- Theo Waigel (CSU/EVP) ging davon aus, dass die europäische Währungsunion stabiler sein würde, wenn ihre Mitglieder untereinander nicht allzu solidarisch sind.
Es ist eines der
auffälligsten Merkmale der Eurokrise, dass sie unnötig lange
dauert und unnötig viel Leid verursacht. Von den ersten
Griechenland-Krediten 2010 bis zum Zypern-Desaster vor zwei Wochen
wurden wieder und wieder Hilfspakete geschnürt, die zu spät kamen
und zu klein waren, um die Probleme wirklich zu lösen. Zugleich
wurden den Krisenstaaten Sparmaßnahmen auferlegt, die zu jahrelanger
Rezession, Arbeitslosigkeit und Verarmung großer
Bevölkerungsschichten führen, ohne irgendwie zur Haushaltssanierung
beizutragen, da sie das Bruttoinlandsprodukt schneller schrumpfen
lassen als die Staatsverschuldung. Viel von diesem Elend war
vorauszusehen – und wäre vollkommen vermeidbar, wenn die
wirtschaftsstärkeren Länder, allen voran Deutschland, sich zu einer
einmaligen Solidarleistung in Form eines großen europäischen
Konjunkturpakets durchringen würden, dessen Kosten sehr viel
geringer wären als diejenigen, die der Eurozone durch das
Laufenlassen der Krise entstehen. Aber der „Marshallplan für
Südeuropa“, von dem schon vor Jahren erstmals die Rede war, wurde
nie verwirklicht. Warum?
Es gibt dafür
verschiedene Erklärungsansätze. Manche Kommentatoren etwa verweisen
darauf, dass speziell Deutschland bislang wirtschaftlich und finanziell von der Krise profitiert hat und deshalb womöglich
aus Eigennutz nicht an einer schnellen Lösung interessiert ist.
Andere sehen eine Art calvinistische Gesinnungsethik am Werk, die die wirtschaftlichen Schulden mit einer moralischen Schuld der „faulen Südländer“ gleichsetzt und ihre Verelendung deshalb als
gerechte Strafe sieht. Beide Erklärungen dürften auf einzelne
Akteure durchaus zutreffen, doch dem größeren Teil der deutschen
Politiker wird man dadurch nicht ganz gerecht. Was sie antreibt,
scheint mir eher ein ordoliberaler Geist zu sein: die Vorstellung,
dass ein freier und unverzerrter Markt letztlich zu der besten
Ressourcenverteilung führt und deshalb der Bankrott eines Pleitiers
einer staatlichen Rettungsaktion grundsätzlich vorzuziehen ist. Und
zusätzlich legitimiert fühlen sie sich dadurch, dass genau dieser
Geist auch der Ausgestaltung der Währungsunion im Vertrag von
Maastricht 1991 zugrunde lag.
Ordoliberalismus und
Staatspleiten
Die ordoliberalen
Prinzipien, nach denen der Staat zwar den Rahmen des wirtschaftlichen
Handelns setzen, aber nicht steuernd in einzelne wirtschaftliche
Vorgänge eingreifen soll, waren seit den 1950er Jahren das
dominierende Paradigma in der (west-)deutschen Wirtschaftspolitik.
Bis zu einem gewissen Grad haben sie auch durchaus ihren ökonomischen
Sinn, jedenfalls solange es um den Umgang mit gewöhnlichen
Privatunternehmen geht. Der Staat selbst hingegen wird im klassischen
ordoliberalen Denken nicht als normaler Marktteilnehmer verstanden,
und auch die Möglichkeit eines Staatsbankrotts spielte für die
Theorie keine wichtige Rolle. Dies lag nicht zuletzt daran, dass
Staatspleiten in einem System nationaler Währungen und (weitgehend)
flexibler Wechselkurse ohnehin reichlich unwahrscheinlich waren:
Selbst Länder wie Italien, das bis Anfang der neunziger Jahre enorme
Budgetdefizite anhäufte, konnten schließlich jederzeit abwerten und
durch eine höhere Inflation ihre Haushalte wieder unter Kontrolle
bringen.
Dies änderte sich in
Europa, als im Vertrag von Maastricht die Einführung des Euro
beschlossen wurde. Mit der nationalen Geldpolitik entfiel ein
wichtiger Puffer im Wirtschaftssystem, der in irgendeiner Weise ersetzt
werden musste. Eine naheliegende „föderale“ Lösung hätte darin
bestanden, auf europäischer Ebene dieselben interregionalen Stabilisatoren zu schaffen, die es auch innerhalb der Nationalstaaten gibt: vor allem eine einheitliche Wirtschaftspolitik mit einem
gemeinsamen Steuersystem und einer gemeinsamen
Arbeitslosenversicherung. Zu einem solchen Schritt allerdings konnten
sich die Mitgliedstaaten in Maastricht nicht aufraffen. Stattdessen
setzte sich insbesondere der deutsche Finanzminister Theo Waigel
(CSU/EVP) erfolgreich dafür ein, die Prinzipien des Ordoliberalismus
auch auf den Umgang der EU-Mitgliedstaaten untereinander zu
übertragen – und dadurch, so die Idee, den Markt selbst für eine
nachhaltige Wirtschafts- und Finanzpolitik sorgen zu lassen.
Das System von
Maastricht
Der
Grundgedanke der Maastrichter Konstruktion bestand darin, die
Mitgliedstaaten der EU selbst als gewöhnliche Finanzmarktteilnehmer
zu verstehen, die sich für ihre Tätigkeiten Geld leihen müssen und
deshalb um die Gunst der Anleger konkurrieren. Die Anleger würden umso bereitwilliger sein, einem Staat Geld zu leihen, je
sicherer sie sich wären, dieses Geld auch wieder zurückzuerhalten.
Diese Sicherheit wiederum
wäre umso größer, je eher ein Staat die
„richtige“, auf nachhaltiges Wachstum und stabile Finanzen
ausgerichtete Politik betrieb. Am Ende würden also Staaten umso niedrigere Zinsen auf ihre Staatsanleihen bezahlen müssen, je besser sie wirtschafteten – womit für
alle EU-Mitglieder ein Anreiz zu einer möglichst „guten“
Wirtschaftspolitik gegeben wäre.
Voraussetzung
für diesen Disziplinierungsmechanismus war allerdings, dass der
Wettbewerb der Staaten um das Geld der Anleger nicht verfälscht
werden durfte. Es musste daher sichergestellt werden, dass kein Land
auf andere Wege als durch sein nationales Steuersystem und reguläre
Staatsanleihen an Finanzmittel gelangen würde. Im Vertrag von
Maastricht wurde dies durch zwei zentrale Regelungen sichergestellt:
das Verbot von Zentralbankkrediten (heute Art. 123 AEUV) und die Nichtbeistandsklausel, durch die jeder
Mitgliedstaat finanziell auf sich allein gestellt sein sollte (Art. 125 AEUV). Dies schloss eine implizite Drohung ein: Wenn die
privaten Anleger einem Staat so sehr misstrauen würden, dass sie ihm
kein Geld mehr leihen wollten, würde dieser seine Steuern erhöhen
und seine Ausgaben kürzen müssen – oder pleitegehen, mit all den
negativen Folgen, die dies für seine Bürger haben würde.
Allerdings
gingen die Verfasser des Vertrags von Maastricht nicht davon
aus, dass es dazu jemals kommen würde. Die
Nichtbeistandsklausel folgte vielmehr einer Logik der Abschreckung:
So wie während des Ost-West-Konflikts die Supermächte den Frieden
durch die Drohung mit wechselseitiger atomarer Vernichtung zu wahren
suchten, so sollte auch in der Währungsunion die Furcht vor einem
katastrophalen Staatsbankrott dafür sorgen, dass die nationalen
Regierungen von vornherein eine solide Politik betrieben und die
Anleger ein mögliches Abweichen davon sofort mit höheren Zinsen
sanktionierten.
Die Schwächen der
Abschreckungslogik
Doch
diese Hoffnung wurde durch die Eurokrise widerlegt, als die hypothetische Möglichkeit eines Staatsbankrotts auf einmal zu einer unmittelbaren Gefahr wurde. Während die Supermächte im Kalten Krieg das Glück hatten, dass es niemals wirklich zu einem Angriff des Gegners kam, sah sich das finanzpolitische
Abschreckungsregime von Maastricht plötzlich mit einem Ernstfall konfrontiert, der eine Reaktion erforderlich machte. Zugleich aber
deckte die Krise auch eine Reihe von grundsätzlichen Schwachstellen in der
Konstruktion auf, die bei der Ausarbeitung des Vertrags noch niemand
hatte wahrnehmen wollen:
●
Erstens lag der Vorstellung, dass die Anleger ein Abweichen vom
wirtschaftspolitischen Pfad der Tugend sofort mit höheren Zinsen
bestrafen würden, die implizite Annahme zugrunde, dass die
Finanzmärkte frühzeitig erkennen würden, ob bestimmte politische
Maßnahmen „richtig“ oder „falsch“ sind. In Wirklichkeit ist
das Marktgeschehen jedoch immer von einem hohen Grad an Ungewissheit
geprägt, sodass Wirtschaftskrisen oft als unerwartete Schocks
auftreten und sich erst im Nachhinein eindeutig sagen lässt, mit
welchen Maßnahmen man sie hätte verhindern können.
● Zweitens kommt hinzu, dass Länder in einer verflochtenen Welt nicht einmal die volle Kontrolle über ihr Wirtschaftssystem haben: Ein Staat kann auch von einem externen Schock getroffen werden, zu dem er selbst überhaupt nichts beigetragen hat. Unabhängig davon, ob man als Ursache der konkreten Eurokrise solche äußeren Einwirkungen oder eher hausgemachte Probleme sieht – außer Zweifel steht, dass kein Staat allen denkbaren Externalitäten vorbeugen kann, sodass auch eine „gute“ nationale Wirtschaftspolitik allein noch keine Gewähr gegen plötzliche Krisen bietet.
● Zweitens kommt hinzu, dass Länder in einer verflochtenen Welt nicht einmal die volle Kontrolle über ihr Wirtschaftssystem haben: Ein Staat kann auch von einem externen Schock getroffen werden, zu dem er selbst überhaupt nichts beigetragen hat. Unabhängig davon, ob man als Ursache der konkreten Eurokrise solche äußeren Einwirkungen oder eher hausgemachte Probleme sieht – außer Zweifel steht, dass kein Staat allen denkbaren Externalitäten vorbeugen kann, sodass auch eine „gute“ nationale Wirtschaftspolitik allein noch keine Gewähr gegen plötzliche Krisen bietet.
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Und drittens hätte eine Staatspleite innerhalb der Währungsunion
natürlich auch selbst externe Effekte: Der Konkurs eines Landes kann
andere mit in den Abgrund ziehen, deren Wirtschaftslage bis dahin
noch stabil war. Tatsächlich ist die Frage, was zu tun ist, wenn ein
Unternehmen too big to fail wird, bereits in der gewöhnlichen
Privatwirtschaft ein Problem. Die klassisch ordoliberale Antwort
lautet, dass man durch einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen
vorbeugend verhindern muss, dass ein Unternehmen überhaupt diese
Größe erreicht. Auf Staaten lässt sich dies jedoch kaum
übertragen. Ein Euro-Land tatsächlich pleitegehen zu lassen, käme
deshalb alle anderen Mitglieder der Währungsunion in der Regel
weitaus teurer zu stehen, als es zu retten.
Die ordoliberale und
die föderalistische Antwort auf die Krise
Wie
also sollte man auf die Eurokrise reagieren? Für einen ordoliberalen
Falken ist die Sache klar: Egal, welches Leid der Bankrott der
südeuropäischen Staaten mit sich bringt – sie zu retten würde
die Glaubwürdigkeit des ganzen Systems gefährden. Wenn man im
Ernstfall nicht bereit ist, die darin enthaltenen Drohungen wahr zu
machen, ist der ganze Disziplinierungsmechanismus des Vertrags von
Maastricht nichts wert. Letztlich geht es dabei also auch darum,
künftigen Krisen vorzubeugen: Denn setzt man erst einmal den
Präzedenzfall, dass Staaten in der Not von ihren Nachbarn Hilfe
erhalten, wird es in Zukunft für niemanden mehr einen Anreiz zu
einer „guten“, soliden, vorausschauenden Wirtschaftspolitik
geben.
Aus
föderalistischer Perspektive hingegen sehen die Dinge anders aus:
Denn wenn man die genannten Schwächen erst nimmt, dann wird deutlich, dass das System von Maastricht ohnehin
nicht für dauerhafte
Stabilität in der Eurozone sorgen kann. Die logische Konsequenz ist
dann, jetzt die 1991 versäumten institutionellen Reformen nachzuholen und doch noch die Wirtschafts-, Steuer- und
Sozialpolitik in der Währungsunion zu europäisieren. An die Stelle der
Nichtbeistandsklausel träte eine direkte Kontrolle der zentralen
wirtschaftspolitischen Entscheidungen durch die EU. Und da das
künftige System ohnehin völlig anders funktionieren würde als das
bisherige, müssten sich die Euroländer auch keine Gedanken über
eine mögliche Präzedenzwirkung des heutigen Krisenmanagements
machen, sondern könnten einfach in einem einmaligen solidarischen Akt den bisher entstandenen
Schaden aufräumen.
Unentschlossenheit
des Europäischen Rates
Die
europäischen Staats- und Regierungschefs aber haben sich bis heute nicht
so recht zwischen diesen beiden möglichen Antworten entschieden, und dies scheint mir der Grund dafür zu sein, dass die Eurokrise
so lange andauert und so viel unnötiges Leid hervorbringt. Getrieben von den Gefahren des Augenblicks begannen sie zwar etwas halbherzig
die Währungsunion im föderalistischen Sinne umzubauen, indem sie mit dem
Rettungsfonds ESM das Nichtbeistandsprinzip teilweise aushebelten und
mit Maßnahmen wie dem Europäischen Semester die Kontrolle der
Kommission über die nationalen Haushalte verbesserten. Dem Schritt
zu einer vollständigen Europäisierung der Wirtschaftspolitik aber
verweigern sie sich bis heute ebenso wie einer Ausweitung des EU-Budgets, das
als automatischer Stabilisator fungieren könnte. Und zugleich versuchen die nordeuropäischen
Staaten um Deutschland vor allem auf Druck ihrer nationalen Öffentlichkeiten auch weiterhin das ordoliberale Prinzip
aufrechtzuerhalten, dass die „schlechte“ Wirtschaftspolitik vor
der Krise nicht ungestraft bleiben darf – was die unnötige Härte der Sparmaßnahmen erklärt, zu denen die
Staaten verpflichtet werden, die den ESM in Anspruch nehmen.
Krisenstaaten
gleichzeitig zu unterstützen und leiden zu lassen: Es ist kaum
verwunderlich, dass diese eigenwillige Verbindung von Solidarität
und Disziplinierung bei einem Großteil der europäischen Bürger auf
Unverständnis stößt. Sie ist eine Folge davon, dass
sich die Erben von Maastricht bis heute nicht zu der Erkenntnis haben
aufraffen können, dass man die Stabilität einer Währungsunion
nicht dauerhaft durch finanzpolitische Abschreckung sichern kann.
Bilder: Bundesarchiv, B 145 Bild-F082410-0030 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons.
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