich fand die Europawahl nach Mitgliedstaaten getrennt statt, wobei sich die nationalen Wahlregeln je nach Land unterschieden. In den meisten Ländern, darunter auch Deutschland, wurde am Sonntag, den 26. Mai, gewählt. |
Während EVP und Sozialdemokraten deutliche Verluste litten, konnten vor allem liberale, aber auch grüne und europaskeptisch-rechtspopulistische Parteien in vielen Ländern dazugewinnen. Die EVP blieb stärkste Fraktion, doch zum ersten Mal in der Geschichte des Europäischen Parlaments hat die „Große Koalition“ aus EVP und Sozialdemokraten keine Mehrheit mehr und ist deshalb zwingend auf die Unterstützung durch andere Parteien angewiesen. Eine Übersicht der Zusammensetzung des Parlaments nach der Wahl ist hier zu finden. |
Nach der Wahl
Mit der Europawahl beginnt die heiße Phase für die neue Kommission. Wer Kommissionspräsident werden will, muss nun gleich in zwei Institutionen eine Mehrheit organisieren: unter den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat und unter den Abgeordneten im Europäischen Parlament – obwohl diese sich erst einmal selbst neu zu Fraktionen zusammenfinden müssen. Erst wenn dies gelungen ist, ist der Weg auch für die Ernennung der übrigen Kommissionsmitglieder frei.
28. Mai 2019: Sondergipfel des Europäischen Rats |
Bereits zwei Tage nach der Europawahl traf sich der Europäische Rat zu einem „informellen Abendessen“, um über das Wahlergebnis und über die Benennung der nächsten EU-Spitzenposten zu beraten. Wie erwartet führte der Sondergipfel jedoch nicht zu konkreten Ergebnissen. In seiner Abschlusserklärung kündigte Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) Beratungen mit dem Europäischen Parlament an, die nach seiner Absicht noch im Juni zu einer Einigung zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament über die Besetzung der europäischen Spitzenämter führen sollen. |
Mai/Juni 2019: Fraktionsbildung im Europäischen Parlament |
Im Europäischen Parlament müssen sich nach der Wahl erst einmal die Fraktionen neu konstituieren, wofür jeweils mindestens 25 Abgeordnete aus verschiedenen Ländern nötig sind. Dabei kam es zu einigen Veränderungen: |
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Mai/Juni 2019: Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament |
Während sich die Fraktionen neu zusammenfinden, muss das Europäische Parlament auch nach einer Mehrheit für die Wahl des neuen Kommissionspräsidenten suchen. 2014 vereinbarten die drei großen Fraktionen EVP, S&D und ALDE, den Spitzenkandidaten der stärksten Gruppierung zu unterstützen. |
2019 war die Mehrheitsbildung schwieriger: EVP und S&D hatten bei der Europawahl ihre gemeinsame Mehrheit verloren und waren deshalb zwingend auf die Unterstützung einer dritten Fraktion angewiesen. Dabei unterstützten die Grünen/EFA die Position von EVP und S&D, keinen Nicht-Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten zu wählen; die Liberalen (Renew Europe) hingegen standen dem Spitzenkandidaten-Verfahren skeptisch gegenüber. |
Vor allem aber waren sich die Fraktionen über die entscheidende Personalie nicht einig: Während die EVP darauf beharrte, als stärkste Fraktion auch den Kommissionspräsidenten zu stellen, schlossen insbesondere Sozialdemokraten und Liberale die Wahl von Manfred Weber aus. Nach der Wahl fanden deshalb vierseitige Verhandlungen zwischen EVP, S&D, Renew Europe und Grünen/EFA statt, in denen es vor allem um gemeinsame inhaltliche Forderungen an die nächste Kommission ging. Eine Einigung über die Person des nächsten Kommissionspräsidenten gelang hingegen nicht. |
Diese Uneinigkeit schwächte die Position des Parlaments gegenüber den Staats- und Regierungschefs. Hätte sich im Europäischen Parlament bereits eine Mehrheit für einen bestimmten Kandidaten abgezeichnet, so hätte der Europäische Rat diesen wohl auch als Kommissionspräsidenten vorgeschlagen, um eine Krise zwischen den Institutionen zu vermeiden. Ohne eine klare Mehrheit zugunsten eines bestimmten Kandidaten konnte sich der Europäische Rat in seiner Entscheidung freier fühlen. |
2. Juli 2019: Vorschlag des Kommissionspräsidenten im Europäischen Rat |
Der offizielle Vorschlag eines Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten erfolgt durch die nationalen Staats- und Regierungschefs. Nötig ist hierfür formal eine verstärkte qualifizierte Mehrheit (Zustimmung von 72% der Mitglieder, deren Länder mindestens 65% der EU-Bevölkerung umfassen), faktisch strebt der Europäische Rat aber weitgehende Einigkeit an. Ursprünglich sollte dieser Vorschlag bereits am 20. Juni auf dem ersten regulären Treffen des Europäischen Rats nach der Europawahl erfolgen, auf dem jedoch keine Einigung erzielt wurde. Stattdessen wurde für den 30. Juni ein weiteres Treffen anberaumt, das schließlich noch um zwei Tage verlängert wurde. |
Gleichzeitig mit dem neuen Kommissionspräsidenten nominierten die Staats- und Regierungschefs auch den neuen Hohen Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik und wählten den neuen Präsidenten des Europäischen Rates. Zusammen mit dem Parlamentspräsidenten werden diese drei Ämter häufig als die „Topjobs“ der EU bezeichnet. Sie bilden üblicherweise ein Paket, in dem Vertreter der unterschiedlichen Mehrheitsparteien (EVP, SPE, Liberale, evtl. Grüne), Ländergruppen (westliche und östliche, nördliche und südliche, große und kleine Staaten) sowie Geschlechter vertreten sein sollen. In diesem Jahr wurde das Wahlpaket allerdings noch ausgeweitet um den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, der eigentlich erst im Herbst 2019 vom Europäischen Rat gewählt wird. Außerdem wurde mehreren Personen ein Posten als Vizepräsident der Europäischen Kommission zugesichert. |
Während der Verhandlungen im Europäischen Rat wurden zahlreiche Paketvorschläge wegen des Widerspruchs einzelner nationaler Regierungen aufgegeben. Insbesondere zeichnete sich ab, dass keiner der Spitzenkandidaten im Europäischen Rat auf den nötigen Konsens stieß. Letztlich einigten sich die Staats- und Regierungschefs stattdessen auf folgende Lösung:
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Allerdings hatten nicht alle diese Nominierungen denselben rechtlichen Status. Unmittelbar verbindlich war lediglich die Wahl von Charles Michel zum Ratspräsidenten. Von der Leyen und Borrell müssen jeweils noch vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Die Kommissionsvizepräsidenten müssen zusammen mit den übrigen Kommissionsmitgliedern vom Rat nominiert werden und benötigen dann eine Bestätigung des künftigen Kommissionspräsidenten (also von Von der Leyen, sofern diese gewählt wird) und vom Parlament. Die Zentralbankpräsidentin wird formal erst im Herbst vom Europäischen Rat gewählt. Der Parlamentspräsident schließlich wird allein vom Parlament gewählt, sodass die entsprechenden Vorschläge des Europäischen Rates keinerlei Bindungskraft besaßen. |
2./3. Juli 2019: Konstituierung des Parlaments |
Am 2. Juli traf sich das Europäische Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung, tags darauf wählte es den Parlamentspräsidenten für die erste Hälfte der Wahlperiode (also bis Anfang 2022). Dabei respektierten die Fraktionen von EVP und RE die im Europäischen Rat vereinbarte Paketlösung insofern, als sie keine eigenen Kandidaten nominierten. Die S&D-Fraktion nominierte allerdings nicht wie vom Europäischen Rat vorgeschlagen Sergei Stanishev, sondern den Italiener David Sassoli (PD/SPE), der schließlich im zweiten Wahlgang gewählt wurde. |
Seit seiner Konstituierung ist das neue Europäische Parlament nun außerdem formal entscheidungsfähig, sodass die nächsten Schritte bei der Wahl des Kommissionspräsidenten folgen konnten. |
16. Juli 2019: Wahl der Kommissionspräsidentin |
Nach dem Vorschlag durch den Europäischen Rat muss sich der vorgeschlagene Kommissionspräsident einer geheimen Wahl im Europäischen Parlament stellen. |
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Die Abstimmung über Ursula von der Leyen fand am 16. Juli nachmittags. Bis zur Wahl war dabei noch unklar, ob sie dabei die notwendige Mehrheit erreichen wird. Ausdrückliche Zustimmung für ihre Kandidatur kam allein aus der EVP-Fraktion; Grüne/EFA und die Linksfraktion GUE/NGL lehnten ihre Wahl ab. In den übrigen Fraktionen gab es keine eindeutige Positionierung. Insbesondere bei S&D und RE gingen die Ansichten über von der Leyen fraktionsintern teils stark auseinander; beide Fraktionen sprachen sich jedoch kurz vor der Wahl öffentlich für von der Leyen aus. |
Da vier Sitze des Parlaments zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht besetzt waren, waren insgesamt 747 Abgeordnete abstimmungsberechtigt; die benötigte absolute Mehrheit der Mitglieder lag also bei 374. Für von der Leyen stimmten 383 Abgeordnete, 327 gegen sie, 22 enthielten sich. Da die Wahl geheim erfolgte, ist nicht nachvollziehbar, wie die Fraktionen im Einzelnen abstimmten. |
Bis 26. August 2019: Nominierung der Kommissionsmitglieder |
Nach der Wahl des Kommissionspräsidenten werden die übrigen Mitglieder der Europäischen Kommission nominiert; nach der Nominierung der Kommissare weist der designierte Kommissionspräsident ihnen Aufgabenbereiche zu. Jedes Land ist mit einem Kommissar vertreten. Formal erfolgt die Nominierung kollektiv durch den Rat der EU und in Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten. Faktisch schlägt jede nationale Regierung ihren „eigenen“ Kommissar vor, wobei sich vor allem die Regierungen kleinerer Mitgliedstaaten jedoch häufig mit dem gewählten Präsidenten koordinieren, um die Aussichten ihres Kandidaten auf ein interessantes Ressort zu erhöhen. 2019 machten allerdings zahlreiche Regierungen ihre Vorschläge bereits öffentlich, bevor von der Leyen überhaupt gewählt wurde. |
Als Frist für die nationalen Vorschläge hatte Ratspräsident Tusk den 26. August gesetzt; allerdings ist diese Frist nicht rechtsverbindlich. Drei Mitgliedstaaten (Frankreich, Italien und Rumänien) hatten ihre Kandidaten bis zum Ablauf der Frist noch nicht benannt. |
September / Oktober 2019: Anhörungen im Parlament |
Wenn die Liste der Kommissionsmitglieder steht, stimmt das Europäische Parlament über ihre Wahl ab. Dabei kann das Parlament formal nur die gesamte Kommission annehmen oder ablehnen. Bei einer Ablehnung muss der Rat eine neue Liste vorschlagen. |
In der Praxis kann das Parlament jedoch auch einzelne Kandidaten ablehnen. Hierfür werden die vorgeschlagenen Kommissare von den Abgeordneten des Ausschusses, der für ihren Aufgabenbereich zuständig ist, in meist mehrstündigen Befragungen „gegrillt“. Ist ein Ausschuss mit einem Kandidaten unzufrieden, fordert das Parlament den Rat informell auf, die Liste der Kommissare abzuändern, ehe über die Kommission als Ganzes abgestimmt wird. Dies ist seit 2004 nach jeder Europawahl geschehen. In allen Fällen kam der Rat (bzw. die nationale Regierung des betreffenden Landes) der Aufforderung des Parlaments nach und nominierte einen alternativen Kandidaten. |
2019 verliefen die Anhörungen besonders konfliktiv: Erstmals wurden gleich drei Kandidatinnen und Kandidaten vom Parlament abgelehnt und mussten ausgetauscht werden. Eine Übersicht über den Verlauf des Verfahrens, die einzelnen Kommissionsmitglieder und die parteipolitische Zusammensetzung der Kommission ist hier zu finden. |
27. November 2019: Wahl der Kommission |
Nachdem alle Ausschüsse Einverständnis mit den von ihnen befragten Kandidaten signalisiert haben, stimmt das Plenum des Europäischen Parlaments über die neue Kommission ab. Dieses Zustimmungsvotum war urprünglich für den 23. Oktober angesetzt, wurde aufgrund der zusätzlichen Anhörungen jedoch auf den 27. November verschoben. Letztlich stimmten 461 Abgeordnete für und 157 gegen die neue Kommission, 89 enthielten sich. Die neue Kommission konnte damit ihr Amt zum 1. Dezember antreten. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre, bis zur Europawahl 2024. |
Dieser Artikel erschien parallel auch auf makronom.de.
Bilder: „Alle Richtungen“: Manuel Müller (alle Rechte vorbehalten).
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