31 Januar 2022

Abschaffung nationaler Vetorechte: nicht nur mehr Handlungsfähigkeit, sondern auch mehr Demokratie

Die europäische Demokratie hat Reformbedarf, und an Ideen dafür mangelt es nicht. In loser Folge nimmt diese Serie institutionelle Reformvorschläge in den Blick. Was sollen sie erreichen, wie könnten sie umgesetzt werden – und sind sie wirklich die Mühe wert? Teil 5: Mehr Mehrheitsentscheide im Rat. (Zum Anfang der Serie.)
Nationale Vetorechte machen die EU nicht demokratischer – im Gegenteil.

Zu den institutionellen Reformen, die im Rahmen der EU-Zukunftskonferenz am stärksten diskutiert werden, gehört die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat. Sowohl die europäischen Sozialdemokrat:innen als auch die europäischen Grünen sowie die deutsche CDU/CSU (EVP) bezeichneten die Abschaffung nationaler Vetorechte im Vorfeld der Konferenz als eine politische Priorität. Auch auf der digitalen Plattform wurde diese Forderung mehrfach erhoben (etwa hier, hier oder hier), ebenso wie im Abschlussbericht des Bürgerforums „Demokratie in Europa“ (Empfehlung Nr. 20). Das Europäische Parlament wiederum hat bereits 2017 im Brok/Bresso- und im Verhofstadt-Bericht zahlreiche Vorschläge gemacht, in welchen Bereichen Einstimimgkeitsregelungen abgeschafft werden sollten.

Lange Liste von Einstimmigkeitsbereichen

Diese Vorschläge folgen der langfristigen Entwicklungslogik der europäischen Integration. Seit den 1980er Jahren wurden in der EU Schritt für Schritt viele nationale Vetorechte abgeschafft und meist durch Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments ersetzt. Tatsächlich werden schon heute die meisten europäischen Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren stimmt der Rat mit qualifizierter Mehrheit ab: Nötig für einen Beschluss ist die Zustimmung von mindestens 55% der Regierungen, die mindestens 65% der Bevölkerung vertreten.

Daneben gibt es jedoch noch eine lange Liste von Politikfeldern, in denen Beschlüsse nur möglich sind, wenn alle nationalen Regierungen zustimmen (oder sich wenigstens enthalten). Teilweise ist sogar noch eine Ratifikation durch die nationalen Parlamente notwendig. Zu diesen Einstimmigkeitsbereichen gehören – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Ausdruck von Misstrauen zwischen den Mitgliedstaaten

Diese Einstimmigkeitsregeln unterscheiden die EU von föderalen Systemen wie Deutschland oder den USA, in denen einzelne Gliedstaaten nicht einmal bei Verfassungsänderungen ein Vetorecht besitzen. Man kann sie als Ausdruck eines Rest-Misstrauens zwischen den EU-Regierungen verstehen: Sosehr sich die Mitgliedstaaten in anderen Bereichen füreinander geöffnet haben, gibt es doch einige Fragen, in denen keiner sich von den anderen überstimmen lassen will. Vor allem wenn es ums liebe Geld und um die Außenpolitik geht, nehmen die Mitgliedstaaten lieber in Kauf, dass es überhaupt keine gemeinsame Lösung gibt, als dass sie dabei in der Minderheit enden könnten.

Eine etwas freundlichere Deutung hat 2009 das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil gegeben. Ihm zufolge dient das Einstimmigkeitsprinzip vor allem dem Erhalt der nationalen Demokratie: Da das nationale Parlament seine Bedeutung verlöre, wenn es in wesentlichen Fragen europäisch überstimmt werden könnte, müsse es in zentralen Bereichen ein Vetorecht behalten.

Zielkonflikt zwischen Handlungsfähigkeit und Demokratie?

Intergouvernementalist:innen argumentieren deshalb gern mit einem scheinbaren Zielkonflikt zwischen europäischer Handlungsfähigkeit und Demokratie. Nach diesem Verständnis erschweren nationale Vetorechte zwar einerseits, dass die EU schnelle Beschlüsse fasst, verbessern andererseits aber auch ihre Legitimität. Unter dem Strich erscheinen sie deshalb als ein akzeptabler Preis, gerade in den „Kernbereichen staatlicher Souveränität“.

Aber kann dieses Argument wirklich überzeugen? Tatsächlich spricht vieles dafür, dass das Vetorecht nicht nur die Handlungsfähigkeit der EU vermindert, sondern auch ihre demokratische Qualität – und dass man, sofern man Bereiche überhaupt europäisch regeln will, dies grundsätzlich per Mehrheitsverfahren tun sollte.

Vetomacht ist nicht Gestaltungsmacht

Denn zunächst einmal ist festzuhalten, dass ein parlamentarisches Vetorecht etwas anderes ist als parlamentarische Gestaltungsmacht. Bei der nationalen Gesetzgebung haben nationale Parlamente selbst das Heft in der Hand und können über Ziele und Mittel entscheiden. Auf europäischer Ebene sind es hingegen die nationalen Regierungen, die untereinander Kompromisse aushandeln.

Selbst wenn die nationalen Parlamente dann noch darüber abstimmen dürfen, bleibt ihnen nur die Entscheidung zwischen Ja und Nein, zwischen Abnicken und Blockieren. Europäisierung führt auf nationaler Ebene deshalb immer zu einer Machtverschiebung vom Parlament zur Exekutive und damit zu einer Schwächung der parlamentarischen Demokratie. Ein nationales Vetorecht kann daran nur wenig ändern.

Das Einstimmigkeitsprinzip begünstigt Feiglingsspiele

Will man europäische Entscheidungen demokratisch legitimieren, dann geht das sinnvollerweise nur auf überstaatlicher Ebene – über die gemeinsamen Institutionen der EU. Hier aber behindert das Einstimmigkeitsprinzip die Demokratie eher, denn im Konfliktfall kollidiert die demokratische Legitimität jedes Mitgliedstaats mit der demokratischen Legitimität der übrigen Mitgliedstaaten.

Nationale Vetorechte begünstigen deshalb Verhandlungen im Stil eines chicken game, bei dem sich diejenige Seite durchsetzt, die es sich eher leisten kann, dass am Ende überhaupt kein gemeinsames Ergebnis steht. Das aber ist eher eine Frage der Macht als der Demokratie – und im Extremfall ermöglicht es, dass ein einzelner Mitgliedstaat eine Entscheidung verhindert, die im ganzen Rest der EU auf große Zustimmung stößt.

Differenzierte Integration ist nicht immer ein Ausweg

Wollen die übrigen Staaten dann doch voranschreiten, bleibt ihnen oft nur der Weg der „differenzierten Integration“ – sei es in Form einer verstärkten Zusammenarbeit oder durch Übereinkünfte außerhalb der EU-Verträge (wie den ESM-Vertrag oder den Fiskalpakt von 2012). Doch solche Koalitionen der Willigen haben ihren Preis, denn sie steigern die Komplexität und senken die Kohärenz der europäischen Politik.

Und es gibt genügend Politikbereiche, in denen sie überhaupt nicht möglich sind: Insbesondere in institutionellen Fragen (wie der Reform des Europawahlrechts oder der Zusammensetzung der Kommission) können die Mitgliedstaaten schon aus logischen Gründen nur als Einheit agieren. Auch bei „Artikel-7-Maßnahmen“ gegen nationale Regierungen, die gegen Rechtsstaatsprinzipien verstoßen, lassen sich nationale Vetos nicht umgehen. Ähnliches gilt für außenpolitische Sanktionen wie das Einfrieren von Vermögenswerten oder Reiseverbote, die durch Binnenmarkt und Schengen inzwischen nur noch europaweit einheitlich beschlossen werden können. Und auch in der Haushaltspolitik ist eine Differenzierung nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten möglich.

Erhebliches Erpressungspotenzial

In all diesen Feldern kommt es deshalb immer wieder zu Situationen, in denen die Partikularinteressen einzelner nationaler Regierungen Vorrang gegenüber den Zielen aller anderen Mitgliedstaaten gewinnen. Und natürlich geht damit auch ein erhebliches Erpressungspotenzial für andere Entscheidungen einher.

So deutete etwa die griechische Regierung unter Alexis Tsipras (Syiza/EL) kurz nach ihrem Amtsantritt 2015 an, sie könnte EU-Sanktionen gegen Russland blockieren – was auch ohne einen expliziten Zusammenhang leicht als Warnsignal an die anderen EU-Staaten zu verstehen war, in der Eurokrise mehr Rücksicht auf Griechenland zu nehmen. Und als die ungarische und polnische Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) und Mateusz Morawiecki (PiS/EKR) 2020 ein Veto gegen das Corona-Wiederaufbauprogramm einlegten, wollten sie damit ganz offen Zugeständnisse beim Rechtsstaatsmechanismus erzwingen.

In Einstimmigkeitsbereichen tritt die EU auf der Stelle

Womöglich noch wichtiger als solche Machtspiele und Blockaden aber ist der chilling effect, den das Einstimmigkeitsprinzip für die betroffenen Politikfelder hat. In vielen Bereichen, in denen nationale Vetorechte gelten, tritt die EU auf der Stelle – aus Angst, dass die Verhandlungen darüber politisches Kapital aufzehren und am Ende doch scheitern würden.

So gab es schon seit über einem Jahrzehnt keine große Änderung der EU-Verträge mehr, obwohl nicht nur im Europäischen Parlament, sondern auch unter den nationalen Regierungen viele Akteure sich einig sind, dass Reformen dringend nötig wären. Die EU-Zukunftskonferenz und der neue Anlauf zu einer europäischen Wahlrechtsreform sind hier zwar positive Zeichen. Aber beide waren von Anfang an auch von Unkenrufen begleitet, und so zehrt die Debatte darüber, ob man überhaupt den Versuch einer Reform unternehmen sollte, schon viel von der Energie auf, die eigentlich in die Reformdebatte selbst fließen sollte.

Den Sozialstaat hat das Veto eher geschwächt als geschützt

Und auch bei der steuer- und sozialpolitischen Integration ist die EU immer wieder an einzelnen Mitgliedstaaten gescheitert, die ihr Vetorecht zur Verteidigung nationaler Partikularinteressen nutzen. Während die EU bei der Schaffung des Binnenmarkts (für den schon seit 1987 Mehrheitsverfahren gelten) große Fortschritte gemacht hat, ist sie sozialpolitisch immer schwach geblieben. Gleichzeitig haben durch den Binnenmarkt und die Währungsunion aber auch die Mitgliedstaaten viel von ihrem nationalen Handlungsspielraum eingebüßt.

Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine politische Asymmetrie, die gerade in der Eurokrise zu großen Akzeptanzproblemen der EU, aber auch vieler nationalen Regierungen geführt hat. Das Einstimmigkeitsprinzip entfaltet hier einen paradoxen Effekt: Der Sozialstaat, der als „Kernbereich der Souveränität“ durch das nationale Vetorecht geschützt werden sollte, wird in Wirklichkeit geschwächt, da es weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene zu Fortschritten kommt.

Demokratische Legitimität muss überstaatlich erzeugt werden

Insgesamt wird damit deutlich, dass das nationale Veto zwar auf formaler Ebene die nationale Souveränität schützt. Aber wie das Rodrik-Trilemma zeigt: Wenn Staaten so eng verflochten sind wie die Mitgliedsländer der EU, geht nationale Souveränität nicht mehr Hand in Hand mit Demokratie, sondern steht in Gegensatz zu ihr.

Will man die demokratische Qualität der EU verbessern, dann sind Vetorechte der nationalen Regierungen und Parlamente das falsche Instrument. Viel sinnvoller ist es, demokratische Legitimität für die EU gleich auf überstaatlicher Ebene zu erzeugen – vor allem mithilfe eines starken, gemeinsam gewählten Europäischen Parlaments.

Einstimmigkeit marginalisiert auch das Europäische Parlament

Gerade das Parlament ist aber der Akteur, der durch das Einstimmigkeitsprinzip am stärksten marginalisiert wird. Im ordentlichen EU-Gesetzgebungsverfahren besitzt es neben dem Rat als einzige Institution Vetomacht; die Verhandlungen zwischen ihnen finden deshalb ungefähr auf Augenhöhe statt. Im Einstimmigkeitsverfahren ist das Parlament hingegen bestenfalls einer von 28 Vetoplayern – und in der Regel nicht der wichtigste Flaschenhals. In Bereichen, in denen jede Regierung einen Beschluss blockieren kann, spielen die Wünsche der Abgeordneten deshalb nur eine sehr untergeordnete Rolle. Stattdessen kreisen die Verhandlungen vor allem um die Frage, welche Zugeständnisse an die widerwilligsten Mitgliedstaaten notwendig sind.

Die Auswirkungen dieser Dynamik lassen sich zum Beispiel alle sieben Jahre an der Debatte über den mehrjährigen Finanzrahmen ablesen, in der es statt um politische Prioritäten regelmäßig vor allem um nationale Nettobeiträge geht. Und auch in der Öffentlichkeit erhöhen Vetodrohungen den Nachrichtenwert – sodass der Fokus in der europapolitischen Berichterstattung oft weniger auf den Zielen der Mehrheit als auf den Vorbehalten der Bremser liegt.

Vetorechte laden zu Machtspielen ein – nicht zu Demokratie

Dass der Abbau nationaler Vetorechte nun zu einem Schlüsselthema der europäischen Reformdebatte wird, ist also auch aus demokratischer Sicht nur zu begrüßen. Es gibt Politikbereiche, die nur die einzelstaatliche Ebene betreffen und nicht durch die EU geregelt werden müssen. Hier sollten die Mitgliedstaaten in ihren Entscheidungen frei sein.

Wo es aber EU-weiter Regelungen bedarf, sollten diese grundsätzlich durch Mehrheitsentscheide getroffen werden. Politische Fragen auf europäischer Ebene beantworten zu wollen, dabei aber allen Mitgliedstaaten ein Vetorecht zu geben, ist hingegen eine Einladung zu Machtspielen, bei denen eine politisch starke Minderheit der Mehrheit ihren Kurs aufzwingt – und damit das genaue Gegenteil von dem, was Demokratie erreichen soll.



Bild: EU2017EE Estonian Presidency [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons.

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