02 April 2013

Finanzpolitische Abschreckung: Ordoliberale Prinzipien, der Vertrag von Maastricht und die Eurokrise

Theo Waigel (CSU/EVP) ging davon aus, dass die europäische Währungsunion stabiler sein würde, wenn ihre Mitglieder untereinander nicht allzu solidarisch sind.
Es ist eines der auffälligsten Merkmale der Eurokrise, dass sie unnötig lange dauert und unnötig viel Leid verursacht. Von den ersten Griechenland-Krediten 2010 bis zum Zypern-Desaster vor zwei Wochen wurden wieder und wieder Hilfspakete geschnürt, die zu spät kamen und zu klein waren, um die Probleme wirklich zu lösen. Zugleich wurden den Krisenstaaten Sparmaßnahmen auferlegt, die zu jahrelanger Rezession, Arbeitslosigkeit und Verarmung großer Bevölkerungsschichten führen, ohne irgendwie zur Haushaltssanierung beizutragen, da sie das Bruttoinlandsprodukt schneller schrumpfen lassen als die Staatsverschuldung. Viel von diesem Elend war vorauszusehen – und wäre vollkommen vermeidbar, wenn die wirtschaftsstärkeren Länder, allen voran Deutschland, sich zu einer einmaligen Solidarleistung in Form eines großen europäischen Konjunkturpakets durchringen würden, dessen Kosten sehr viel geringer wären als diejenigen, die der Eurozone durch das Laufenlassen der Krise entstehen. Aber der „Marshallplan für Südeuropa“, von dem schon vor Jahren erstmals die Rede war, wurde nie verwirklicht. Warum?

Es gibt dafür verschiedene Erklärungsansätze. Manche Kommentatoren etwa verweisen darauf, dass speziell Deutschland bislang wirtschaftlich und finanziell von der Krise profitiert hat und deshalb womöglich aus Eigennutz nicht an einer schnellen Lösung interessiert ist. Andere sehen eine Art calvinistische Gesinnungsethik am Werk, die die wirtschaftlichen Schulden mit einer moralischen Schuld der „faulen Südländer“ gleichsetzt und ihre Verelendung deshalb als gerechte Strafe sieht. Beide Erklärungen dürften auf einzelne Akteure durchaus zutreffen, doch dem größeren Teil der deutschen Politiker wird man dadurch nicht ganz gerecht. Was sie antreibt, scheint mir eher ein ordoliberaler Geist zu sein: die Vorstellung, dass ein freier und unverzerrter Markt letztlich zu der besten Ressourcenverteilung führt und deshalb der Bankrott eines Pleitiers einer staatlichen Rettungsaktion grundsätzlich vorzuziehen ist. Und zusätzlich legitimiert fühlen sie sich dadurch, dass genau dieser Geist auch der Ausgestaltung der Währungsunion im Vertrag von Maastricht 1991 zugrunde lag.

Ordoliberalismus und Staatspleiten

Die ordoliberalen Prinzipien, nach denen der Staat zwar den Rahmen des wirtschaftlichen Handelns setzen, aber nicht steuernd in einzelne wirtschaftliche Vorgänge eingreifen soll, waren seit den 1950er Jahren das dominierende Paradigma in der (west-)deutschen Wirtschaftspolitik. Bis zu einem gewissen Grad haben sie auch durchaus ihren ökonomischen Sinn, jedenfalls solange es um den Umgang mit gewöhnlichen Privatunternehmen geht. Der Staat selbst hingegen wird im klassischen ordoliberalen Denken nicht als normaler Marktteilnehmer verstanden, und auch die Möglichkeit eines Staatsbankrotts spielte für die Theorie keine wichtige Rolle. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Staatspleiten in einem System nationaler Währungen und (weitgehend) flexibler Wechselkurse ohnehin reichlich unwahrscheinlich waren: Selbst Länder wie Italien, das bis Anfang der neunziger Jahre enorme Budgetdefizite anhäufte, konnten schließlich jederzeit abwerten und durch eine höhere Inflation ihre Haushalte wieder unter Kontrolle bringen.

Dies änderte sich in Europa, als im Vertrag von Maastricht die Einführung des Euro beschlossen wurde. Mit der nationalen Geldpolitik entfiel ein wichtiger Puffer im Wirtschaftssystem, der in irgendeiner Weise ersetzt werden musste. Eine naheliegende „föderale“ Lösung hätte darin bestanden, auf europäischer Ebene dieselben interregionalen Stabilisatoren zu schaffen, die es auch innerhalb der Nationalstaaten gibt: vor allem eine einheitliche Wirtschaftspolitik mit einem gemeinsamen Steuersystem und einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung. Zu einem solchen Schritt allerdings konnten sich die Mitgliedstaaten in Maastricht nicht aufraffen. Stattdessen setzte sich insbesondere der deutsche Finanzminister Theo Waigel (CSU/EVP) erfolgreich dafür ein, die Prinzipien des Ordoliberalismus auch auf den Umgang der EU-Mitgliedstaaten untereinander zu übertragen – und dadurch, so die Idee, den Markt selbst für eine nachhaltige Wirtschafts- und Finanzpolitik sorgen zu lassen.

Das System von Maastricht

Der Grundgedanke der Maastrichter Konstruktion bestand darin, die Mitgliedstaaten der EU selbst als gewöhnliche Finanzmarktteilnehmer zu verstehen, die sich für ihre Tätigkeiten Geld leihen müssen und deshalb um die Gunst der Anleger konkurrieren. Die Anleger würden umso bereitwilliger sein, einem Staat Geld zu leihen, je sicherer sie sich wären, dieses Geld auch wieder zurückzuerhalten. Diese Sicherheit wiederum wäre umso größer, je eher ein Staat die „richtige“, auf nachhaltiges Wachstum und stabile Finanzen ausgerichtete Politik betrieb. Am Ende würden also Staaten umso niedrigere Zinsen auf ihre Staatsanleihen bezahlen müssen, je besser sie wirtschafteten womit für alle EU-Mitglieder ein Anreiz zu einer möglichst „guten“ Wirtschaftspolitik gegeben wäre.

Voraussetzung für diesen Disziplinierungsmechanismus war allerdings, dass der Wettbewerb der Staaten um das Geld der Anleger nicht verfälscht werden durfte. Es musste daher sichergestellt werden, dass kein Land auf andere Wege als durch sein nationales Steuersystem und reguläre Staatsanleihen an Finanzmittel gelangen würde. Im Vertrag von Maastricht wurde dies durch zwei zentrale Regelungen sichergestellt: das Verbot von Zentralbankkrediten (heute Art. 123 AEUV) und die Nichtbeistandsklausel, durch die jeder Mitgliedstaat finanziell auf sich allein gestellt sein sollte (Art. 125 AEUV). Dies schloss eine implizite Drohung ein: Wenn die privaten Anleger einem Staat so sehr misstrauen würden, dass sie ihm kein Geld mehr leihen wollten, würde dieser seine Steuern erhöhen und seine Ausgaben kürzen müssen – oder pleitegehen, mit all den negativen Folgen, die dies für seine Bürger haben würde.

Allerdings gingen die Verfasser des Vertrags von Maastricht nicht davon aus, dass es dazu jemals kommen würde. Die Nichtbeistandsklausel folgte vielmehr einer Logik der Abschreckung: So wie während des Ost-West-Konflikts die Supermächte den Frieden durch die Drohung mit wechselseitiger atomarer Vernichtung zu wahren suchten, so sollte auch in der Währungsunion die Furcht vor einem katastrophalen Staatsbankrott dafür sorgen, dass die nationalen Regierungen von vornherein eine solide Politik betrieben und die Anleger ein mögliches Abweichen davon sofort mit höheren Zinsen sanktionierten.

Die Schwächen der Abschreckungslogik

Doch diese Hoffnung wurde durch die Eurokrise widerlegt, als die hypothetische Möglichkeit eines Staatsbankrotts auf einmal zu einer unmittelbaren Gefahr wurde. Während die Supermächte im Kalten Krieg das Glück hatten, dass es niemals wirklich zu einem Angriff des Gegners kam, sah sich das finanzpolitische Abschreckungsregime von Maastricht plötzlich mit einem Ernstfall konfrontiert, der eine Reaktion erforderlich machte. Zugleich aber deckte die Krise auch eine Reihe von grundsätzlichen Schwachstellen in der Konstruktion auf, die bei der Ausarbeitung des Vertrags noch niemand hatte wahrnehmen wollen:

● Erstens lag der Vorstellung, dass die Anleger ein Abweichen vom wirtschaftspolitischen Pfad der Tugend sofort mit höheren Zinsen bestrafen würden, die implizite Annahme zugrunde, dass die Finanzmärkte frühzeitig erkennen würden, ob bestimmte politische Maßnahmen „richtig“ oder „falsch“ sind. In Wirklichkeit ist das Marktgeschehen jedoch immer von einem hohen Grad an Ungewissheit geprägt, sodass Wirtschaftskrisen oft als unerwartete Schocks auftreten und sich erst im Nachhinein eindeutig sagen lässt, mit welchen Maßnahmen man sie hätte verhindern können.

● Zweitens kommt hinzu, dass Länder in einer verflochtenen Welt nicht einmal die volle Kontrolle über ihr Wirtschaftssystem haben: Ein Staat kann auch von einem externen Schock getroffen werden, zu dem er selbst überhaupt nichts beigetragen hat. Unabhängig davon, ob man als Ursache der konkreten Eurokrise solche äußeren Einwirkungen oder eher hausgemachte Probleme sieht – außer Zweifel steht, dass kein Staat allen denkbaren Externalitäten vorbeugen kann, sodass auch eine „gute“ nationale Wirtschaftspolitik allein noch keine Gewähr gegen plötzliche Krisen bietet.

● Und drittens hätte eine Staatspleite innerhalb der Währungsunion natürlich auch selbst externe Effekte: Der Konkurs eines Landes kann andere mit in den Abgrund ziehen, deren Wirtschaftslage bis dahin noch stabil war. Tatsächlich ist die Frage, was zu tun ist, wenn ein Unternehmen too big to fail wird, bereits in der gewöhnlichen Privatwirtschaft ein Problem. Die klassisch ordoliberale Antwort lautet, dass man durch einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen vorbeugend verhindern muss, dass ein Unternehmen überhaupt diese Größe erreicht. Auf Staaten lässt sich dies jedoch kaum übertragen. Ein Euro-Land tatsächlich pleitegehen zu lassen, käme deshalb alle anderen Mitglieder der Währungsunion in der Regel weitaus teurer zu stehen, als es zu retten.

Die ordoliberale und die föderalistische Antwort auf die Krise

Wie also sollte man auf die Eurokrise reagieren? Für einen ordoliberalen Falken ist die Sache klar: Egal, welches Leid der Bankrott der südeuropäischen Staaten mit sich bringt – sie zu retten würde die Glaubwürdigkeit des ganzen Systems gefährden. Wenn man im Ernstfall nicht bereit ist, die darin enthaltenen Drohungen wahr zu machen, ist der ganze Disziplinierungsmechanismus des Vertrags von Maastricht nichts wert. Letztlich geht es dabei also auch darum, künftigen Krisen vorzubeugen: Denn setzt man erst einmal den Präzedenzfall, dass Staaten in der Not von ihren Nachbarn Hilfe erhalten, wird es in Zukunft für niemanden mehr einen Anreiz zu einer „guten“, soliden, vorausschauenden Wirtschaftspolitik geben.

Aus föderalistischer Perspektive hingegen sehen die Dinge anders aus: Denn wenn man die genannten Schwächen erst nimmt, dann wird deutlich, dass das System von Maastricht ohnehin nicht für dauerhafte Stabilität in der Eurozone sorgen kann. Die logische Konsequenz ist dann, jetzt die 1991 versäumten institutionellen Reformen nachzuholen und doch noch die Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik in der Währungsunion zu europäisieren. An die Stelle der Nichtbeistandsklausel träte eine direkte Kontrolle der zentralen wirtschaftspolitischen Entscheidungen durch die EU. Und da das künftige System ohnehin völlig anders funktionieren würde als das bisherige, müssten sich die Euroländer auch keine Gedanken über eine mögliche Präzedenzwirkung des heutigen Krisenmanagements machen, sondern könnten einfach in einem einmaligen solidarischen Akt den bisher entstandenen Schaden aufräumen.

Unentschlossenheit des Europäischen Rates

Die europäischen Staats- und Regierungschefs aber haben sich bis heute nicht so recht zwischen diesen beiden möglichen Antworten entschieden, und dies scheint mir der Grund dafür zu sein, dass die Eurokrise so lange andauert und so viel unnötiges Leid hervorbringt. Getrieben von den Gefahren des Augenblicks begannen sie zwar etwas halbherzig die Währungsunion im föderalistischen Sinne umzubauen, indem sie mit dem Rettungsfonds ESM das Nichtbeistandsprinzip teilweise aushebelten und mit Maßnahmen wie dem Europäischen Semester die Kontrolle der Kommission über die nationalen Haushalte verbesserten. Dem Schritt zu einer vollständigen Europäisierung der Wirtschaftspolitik aber verweigern sie sich bis heute ebenso wie einer Ausweitung des EU-Budgets, das als automatischer Stabilisator fungieren könnte. Und zugleich versuchen die nordeuropäischen Staaten um Deutschland vor allem auf Druck ihrer nationalen Öffentlichkeiten auch weiterhin das ordoliberale Prinzip aufrechtzuerhalten, dass die „schlechte“ Wirtschaftspolitik vor der Krise nicht ungestraft bleiben darf was die unnötige Härte der Sparmaßnahmen erklärt, zu denen die Staaten verpflichtet werden, die den ESM in Anspruch nehmen.

Krisenstaaten gleichzeitig zu unterstützen und leiden zu lassen: Es ist kaum verwunderlich, dass diese eigenwillige Verbindung von Solidarität und Disziplinierung bei einem Großteil der europäischen Bürger auf Unverständnis stößt. Sie ist eine Folge davon, dass sich die Erben von Maastricht bis heute nicht zu der Erkenntnis haben aufraffen können, dass man die Stabilität einer Währungsunion nicht dauerhaft durch finanzpolitische Abschreckung sichern kann.

Bilder: Bundesarchiv, B 145 Bild-F082410-0030 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.

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