- Warum darf ein zuagʼroaster Saupreiß eigentlich in Bayern wählen und ein anständiger Österreicher nicht?
Der
Sinn der Demokratie ist, auf den einfachsten Nenner gebracht, die
kollektive Selbstbestimmung. Zum einen sollen Menschen möglichst
frei über alle Bereiche ihres Lebens entscheiden, zum anderen müssen
wir aber für unser Zusammenleben gemeinsame Regeln finden. In einem
parlamentarischen System erfolgt dies dadurch, dass wir nach
bestimmten Verfahren eine Volksvertretung wählen, die diese
gemeinsamen Regeln bestimmt. Das Ziel ist dabei, dass möglichst
genau diejenigen Menschen, die von einer solchen kollektiven
Entscheidung betroffen sind, auch daran teilhaben können: Weder
sollen Menschen Gesetzen unterworfen sein, auf die sie selbst keinen
Einfluss haben, noch sollen sie durch ihr Wahlrecht auf Gesetze
einwirken, die sie selbst gar nicht betreffen.
In
der Praxis ist dieses Ideal natürlich nicht perfekt umsetzbar,
insbesondere weil Menschen in unterschiedlichem Ausmaß von einer
Entscheidung betroffen sein können, sodass sich keine klaren Grenzen
ziehen lassen, wer daran beteiligt sein sollte und wer nicht. Dennoch
haben wir im Lauf der Zeit einige Grundsätze erfunden, die uns dem
Ziel annähern sollen. Insbesondere gehen wir davon aus, dass
Menschen, die näher beieinander wohnen, auch mehr gemeinsame
Angelegenheiten zu regeln haben. In einem föderalen System haben wir
deshalb Volksvertretungen auf mehreren Ebenen, die jeweils genau die
Entscheidungen fällen sollen, die alle Bürger ihres Territoriums
(kommunal, regional, national, kontinental) betreffen. Die Bürger
wiederum haben zu jeder dieser Volksvertretungen ein eigenes
Wahlrecht – und zwar logischerweise jeweils an ihrem Wohnort, da
sie schließlich auch dort den Gesetzen unterworfen sind. Wer in
Weimar lebt, darf also den Weimarer Stadtrat, den thüringischen
Landtag, den Deutschen Bundestag und das Europäische Parlament
wählen, nicht aber, sagen wir, den Stadtrat von Hannover oder die
italienische Abgeordnetenkammer. Oder?
Ein Italiener in
Weimar
Leider
nicht ganz. Tatsächlich gibt jemand, der aus Hannover stammt und
nach Weimar zieht, sein hannoversches und sein niedersächsisches
Wahlrecht her und wird stattdessen wie alle anderen Weimarer auch
behandelt (jedenfalls nach einer Übergangsfrist von einigen Monaten,
die in erster Linie verhindern soll, dass Wähler vor einer knappen
Landtagswahl schnell noch ihren Wohnort wechseln – wie realistisch
auch immer das ist). Anderes hingegen gilt für jemanden, der in
Italien geboren ist und nur die italienische Staatsbürgerschaft
besitzt. Auf kommunaler Ebene wählt er zwar ebenfalls den Weimarer
Stadtrat mit, bei den thüringischen Landtagswahlen hat er hingegen kein
Stimmrecht. Auf nationaler Ebene kann er sich an der Wahl zum
italienischen Parlament beteiligen (wo es einen eigenen Wahlkreis für die
italiani allʼestero, die Auslandsitaliener, gibt). Und bei der Europawahl kann er sich
entscheiden, ob er lieber am Wohnort oder im Herkunftsland wählen
will – also ob die Europäische Volkspartei auf seinem Wahlzettel
als CDU oder als PdL erscheinen soll.
Das
alles ist so offensichtlich unlogisch, dass man es nur durch die
historische Entwicklung erklären kann. Tatsächlich konkurrieren bei
der Frage, wer wo das Wahlrecht besitzen soll, zwei verschiedene
Ansatzpunkte: Einerseits das oben beschriebene Wohnortprinzip, nach
dem Menschen jeweils die Parlamente wählen sollen, in deren
Territorium sie leben und von deren Entscheidungen sie deshalb am
meisten betroffen sind – andererseits das Nationalitätsprinzip,
demzufolge die Staatsbürgerschaft über das Wahlrecht entscheidet.
Während innerhalb der Nationalstaaten praktisch überall das
Wohnortprinzip verwirklicht wurde, ist zwischen ihnen
weitgehend das Nationalitätsprinzip in Kraft.
Wohnort- und
Nationalitätsprinzip
Erklärbar
ist dies nur aus dem völkischen Denken des 19. Jahrhunderts
heraus: aus der Überhöhung der souveränen Nation, deren Angehörige
eine organische Einheit seien, egal, wo und in welchen Umständen sie
lebten. Zuständig für einen Italiener in Weimar ist deshalb der
italienische Staat, der sich mit diplomatischen Mitteln um die
Interessen seiner Bürger im Ausland kümmern soll. Der deutsche
Bundestag hingegen ist nach dieser Vorstellung nicht das demokratisch
gewählte Parlament von Deutschland, sondern der Deutschen
– auch wenn die von ihm erlassenen Gesetze für alle Menschen in
Deutschland verpflichtend sind.
Natürlich
nimmt diese Vorstellung eines einheitlichen nationalen Volkskörpers
inzwischen außer auf der extremen Rechten niemand mehr ernst.
Insbesondere die EU verdeutlichte mit dem 1992 durch den Vertrag von
Maastricht eingeführten Konzept der „Unionsbürgerschaft“, dass
Bürgerrechte nicht an nationale Staatsangehörigkeiten gebunden sein
müssen. Seitdem kann jeder Bürger eines EU-Mitgliedstaats, der in
einem anderen EU-Mitgliedstaat lebt, an seinem Wohnort an
Kommunalwahlen teilnehmen – wie eben unser Italiener an der Wahl
zum Weimarer Stadtrat.
Eine Reihe von Vorteilen
Für
regionale und nationale Wahlen jedoch gibt es bislang keine derartige
Regel. Anders als etwa Uruguay oder Neuseeland, die schon seit mehreren Jahrzehnten ein
umfassendes Wohnort-Wahlrecht auf nationaler Ebene eingeführt haben,
sind die Verfassungen der meisten europäischen Staaten bis heute auf
das Nationalitätsprinzip fixiert. Lediglich Portugal und
Großbritannien gestehen den dauerhaft ansässigen Staatsangehörigen
einiger ihrer ehemaligen Kolonien die Teilnahme an nationalen Wahlen
zu; britische Staatsbürger haben zudem ein Wahlrecht bei den
irischen Parlamentswahlen. In Deutschland hingegen werden im
kommenden Herbst über 2,5 Millionen dauerhaft ansässige Unionsbürger (sowie rund 4,5
Millionen Bürger anderer Staaten) von der Bundestagswahl
ausgeschlossen bleiben. Mehr noch: Da zahlreiche Länder, etwa
Großbritannien oder Griechenland, ihren dauerhaft im Ausland
lebenden Staatsangehörigen das Wahlrecht entziehen, können etliche
europäische Bürger überhaupt kein nationales oder regionales Parlament wählen.
Ein
allgemeines Wahlrecht am Wohnort würde nicht nur diese logischen Brüche
des heutigen Systems überwinden, sondern auch eine Reihe anderer Vorteile mit sich bringen. Insbesondere würde es
dazu beitragen, den politischen Diskurs zu verändern. Während heute
noch geschlossene ethnisch-nationale Identitäten das politische
Selbstverständnis vieler Menschen dominieren, würde die Koppelung
des Wahlrechts an den Wohnort die Rolle des einzelnen Bürgers
herausstellen, der mit seiner politischen Aktivität das
gesellschaftliche Zusammenleben auf allen Ebenen gleichermaßen
mitgestaltet – eben jene Konzeption von Demokratie als kollektiver
Selbstbestimmung, die ich eingangs skizziert habe. Zudem würde ein allgemeines Wahlrecht am Wohnort ein neues Wählerpotenzial schaffen und damit auch ganz konkret das
Wahlkalkül der Politiker beeinflussen: Beispielsweise würden die nationalen Parteien ihre Zugehörigkeit zu europaweiten Parteienbündnissen in der
öffentlichen Debatte sicher deutlich stärker hervorheben, wenn sie ein Interesse daran hätten, auch die neu hinzugezogenen Bürger aus anderen Mitgliedstaaten anzusprechen.
Die
Einwände, die gegen ein Wahlrecht am Wohnort sprechen, sind hingegen
recht überschaubar und eher praktischer Natur. So sollte es Regeln
geben, um zu verhindern, dass ein Bürger gleich in mehreren Staaten sein Wahlrecht ausübt, nämlich sowohl in seinem Herkunftsland als auch im Land seines Wohnsitzes. Lösbar wäre dies, indem entweder alle
EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich ihren in anderen EU-Ländern
lebenden Staatsangehörigen das Wahlrecht entziehen (so wie auch der
Hannoveraner beim Umzug nach Thüringen sein niedersächsisches Wahlrecht
verliert) oder indem man es jeweils der Entscheidung des Bürgers
überlässt, in welchem der beiden Länder er sich in das
Wählerregister eintragen lässt (was etwa der heutigen Praxis bei
der Europawahl entspräche). Und natürlich wären Übergangsfristen
von ein oder zwei Jahren nach dem Wohnsitzwechsel denkbar, um
tatsächlich nur solchen Menschen das Wahlrecht zu geben, die
dauerhaft an einem anderen Ort leben. Letztlich sind dies jedoch nur
technische Fragen, die sich einfach werden lösen lassen, wenn erst
einmal der politische Wille zu einem allgemeinen Wohnort-Wahlrecht
vorhanden ist.
Let me vote
Die
interessantere Frage ist deshalb, wie es gelingen kann, diesen
politischen Willen zu mobilisieren. Den Versuch dazu macht eine
Europäische Bürgerinitiative mit dem Namen Let me vote, die seit einigen
Wochen um Unterstützungsunterschriften wirbt. Der offiziellen Homepage zufolge ist es Ziel der Initiative, die
Rechte des Unionsbürgers [zu] ergänzen durch ein Recht zur Teilnahme an jeder politischen Wahl in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, zu denselben Bedingungen wie die Angehörigen dieses Mitgliedstaats.
Der
Weg dorthin ist freilich lang und steinig. Da die EU keine direkten
Kompetenzen in Fragen der nationalen Staatsangehörigkeit und des
nationalen Wahlrechts besitzt, wählten die Initiatoren der
Bürgerinitiative Artikel 25 AEU-Vertrag als Ansatzpunkt. Dieser sieht vor, dass die
Europäische Kommission alle drei Jahre einen Bericht zu
Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft verfasst, in dem sie
auch Vorschläge zur Weiterentwicklung dieser Themenbereiche machen
kann. Auf Grundlage dieses Berichts kann der Ministerrat dann mit
Unterstützung des Europäischen Parlaments einstimmige Beschlüsse
fassen, die „nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit
ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ (d.h. in der
Regel eine Ratifikation durch die nationalen Parlamente) in Kraft
treten.
Auf
die politische Agenda bringen
Das
Verfahren ist mithin kaum weniger kompliziert als eine Änderung der
europäischen Verträge selbst – mehr noch: Da die Grundzüge des
Wahlrechts in vielen Mitgliedstaaten Verfassungsrang besitzen, wären
dort jeweils verfassungsändernde Mehrheiten notwendig. Einen
Eindruck über die rechtlichen
Schwierigkeiten in Deutschland bietet zum Beispiel ein entsprechender Ausschussbericht der Bremer Bürgerschaft. Immerhin aber zeigt der Bremer Fall auch, dass diese Schwierigkeiten letztlich überwindbar sind: Ende Januar war die Bürgerschaft der erste deutsche Landtag, der eine Ausweitung des Regionalwahlrechts auf alle Unionsbürger beschloss.
Wenn beim Wahlrecht künftig nicht mehr die Nationalität, sondern
der Wohnort im Mittelpunkt steht, kann das sowohl für die Idee der
überstaatlichen europäischen Bürgerschaft als auch für die
demokratische Qualität der nationalen und regionalen Parlamentswahlen nur von
Vorteil sein – und die Europäische Bürgerinitiative ist die beste
Möglichkeit, dieses Thema europaweit auf die politische Agenda zu
bringen. Auch die Europa-Union Deutschland hat die Forderung deshalb mit
erfreulich klaren Worten unterstützt. Bis zum 28. Januar 2014 hat Let
me vote nun Zeit, um die nötige Million Unterschriften zu sammeln. Wer
also Lust hat, ein Zeichen zu setzen: Hier kann man online seine Unterstützung erklären.
Bilder: By photographe inconnu décédé depuis plus de 70 ans [Public domain], via Wikimedia Commons.