27 Juli 2022

Ukraine, Belarus, Marokko: Wie sich der Doppelmoral in der EU-Migrationspolitik entgegenwirken lässt

In der Policy-Brief-Serie #BerlinPerspectives veröffentlicht das Institut für Europäische Politik (IEP) Analysen der deutschen Europapolitik für ein englischsprachiges Publikum. Die Autor:innen beschreiben die deutschen Positionen zu aktuellen Fragen und Debatten und geben auf dieser Grundlage Empfehlungen.

Der Beitrag von Vittoria Meißner erscheint auf diesem Blog in einer etwas erweiterten und aktualisierten deutschen Fassung. Das englischsprachige Original ist auf der IEP-Homepage zu finden.

Hand eines Menschen mit Ärmelansatz. Auf dem Handrücken ist nahe dem Daumen ein Aufkleber mit der Aufschrift „Human“ befestigt.
„Auch Deutschland kann mehr tun, um Migrant:innen zu schützen und damit die Werte des europäischen Projekts zu bewahren.“

Asyl als internationale Verpflichtung ist einer der Grundwerte, zu denen sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet haben. Auch wenn sich die Kontexte unterscheiden, erfordern die Migrationsströme aus der Ukraine seit März 2022 sowie aus Afrika und dem Nahen Osten über Belarus seit August 2021 die gleiche wertebasierte Antwort der EU. Eine dysfunktionale EU-Migrations- und Asylpolitik sowie doppelte Standards der Mitgliedstaaten haben jedoch zu ganz unterschiedlichen Antworten geführt: Beispielloser Solidarität im ukrainischen Fall steht eine unmenschliche Reaktion im Fall von Belarus gegenüber.

Um Menschen auf der Flucht aus der Ukraine zu unterstützen, haben die Mitgliedstaaten und Institutionen der EU unerwartet schnell und unbürokratisch gehandelt. Einstimmig beschlossen sie am 3. März 2022, erstmals die Richtlinie 2001/55/EG des Rates über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen zu aktivieren.

Unterstützung für ukrainische Geflüchtete

Bereits seit 2017 konnten Ukrainer:innen für bis zu 90 Tage visumfrei in Länder des Schengen-Raums reisen. Die Anwendung der Richtlinie garantiert einen vorübergehenden Schutz für bis zu drei Jahre ohne individuelle Prüfung für Ukrainer:innen oder Drittstaatsangehörige, die eine gültige Aufenthaltserlaubnis in der Ukraine haben. Diese Solidarität der EU ist richtig und notwendig.

Dass die EU die Richtlinie nicht aktiviert hat, als 2015-2016 Menschen aus Syrien vor dem Krieg in ihrem Land flohen, zeigt allerdings, dass die EU-Asyl- und Migrationspolitik von mehreren Faktoren abhängig ist. Der Fall der Ukraine macht vier davon deutlich: einen zeitlichen (eine extrem schnelle Fluchtwelle von einer Million Menschen nach nur einer Woche Krieg), einen geographischen (Nähe zur EU), einen rechtlichen (Status der Visaerleichterung) und einen kulturell-religiösen Faktor (ähnliche kulturelle Identität und ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl zur westlichen Welt).

Vorhölle an der belarussischen Grenze

Seit März 2022 sind Millionen von Migrant:innen aus der Ukraine in die EU gekommen. Sie wurden mit offenen Armen empfangen, auch von Ländern wie Polen, die lange eine starke Anti-Migrationspolitik betrieben hatten. Gleichzeitig zeigt sich weiter nördlich eine ganz andere Realität: In einem drei Kilometer langen Gebiet in Polen an der Grenze zu Belarus sitzen Tausende von Migrant:innen fest – ohne Nahrung, Unterkunft oder die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Seit August 2021 versuchen sie, in die EU einzureisen.

Dies ist das Ergebnis eines, wie die EU es nennt, „hybriden Angriffs“, den der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko im Sommer 2021 auf Kosten von Migrant:innen aus Afrika und dem Nahen Osten startete (Hauptherkunftsland war der Irak, gefolgt von Afghanistan, Syrien und der Republik Kongo). Lukaschenko ermutigte Menschen aus diesen beiden Regionen aktiv dazu, nach Belarus zu kommen und versprach ihnen eine einfache Einreise in die EU über die Grenze zu Polen. Diese Instrumentalisierung gefährdeter Menschen war eine Vergeltung für die EU-Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime aufgrund massiver Menschenrechtsverletzungen im Land.

Polen betrachtete diese Situation jedoch nicht als humanitäre Notlage wie die ukrainische, sondern als „Invasion“. Dementsprechend schloss die polnische Regierung die Grenze zu Belarus, setzte militärische Truppen ein – die wiederum Wasserwerfer und Tränengas gegen unbewaffnete Menschen einsetzten – und ignorierte rechtmäßige Asylanträge. Tausende von Frauen, Kindern und Männern saßen in dieser Vorhölle fest, da sie weder nach Minsk zurückkehren noch in das EU-Gebiet einreisen durften. Mehr als zwanzig von ihnen sind seit August 2021 ums Leben gekommen.

Polen verstößt gegen das EU-Asylrecht

Viele Politiker:innen haben sich dafür ausgesprochen, dass die EU Lukaschenkos Erpressung nicht nachgeben sollte. Doch die Antwort Polens ist nicht zu rechtfertigen. Die Behörden haben sich geweigert, Asylanträge zu bearbeiten und humanitären Organisationen sowie EU-Beobachter:innen den Zutritt zum Grenzgebiet zu gestatten. Dies verstößt gegen EU- und Völkerrecht – insbesondere gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und das geltende EU-Asylrecht.

Statt die EU um Unterstützung zu bitten, wie es Lettland und Litauen in der gleichen Notsituation taten, verweigerte Polen jegliche Hilfe der beiden Agenturen, die für die Unterstützung der Mitgliedstaaten in Grenz- und Asylfragen zuständig sind, nämlich die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) und das ehemalige Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, das seit Januar 2022 durch die Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) ersetzt wurde. Während das Land mehr als zwei Millionen Menschen aus der Ukraine aufnimmt, verstößt Polens nationalistische Regierungspartei PiS (EKR), die seit langem Anti-EU- und Anti-Migrant:innen-Stimmungen schürt, gegen EU-Werte, wenn es um andere Geflüchtete geht.

Das Migrations- und Asylpaket der EU-Kommission

Der EU fehlt es noch immer an einer gemeinsamen Position zum Thema Migration. Die Reformvorschläge des Migrations- und Asylpakets, das die Europäische Kommission 2020 vorlegte, verfehlen ihr Ziel, die Solidarität gegenüber allen Migrant:innen und die Verantwortung der Mitgliedstaaten zu stärken. Die Vorschläge halten am umstrittenen Dublin-System fest – wonach das Land der Ersteinreise für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig ist – und vermeiden verbindliche Umverteilungsquoten. Die Mitgliedstaaten können wählen, ob sie Asylbewerber:innen aufnehmen (Umverteilung) oder ob sie sich verpflichten, irreguläre Migrant:innen aus dem EU-Ersteinreiseland in ihr Herkunftsland zurückzuschicken.

Dieser Silo-Ansatz, in dem jeder Mitgliedstaat selbst über die Form seiner „Solidarität“ entscheidet, soll Flexibilität erlauben. Er kann aber auch zu einer Abwärtsspirale von mehr Spaltung und ungleicher Verantwortungsverteilung führen, wenn sich die Mehrheit der Mitgliedstaaten dafür entscheidet, Rückführungen durchzuführen, statt Asylsuchende aufzunehmen. Der ukrainische Fall bleibt eine Ausnahme. Und auch hier könnte sich die Aufnahmepolitik der Mitgliedstaaten schnell ändern, wenn sie nicht mehr nur mit Kriegsgeflüchteten, sondern auch mit einer zunehmenden Zahl von Wirtschaftsmigrant:innen infolge des Krieges in der Ukraine konfrontiert sind.

Gute Absichten, aber noch viel zu tun

Vor dem Hintergrund der polnischen Doppelmoral und der seit langem bestehenden Dysfunktionalität der EU-Migrations- und Asylpolitik müssen einflussreiche Mitgliedstaaten eine starke Haltung einnehmen. Auch Deutschland kann mehr tun, um Migrant:innen zu schützen und damit die Werte des europäischen Projekts zu bewahren.

Im Januar 2022, auf dem Höhepunkt der tragischen humanitären Situation an der Grenze zwischen der EU und Belarus, unterstützte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser die Initiative Frankreichs und der Europäischen Kommission, ein gemeinsames, funktionierendes EU-Asylsystem zu schaffen. Dieser Ansatz sieht vor, dass eine Koalition von Mitgliedstaaten bereit ist, über Ad-hoc-Vereinbarungen hinaus in Notfallsituationen Geflüchtete aufzunehmen. Hinsichtlich der Grenzkrise zu Belarus kündigte Faeser an, sie wolle eine „Koalition aufnahmebereiter Staaten“ bilden, die Asylbewerber:innen aufnimmt und die Defizite der EU-Asyl- und Migrationspolitik behebt.

Eine solche Koalition würde den Schutz von Migrant:innen und Menschenrechten garantieren. Doch obwohl Faeser zufolge die ersten Gespräche mit Frankreich und Italien zu diesem Thema vielversprechend ausfielen, zeichnen sich noch langwierige und herausfordernde Verhandlungen dazu ab.

Dysfunktionalität und Doppelmoral

Die Gegenüberstellung des ukrainischen und des belarussischen Falles hat einmal mehr die Dysfunktionalität der Migrations- und Asylpolitik der EU offenbart. Während bei der Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine Konsens herrscht, ist es unwahrscheinlich, dass es bei der Bearbeitung von Asylanträgen und der Umverteilung von Geflüchteten aus Afrika oder dem Nahen Osten eine EU-weite Einigung geben wird.

Auch die neuesten Ereignisse in der spanischen Nordafrika-Exklave Melilla, an der Grenze zwischen Spanien und Marokko, untermauern diese Vermutung. Als ca. 2000 Migrant:innen am 24. Juni 2022 versuchten, über den Grenzzaun von Marokko in die EU zu gelangen, griffen sowohl spanische als auch marokkanische Sicherheitskräfte ein. Dabei starben 37 Menschen. Menschenrechtler:innen werfen den marokkanischen Behörden den Tod dieser Menschen vor. Spaniens sozialistischer Ministerpräsident Pedro Sánchez hingegen befürwortete die Arbeit der Sicherheitskräfte, da sie einen „gewaltsamen Angriff auf die territoriale Integrität Spaniens“ verhindert hätten.

Diese Worte stellen allerdings selbst einen Angriff dar, und zwar auf die Werte der EU. Erneut wurde eine unverhältnismäßige Kriegsterminologie für eine Migrationstragödie an den Außengrenzen der EU angewendet. Obwohl die spanische Justiz einige Tage später ein Ermittlungsverfahren zur Todesursache von mindestens 23 Migrant:innen in Melilla eröffnete, erschüttert die Doppelmoral mehrerer politischer Figuren, wenn es um Migration und Asyl in der EU geht.

Was Deutschland tun kann

Deutschland kann auf vielfältige Weise dazu beitragen, dieser Doppelmoral entgegenzuwirken und die Abwärtsspirale der EU-Migrations- und Asylpolitik zu durchbrechen, die durch die ungleiche Verteilung von Verantwortung entstanden ist und zu Verstößen gegen die Werte der EU geführt hat.

● Erstens ist Faesers Vorschlag für eine Koalition aufnahmebereiter Mitgliedstaaten der richtige Weg, um kurzfristig humanitäre Lösungen und somit auch den Schutz der EU-Werte zu gewährleisten. Das deutsche Innenministerium sollte seine Gespräche mit anderen Mitgliedstaaten vorantreiben, um eine solche Vereinbarung zu erreichen. Es sollte dies insbesondere mit Frankreich und Italien tun, die beide stark von der Migration betroffen sind, sowie mit Schweden, das auf die Krise der Migrationssteuerung 2015-2016 umgehend mit der Aufnahme tausender Migrant:innen reagierte. Diese Vereinbarung würde rechtlich außerhalb der EU-Verträge geschlossen werden und müsste einen offenen Charakter haben. Jeder Mitgliedstaat könnte einer solchen Koalition zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft beitreten.

Deutschland zeigt sich solidarisch mit den ukrainischen Geflüchteten und hat bereits mehr als 300.000 von ihnen aufgenommen. Außerdem hat es 2015 und 2016 zahlreiche Asylbewerber:innen aufgenommen und ihnen ihr Recht gewährt. Deutschland sollte daher in der EU weiterhin mit gutem Beispiel vorangehen, um einen wertebasierten Gesamtansatz für alle Migrant:innen und Asylbewerber:innen zu erreichen.

Unterstützungsfonds für aufnahmebereite Gemeinden

● Am 7. April 2022 beschloss die Bundesregierung, den Bundesländern zwei Milliarden Euro für die Unterstützung und Integration von Geflüchteten bereitzustellen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen. Sie könnte zusätzlich einen allgemeinen Unterstützungsmechanismus für lokale Einwanderungsbehörden in Städten und Gemeinden entwickeln, die bereit sind, Migrant:innen aufzunehmen.

● Um migrationsfeindlichen Stimmungen unter europaskeptischen politischen Akteur:innen und Bürger:innen entgegenzuwirken, sollte die ungenaue und unverhältnismäßige „Kriegs“-Terminologie, die in Deutschland und anderen EU-Ländern während des Grenzkonflikts zwischen der EU und Belarus und anlässlich der Ereignisse in Melilla verwendet wurde, fallen gelassen werden. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat gezeigt, was „Krieg“ tatsächlich bedeutet. Hier werden Begriffe wie Angriff, Invasion und Krieg zu Recht verwendet. Hingegen sollten schutzbedürftige, unbewaffnete Menschen, die versuchen, die EU-Grenze zu passieren, nicht als ein Fall von „hybrider Kriegsführung“ oder „Angriff“ bezeichnet werden.

Auf Rechtsverstöße reagieren

● Schließlich sollten Bundestagsabgeordnete sowie deutsche Mitglieder des Europäischen Parlaments eine unabhängige und effektive Beobachtung der Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen sicherstellen und eine klare diplomatische Haltung gegenüber der Regierung in Warschau einnehmen, wenn Verstöße gegen die Werte der EU und das humanitäre Recht festgestellt werden.

● Deutschland könnte zudem seinen Einfluss innerhalb der EU-Institutionen nutzen, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten sofort die Unterstützung von Frontex und EUAA sowie von humanitären Organisationen annehmen, wenn sie mit einer Notsituation an den EU-Außengrenzen konfrontiert werden. Und im Falle von Verstößen gegen internationales und EU-Recht müssen die EU-Institutionen schnell und flexibel reagieren, um dem betroffenen Mitgliedstaat für rechtswidrige Grenzschutzmaßnahmen Haushaltsmittel – zum Beispiel aus dem Asyl- und Migrationsfonds oder der Fonds für integriertes Grenzmanagement – zu entziehen oder zu verweigern.

Bild: Human: Jake Nackos [free license], via Unsplash; Porträt Vittoria Meißner: alle Rechte vorbehalten.

25 Juli 2022

EU to go: Fit for 55 – einig in die Klimaneutralität?

In der Podcastserie „EU to go – Der Podcast für Europapolitik“ präsentiert das Jacques Delors Centre kompakte Hintergründe zur aktuellen Europapolitik. Einmal im Monat analysiert Moderatorin Thu Nguyen zusammen mit Gästen ein aktuelles Thema. In 20 bis 30 Minuten erklären die Policy Fellows und Forscher:innen des Jacques Delors Centres Zusammenhänge und stellen Lösungsansätze vor.

„EU to go – Der Podcast für Europapolitik“ wird hier im Rahmen einer Kooperation mit dem Jacques Delors Centre zweitveröffentlicht. Er ist auch auf der Homepage des Jacques Delors Centres selbst sowie auf allen bekannten Podcast-Kanälen zu finden.

Die Folgen des Klimawandels sind in diesen Wochen unübersehbar: In weiten Teilen Europas herrschen fast 40 Grad, Wälder brennen und das Wasser wird knapp. Bereits im letzten Jahr hat die EU-Kommission das Klimapaket Fit for 55 vorgestellt, mit dem die EU die Emissionen bis 2030 um 55% senken will, um 2050 klimaneutral zu werden. Wo stehen wir nun, ein Jahr später, mit dem Paket? Welche Maßnahmen umfasst es, und werden diese reichen, um die Klimakrise zu begrenzen? Wie funktioniert der Klima-Sozialfonds, mit dem die grüne Energiewende sozial gerecht ausgestaltet werden soll?

Thu Nguyen spricht mit Philipp Jäger, Experte für europäische Klima- und Wirtschaftspolitik, über Fit for 55 und den europäischen Weg zur Klimaneutralität.

18 Juli 2022

Europa handlungsfähig machen – warum wir genau jetzt einen Konvent brauchen

Von Clara Föller und Lars Becker.
Wanduhr mit kaputten Zeigern
„Es ist immer die falsche Zeit für Vertragsreformen, und es sitzt immer ein falscher Akteur mit am Tisch. Aber Abwarten wird die Situation nicht verbessern, im Gegenteil.“

Nach Jahren, in denen aus Deutschland eher keine großen europapolitischen Vorstöße kamen und sich die Bundesregierung auf das Reagieren beschränkte, gab sich die Ampelkoalition 2021 in ihrem Koalitionsvertrag einen ambitionierten Fahrplan. Ausdrücklich hielt er die Fortschreibung der Konferenz zur Zukunft Europas „in einen verfassungsgebenden Konvent“ und die „Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat” als politisches Leitziel fest.

Nicht einmal ein Dreivierteljahr später ist von der anfänglichen Aufbruchstimmung nicht mehr viel geblieben. Die mit großen Erwartungen gestartete Konferenz zur Zukunft Europas, auf die auch im Koalitionsvertrag verwiesen wird, verlief von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, obwohl hier einige bemerkenswerte Forderungen zur Reform der EU beschlossen wurden. Auch eine flammende Rede zur europäischen Zeitenwende blieb bisher aus. Stattdessen rückt die aktuelle Bundesregierung zunehmend von ihren eigenen Zielen ab und verliert sich im vermeintlichen „Das ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt“ – einer Argumentation, die die europäische Integration auch in den letzten zwanzig Jahren bereits lahmgelegt hat.

Aber wann, wenn nicht jetzt, wäre denn der richtige Zeitpunkt? Ist es nicht vielmehr so, dass sich das Fenster, in dem die EU sich noch von innen reformieren lässt, mit jedem Tag, an dem ihre Glaubwürdigkeit weiter untergraben wird, weiter schließt?

Abschaffung von Einstimmigkeitserfordernissen

Die Frage der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union war auch in der Konferenz von zentraler Bedeutung und trieb die Bürger:innen in den Bürgerforen und auf der Plattform um. Wenig überraschend war deshalb eine der sichtbarsten Forderungen der Konferenz die Abschaffung der Einstimmigkeitserfordernisse im Rat der Europäischen Union in nahezu allen Politikfeldern. Dies entspricht den Forderungen der NoVeto-Kampagne, die während der Konferenz von der Europa-Union Deutschland, den Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland, Pulse of Europe und der Alliance4Europe initiiert wurde und der sich mittlerweile auch zahlreiche weitere Organisationen, wie zum Beispiel Ferdinand von Schirachs Jeder-Mensch-Initiative oder Democracy International, angeschlossen haben.

Es handelt sich hierbei um ein grundlegendes Problem, das vor dem Hintergrund des brutalen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine deutlich sichtbar wird: Während die EU anfänglich relativ geschlossen reagierte, zeigte sich im weiteren Verlauf des Krieges, dass Geschlossenheit zunehmend schwieriger herzustellen ist, weil Partikularinteressen einzelner Mitgliedstaaten Entscheidungen blockieren. Dieses Problem ist nicht neu, aber der Krieg zeigt in besonders gravierender Weise, zu was für einem Problem das Blockadeprivileg einzelner Staaten werden kann, wenn diese ihre Stimme als Faustpfand nehmen, um eigene Interessen durchzusetzen.

Das Veto als Erpressungsinstrument

Das Blockadeprivileg spielt dabei eine zentrale Rolle und birgt ein erhebliches Erpressungspotential. Um nur ein paar Beispiele aus den letzten Jahren mit Bezug auf die Außenpolitik und die EU-Grundwerte zu nennen:

Einberufung eines Europäischen Konvents

In seiner Rede auf der Abschlussveranstaltung der Zukunftskonferenz am vergangenen Europatag sprach sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron klar für die Einberufung eines Konvents aus. Am 13. Mai erklärten die Regierungen von Deutschland, Belgien, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Spanien in einem Non-Paper, dass sie für Vertragsänderungen grundsätzlich offen seien. Am 9. Juni forderte das Europäische Parlament die Eröffnung eines ordentlichen Verfahrens zur Änderung der Verträge. Als zentrale Forderung steht die Einführung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit.

Die initialen Reaktionen einer breiten Mehrheit der Mitgliedstaaten waren erwartungsgemäß verhalten. Schon 2020 war der Streit um potentielle Vertragsänderungen neben der Pandemie ein Grund für den verspäteten Start der Zukunftskonferenz gewesen. Auch in der Endphase der Konferenz wurden die festgefahrenen Positionen deutlich. Noch bevor der Konferenzbericht vorgelegt wurde, zirkulierte bereits ein Non-Paper von 13 Mitgliedstaaten, die sich klar gegen Vertragsreformen aussprachen.

Zurückrudern der Konventsbefürworter:innen

Bemerkenswert war aber, wie schnell die Gruppe der grundsätzlich reformbereiten Staaten in den letzten Wochen zurückruderte. Bereits bei ersten Beratungen im Rat für Allgemeine Angelegenheiten sprach sich kein Mitgliedstaat für die Einberufung eines Konvents aus. Auch das grün-geführte Auswärtige Amt in Deutschland machte schnell einen Rückzieher. Außenministerin Annalena Baerbock verkündete gar öffentlich, dass ein Konvent „ein veraltetes Rezept“ sei – ohne darauf hinzuweisen, dass dieses „Rezept“ den aktuellen Regeln der EU zur Änderung der Verträge entspricht. Auch dazu, dass der Konvent im Koalitionsvertrag als ein erklärtes Ziel der Bundesregierung auftaucht, kein Wort.

Nach einer entsprechenden Stellungnahme der NoVeto-Akteure schwächte Baerbock auf Twitter ihre Position ab und bekannte sich nun wieder zu der „große[n] Idee eines Konvents“. Leider blieb die Frage unbeantwortet, wie diese realisiert werden soll, wenn sich kein verantwortlicher politischer Akteur aktiv dafür einsetzt und stattdessen eher abwertende Rhetorik als Mittel der Kommunikation verwendet wird.

Krisen als Chance?

In vielen, wenn nicht den meisten Lehrbüchern zur europäischen Integration ist zu lesen, dass oftmals erst Krisen die Chance für weitere große Integrationssprünge geschaffen haben. Doch der Mut und das Geschick, Gelegenheiten beim Schopf zu packen, scheint viele europäische Akteur:innen verlassen zu haben. Stattdessen ist in den letzten Jahren – im Grunde seit den gescheiterten Referenden zur EU-Verfassung 2005 – immer wieder das Mantra zu hören, es sei gerade die falsche Zeit. Bedauerlicherweise sind darunter auch nicht wenige, die in Sonntagsreden gern das Bild eines föderalen Europas malen, ohne in ihrem praktischen politischen Handeln darauf hinzuwirken.

Nach der Eurokrise, der Asylkrise, der Brexit-Krise, der Rechtsstaatskrise, der Corona-Krise und dem Angriff auf die Ukraine lässt sich das Zwischenfazit ziehen: Es wird immer die falsche Zeit für Vertragsreformen sein. Zugleich wird auch immer mindestens ein falscher Akteur mit am Tisch sitzen: So fürchten viele Integrationsbefürworter:innen, dass die ungarische Regierung eine Vertragsreform nutzen könnte, um ihre eigene Agenda einer Rückentwicklung der EU zu einer Konföderation voranzubringen. Aber Viktor Orbán ist schon seit 2010 an der Macht und wird es möglicherweise noch die nächsten zehn Jahre bleiben – auch dank der Transfers der EU und ihrer mangelnden Fähigkeit, Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. Abwarten wird die Situation also nicht verbessern, im Gegenteil.

Erweiterung?

Noch deutlicher wird die Notwendigkeit von Reformen angesichts der aktuellen Debatte um die EU-Erweiterung: Die Beitrittsperspektive für Ukraine und Moldau ist sehr begrüßenswert, aber sie darf keine bloße Symbolpolitik sein. Georgien sollte dieser Beitritt grundsätzlich ebenfalls in Aussicht gestellt werden – die jüngsten Proteste in Tbilisi zeigen klar die pro-europäische Haltung der georgischen Bürger:innen. Auch der Westbalkan darf nicht in Vergessenheit geraten: Schon heute beobachten wir, wie unter den Menschen dort die Skepsis darüber steigt, ob man in der EU denn tatsächlich willkommen sei. Das ist brandgefährlich.

Eine Erweiterungsperspektive, die ernst gemeint ist, setzt allerdings voraus, dass zuvor das institutionelle Gefüge der EU reformiert wird, um ihre Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Die gegenwärtigen Strukturen, besonders das wenig demokratische Einstimmigkeitsprinzip, haben sich bereits in der EU-27 als zu schwerfällig erwiesen. Dass sich dieses Problem in einer EU-30 oder EU-35 noch verschärfen würde, ist auch ohne Expertenwissen schnell einsichtig.

Was tun?

Auf struktureller Ebene zeichnet sich seit Jahren das Problem ab, dass föderale und intergouvernementale Politikansätze immer schwerer in einer dialektischen Synthese auflösbar sind und sich zwischen Rhetorik und politischem Handeln zunehmend Gräben auftun. Die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden zeigen, ob die EU fähig sein wird, sich weiterzuentwickeln, oder ob sie dauerhaft vor allem ein Binnenmarkt sein wird. Für alle, die wie wir auf eine Weiterentwicklung hoffen, kann ein Aufschub dieser dringend notwendigen Diskussionen nicht die Lösung sein.

Der einzige Rahmen, in dem eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Zukunft Europas nicht nur geführt, sondern auch entschieden werden kann, ist aber ein Europäischer Konvent. Anders als Außenministerin Baerbock nahelegte, ist dieser Weg alternativlos. Zwar sieht der EU-Vertrag auch ein „vereinfachtes“ Vertragsänderungsverfahren vor, doch dieses gilt nur für bestimmte Arten von Reformen. Wichtige Kompetenzfragen, etwa eine Reform der Abstimmungsregelungen zur Passerelle-Klausel, können nicht auf diese Weise geändert werden. Hierfür bedarf es nach geltender Rechtslage zwingend eines Konvents.

Nur ein Konvent schafft öffentliche Sichtbarkeit

Vor allem aber erlaubt nur das Konventsverfahren transparente, breite Diskussionen. Statt in Ratsarbeitsgruppen, deren Arbeit nicht öffentlich kommuniziert wird, würden die Verhandlungen in aller Sichtbarkeit geführt und würden so einen europaweiten begleitenden Diskurs anstoßen. Zudem wären an einem Konvent auch die von den Bürger:innen direkt gewählten Abgeordneten beteiligt. Hierdurch könnten Veränderungsdynamiken entstehen, die es im vereinfachten Verfahren – bei dem allein Regierungen miteinander verhandeln – niemals gäbe.

Und nur bei einem Konvent würden wir als Bürger:innen erfahren, ob und wie ernst unsere Bundesregierung ihren eigenen Koalitionsvertrag nimmt. Es ist an der Zeit, dass sich die föderalistischen Reden der Regierungsparteien auch in ihrem politischen Handeln niederschlagen.

Portrait Thu Nguyen

Clara Föller ist Bundesvorsitzende der Jungen Europäischen Föderalisten.


Portrait Nils Redeker

Lars Becker ist Landesvorsitzender der Europa-Union Hamburg und Ko-Leiter der NoVeto-Arbeitsgruppe der Europa-Union Deutschland.


Clara Föller und Lars Becker gehören zu den Initiator:innen der NoVeto-Kampagne, die sich für die Abschaffung von Einstimmigkeitsregeln in der EU einsetzt.

Bilder: Uhr: Manuel Müller [alle Rechte vorbehalten]; Porträts Clara Föller, Lars Becker: alle Rechte vorbehalten.

11 Juli 2022

Elephant in the room: With or without a Convention, the debate on institutional reforms will go on

Olaf Scholz
Germany isn’t pushing hard for an EU Convention. But it does insist on institutional reform.

Whether the EU should prioritise “enlargement” or “deepening” is a perennial topic that has been discussed in various constellations for decades. Also in this European Council, both issues were on the agenda – and at first glance, the priority of the leaders was clear: While they unanimously granted candidate status to Ukraine and Moldova, the European Parliament’s call for a Convention on treaty reform in the wake of the Conference on the Future of Europe (CoFoE) remained unanswered. The conclusions dealt with the follow-up of the CoFoE in only three meagre paragraphs, without making concrete commitments or even mentioning a Convention.

Internal divisions

The reason for this is, of course, the European Council’s internal division on this issue. On the one hand, France’s Emmanuel Macron spoke out in favour of treaty reform right at the end of the CoFoE, and Germany, Italy, Spain, the Netherlands, Belgium and Luxembourg supported the idea in a joint non-paper. On the other hand, 13 other member states, mostly from Northern, Central and Eastern Europe, declared in a joint non-paper “that Treaty change has never been a purpose of the Conference”.

Since a simple majority in the European Council is required in order to open a Convention, a decision to this effect would only have been possible in a close and contested vote, if at all. This would neither have been in line with the institution’s customs nor would it have been a good basis for the eventual success of a treaty reform.

Reform as a precondition for enlargement

However, it is thoroughly unlikely that proponents of a “deeper” EU will just back down now. Rather, the lack of support for a Convention will probably just lead to a re-framing of the debate on institutional reforms. The German government, for example, has already signalled a departure from the idea that the CoFoE should be followed by a Convention. According to Foreign Minister Annalena Baerbock, this was “only one possibility” among “many other proposals”.

At the same time, however, Chancellor Olaf Scholz described internal reforms of the EU – such as an extension of qualified majority voting, but also “strengthening democracy and the rule of law” – as a necessity to maintain the EU’s capability to act after a possible enlargement. This argument is in line with the European Council conclusions, which contain an explicit reminder that “the EU’s capacity to absorb new members” must be taken into account during the accession process of the new candidate countries.

Potential for frustration

Thus, institutional reform might not be discussed as an opportunity for further democratic development of the EU (as the European Parliament would have wished), but rather as a precondition for the geopolitical goal of enlargement; and it might not take the form of a Convention, but of simplified revision procedures. But the reform debate will go on, and it is doubtful whether this re-framing will make it any easier or less controversial.

A Convention would offer a forum to explicitly address institutional issues and negotiate package deals among institutions and member states. Without it, these questions threaten to become an elephant in the room of the enlargement agenda – with considerable potential for frustration also for the new candidate countries, which themselves have little opportunity to contribute to “the EU’s capacity to absorb new members”, but will depend on today’s member states overcoming the current deadlock on institutional reform.

This article was first published as a contribution to the TEPSA European Council Experts’ Debrief June 2022.


Picture: La Moncloa - Gobierno de España [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

07 Juli 2022

Das europapolitische Quartett: Institutionelle Reformen in Zeiten des Krieges – hat der Konvent noch eine Chance?

Mit:
  • Minna Ålander, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
  • Carmen Descamps, Deutsche Botschaft, Madrid
  • Manuel Müller, Universität Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
  • Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.

Baustelle des Europa-Gebäudes (Sitz des Europäischen Rates) in Brüssel
Höchste Zeit, die EU umzubauen! Aber was, wenn der halbe Europäische Rat dabei nicht mitzieht?

Manuel
Bei seinem letzten Treffen vor dem Sommer erkannte der Europäische Rat am 23./24. Juni der Ukraine und Moldau den Kandidatenstatus zu – ein historischer Fortschritt für die EU-Erweiterungspolitik. Für die Freund:innen einer weiteren Vertiefung der Integration brachte der Gipfel hingegen eher Enttäuschungen: Obwohl das Europäische Parlament die Staats- und Regierungschef:innen am 9. Juni formell aufgefordert hatte, einen Konvent zur Reform der EU-Verträge einzusetzen, wurde das Thema Vertragsreform in den Schlussfolgerungen des Gipfels nicht einmal erwähnt. Insgesamt behandelte der Europäische Rat das Follow-up zur EU-Zukunftskonferenz nur in drei dünnen und weitgehend inhaltsleeren Absätzen.

Hintergrund davon ist natürlich die Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten über institutionelle Reformen, wie sie unter anderem aus den beiden entgegengesetzten Non-Papern von Mai erkennbar war, in denen sich dreizehn Länder (vor allem in Nord- und Mittel-/Osteuropa) gegen und sechs (in West- und Südeuropa) für Vertragsreformen ausgesprochen hatten. Die Einsetzung eines Konvents, für die eine einfache Mehrheit im Europäischen Rat notwendig ist, wäre deshalb, wenn überhaupt, nur in einer knappen Kampfabstimmung möglich gewesen.

Davor schreckten auch die reformwilligen Länder offenbar zurück: Kurz vor dem Gipfel erklärte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, ein Konvent sei nur „eine Möglichkeit“, neben der es noch „viele andere Vorschläge“ gebe. Ist das Thema Konvent damit gestorben?

Sophie
Um es sehr kurz zu fassen: Ich fürchte, ja. Zumindest fürs Erste. Sofern Deutschland und Frankreich den Konvent nicht viel stärker unterstützen – und es nicht zu großen Gegenwind gibt, sowohl von den Visegrád-Staaten als auch den nordischen Staaten –, wird es keine Fortschritte in diesem Bereich geben.

Carmen
Ich möchte die Konventsidee noch nicht abschreiben; auch wenn ich die Chancen darauf – wie Sophie – zunehmend schwinden sehe. Hierfür braucht es tatsächlich den entschiedenen Einsatz einiger Schlüssel-Mitgliedstaaten, denn die Verve einiger Europaabgeordneter wird leider nicht ausreichen. Das Momentum sollte also genutzt werden, und recht bald.

Büchse der Pandora?

Minna
Die nordischen Länder stehen Vertragsänderungen vor allem deshalb sehr kritisch gegenüber, weil sie den Moment für gefährlich halten: Es ist Krieg in Europa, und solch ein langwieriger institutioneller Prozess würde viel zu viele Kräfte und Aufmerksamkeit für interne Angelegenheiten der EU binden. Zudem hätte er gegebenenfalls eine spaltende Wirkung, was gerade in der besonderen Situation des Krieges fahrlässig und eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Staaten in Russlands Nachbarschaft wäre.

Zudem ist nicht sicher, dass alle Mitgliedstaaten am Ende den in einem Konvent vereinbarten Vertragsänderungen zustimmen würden. Vor allem wo Volksabstimmungen nötig sind, wäre die Ratifizierung ungewiss – siehe das „Trauma von Lissabon“. Aus nordischer Sicht wäre ein Vertragsänderungsprozess deshalb eine potenziell gefährliche Zeitverschwendung, weil man nicht weiß, wie viele Jahre er dauern würde und ob am Ende wirklich ein neuer Vertrag in allen Ländern herauskäme. Eine solche Büchse der Pandora will man lieber nicht öffnen.

Sophie
Für mich klingt das sehr nach einer Ausrede, weil nie der „richtige Moment“ ist. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Mit dem Kandidatenstatus für die Ukraine und die Republik Moldau und somit einer womöglich großen EU-Erweiterung haben wir keine andere Wahl, als bald die EU-Verträge zu reformieren.

Keiner kann ernsthaft der Meinung sein, dass die EU in ihrer jetzigen institutionellen Form gut funktionieren würde, wenn man noch ein Land mit 44 Millionen Einwohner:innen integriert – man sieht ja, dass auch zu 27 Kompromisse schon fast unmöglich sind. Erweiterung ohne Reform zu fordern, ergibt nur einen Sinn, wenn man das Ziel verfolgt, die EU noch weniger handlungsfähig zu gestalten.

Carmen
Ich finde auch, dass man gerade jetzt keine Gelegenheit ungenutzt lassen sollte. Angesichts eines externen Aggressors und Krieg vor den Toren der EU kann sich auch eine Chance bieten, die Gemeinschaft durch diesen externen Schock weiter zu einen – indem man sie entsprechend reformiert und resistenter macht.

Der perfekte Zeitpunkt wird sich niemals bieten, da jede:r eine andere subjektive Vorstellung hiervon hat. Gerade daher sollte man jetzt den äußeren Angriff als Chance zur inneren Einigung und Reform nutzen.

Keine Erweiterung ohne institutionelle Reform?

Manuel
Tatsächlich haben sowohl Baerbock als auch Olaf Scholz interne Reformen wie mehr Mehrheitsentscheidungen zuletzt als Vorbedingung für die angestrebte Erweiterung der EU bezeichnet. Auf mich wirkt das, als würde hier ein aktives Reframing betrieben: Die Zukunftskonferenz und das Europäische Parlament haben institutionelle Reformen vor allem als Schritt zur weiteren Demokratisierung der EU behandelt – was manche Mitgliedstaaten als nice to have, aber nicht als notwendig oder dringend ansehen. Die Bundesregierung betont jetzt stattdessen die Handlungsfähigkeit, die auch nach der Erweiterung gewahrt bleiben müsse.

Vielleicht ist das ein Argument, mit dem man die zögerlichen Regierungen (insbesondere in den nördlichen und östlichen Mitgliedstaaten) eher überzeugen kann, die ja besonders stark auf einen schnellen ukrainischen Beitritt dringen. Gleichzeitig sehe ich aber auch ein Risiko in diesem Reframing: Handlungsfähigkeit allein ist eben nicht alles, sondern muss auch mit mehr demokratischer Legitimität der EU einhergehen.

Julian
Meiner Ansicht nach ist es der Fehler, die Diskussion so aufzuzäumen, wie wir es hier gerade machen und auch wie das Europäische Parlament es macht. Wir diskutieren über Verfahren – und natürlich ist jede:r gegen irgendwelche unnötigen Verfahren. Wenn wir die Debatte so aufzäumen, verlieren wir das eigentliche Ziel aus den Augen.

Stattdessen müssen wir über die konkreten Reformen diskutieren und zum Beispiel fragen: Wollen Polen und Finnland eine gestärkte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Beitrag der EU zur NATO oder nicht? Und wenn sie sie wollen, mit welchem Verfahren lässt sich dieses Ziel am sinnvollsten umsetzen?

Bei der Menge an Herausforderungen, denen die EU gegenübersteht, bin ich der Überzeugung, dass ein Konvent die effizienteste Lösung ist. Wollen wir uns allen Ernstes noch einmal ein Durchgewurschtel wie in der Euro-Krise leisten? Dafür haben wir keine Zeit!

Sophie
Ich finde es ja wirklich spannend, dass viele EU-Regierungen denken, dass wir so weitermachen sollten, und Fortschritte blockieren – nationales Klein-Klein statt strategischem Vorgehen. Ich frage mich, warum das so ist, wenn sie doch genau wissen, dass sie von einer handlungsfähigen EU eigentlich profitieren würden.

Reformen ohne Vertragsänderung?

Minna
Ich glaube nicht, dass es für die nordöstlichen Mitgliedstaaten grundsätzlich um eine Blockade von Reformen geht. Worum es geht, ist nur jetzt gerade keine Vertragsänderungen durchzuführen, die in einen komplett neuen Vertrag münden würden – aus den von mir schon genannten Gründen.

Wenigstens aus Sicht der nordischen Staaten ist auch die Beitrittsperspektive der Ukraine nicht unbedingt mit der Notwendigkeit verbunden, die Verträge zu öffnen. Ich würde eher sagen, das eindeutige Framing in Russlands Nachbarschaft ist die Sicherheit der Staaten, die alles andere überwiegt – und das ist nicht nur eine Ausrede. Außerdem geht man davon aus, dass viele notwendige Veränderungen auch schon im Rahmen des Lissabonner Vertrags möglich wären, etwa über die Passerelle-Klausel.

Carmen
Interessant dazu: Ein Expertenteam um den Rechtswissenschaftler Alberto Alemanno schätzt, das von allen ursprünglich 178 Vorschlägen, die die Bürgerforen der EU-Zukunftskonferenz vorgelegt haben, nur zwölf Prozent Vertragsänderungen nötig machen würden. Viel sei auch mit zwischenstaatlicher Kooperation bereits zu erreichen.

Ich sehe die Antwort in der Mitte: Selbst wenn Vertragsreformen nicht unbedingt nötig sind, können sie je nach Politikfeld die optimale Lösung zur besseren Zielerreichung sein. Nichtsdestotrotz haben wir auf dem Weg dahin auch andere Instrumente.

Julian
Ja, dieses Argument ist auch in Deutschland von Regierungsvertreter:innen immer wieder zu hören. Allerdings: Erst letzte Woche habe ich miterlebt, wie jemand aus dem Auswärtigen Amt gefragt wurde, welche konkreten Reformen man denn innerhalb der Verträge oder mit der Passerelle umsetzen wollen würde. Da kam dann nichts.

Sophie
Ein Fall von „muddling through – but upwards!“ 😉

Was die Verknüpfung von Erweiterung und institutioneller Reform betrifft: Ich weiß nicht, ob ich Vertragsreformen in erster Linie aus einem geopolitischen Winkel betrachten würde. Es sind zwei verschiedene Sachen, und das Argument der nordischen Staaten, das Minna vorgebracht hat, basiert auf der Angst vor Russland und dem Glauben, dass ein Vertragsreformprozess zu einer Fragmentierung führen der EU könnte. Das ist aber eine falsche Annahme. Es funktioniert ja sowieso nicht in der EU – wir sind schon jetzt fragmentiert, und deshalb sollten wir auf keinen Fall so weitermachen wie bisher.

Im Übrigen stimme ich Manuel zu: Handlungsfähigkeit ja, aber auch demokratisch. Deshalb ist es so wichtig, dass man beides Hand in Hand betrachtet.

Geopolitik und institutionelle Fragen

Minna
Ich denke schon, dass die Kopplung der institutionellen Debatte an die geopolitische Situation sinnvoll ist. Die geopolitische Komponente zu ignorieren, war schon früher genau der blinde Fleck der EU. Hier zeigen sich sehr schön auch wieder die unterschiedlichen Sichtweisen zwischen den nordöstlichen Mitgliedstaaten aus Russlands direkter Nachbarschaft und den „westeuropäischen“ bzw. weiter von Russland entfernten Ländern.

Carmen
Ja – wichtiger Punkt!

Sophie
Mein Eindruck ist umgekehrt, dass seit dem Krieg auf einmal die geopolitische Experten-Community die EU „wiederentdeckt“ hat, aber ihnen oft die institutionelle Perspektive fehlt. Da ist der blinde Fleck!

Aber grundsätzlich stimme ich dir zu – von der „geopolitischen Kommission“ hat man wenig mitbekommen. Eine Diskussion für ein anderes Quartett! 🙂

Minna
Ja, man müsste beides kombinieren: die EU institutionell aus einer geopolitischen Perspektive betrachten …

Julian
Das sollte auch nicht das Thema für ein anderes Quartett sein! Ich sehe es wie Minna – die Lösung der Reform-Frage liegt in der Zusammenführung der beiden Debatten. Solange wir sie getrennt führen, kommen wir nicht vom Fleck.

Sophie
Ich meinte nur, dass es dazu genügend Gesprächsstoff für zwei Quartette gäbe. Ein Zusammenführen der Debatten sollte definitiv stattfinden!

Julian
Mindestens für zwei. Ich dachte, Du wolltest das Thema vertagen … 😉

Die nordöstlichen Mitgliedstaaten ernst nehmen

Minna
Jedenfalls wäre es sehr gefährlich, die echten (und großen!) Sorgen und Bedenken der nord- und ostmitteleuropäischen Länder einfach als eine weitere Ausrede und generellen Unwillen gegenüber Reformen abzutun. Das Problem ist, dass die Länder sich in ihren Sicherheitsinteressen von „den Großen“ (Deutschland und Frankreich) ignoriert fühlen. Darüber haben wir ja auch schon beim letzten Mal gesprochen.

Julian
Aber das ist ja die Krux! Eine Vertragsreform wäre die beste Chance für diese Länder, ernst genommen zu werden. Im aktuellen zwischenstaatlichen Modus ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie übergangen werden, viel größer.

Manuel
Mir scheint diese Haltung auch etwas irrational. Wie Sophie schon gesagt hat, ist die Spaltung der EU über institutionelle Fragen längst da. Ein Konvent könnte eine Möglichkeit sein, um diese Spaltungen mithilfe von Paket-Deals zu überwinden. Wenn man sich hingegen davor drückt, gehen die institutionellen Fragen nicht weg, sondern bleiben als Elefant im Raum erhalten. Das kann die EU am Ende mindestens ebenso gut lahmlegen und ist für die Außen-, Sicherheits- und Erweiterungspolitik kein kleineres Risiko.

Desinformation als Gefahr?

Minna
Ein Punkt gegen Vertragsänderungen in diesem Moment ist aus nord- und ostmitteleuropäischer Sicht auch, dass Russland einen so tief in die Grundfesten der EU gehenden Prozess wie einen Vertragskonvent nutzen könnte, um durch Desinformation Einfluss zu nehmen. Und nicht alle EU-Mitglieder sind gut dagegen gewappnet.

Manuel
Das stimmt wohl. Aber wenn wir Vertragsänderungen erst durchführen wollen, wenn Russland keine Desinformationspolitik mehr betreibt, könnten wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten.

Und auch hier frage ich mich, ob man Desinformation nicht besser entgegentritt, wenn man die institutionellen Reformen offen mit einem Konvent angeht. Aus meiner Sicht ist die Gefahr größer, wenn diese Fragen nur als Nebenthema diskutiert werden – weil es dann leichter vorkommt, dass bestimmte Desinformationen in einzelnen Mitgliedstaaten den Diskurs beeinflussen, ohne dass die europäische Öffentlichkeit insgesamt davon Notiz nimmt und politische Akteur:innen ihnen klar entgegentreten.

Minna
Welche europäische Öffentlichkeit? 😏 (Eines der alten Probleme der EU …)

Kommt die Europäische Politische Gemeinschaft?

Sophie
Und es bleibt eben dabei, gerade im geopolitischen Kontext: Ohne Vertragsreformen sind wir in der EU nicht handlungsfähig, insbesondere solange die Einstimmigkeit erhalten bleibt. Auch die Grundwerte darf man in der Erweiterungsdebatte nicht vergessen – in der Ukraine gibt es mehr Korruption als in Rumänien oder Bulgarien, Rechtsstaatlichkeit war schon vor dem russischen Angriffskrieg ein Problem.

Und seien wir ehrlich: Die Ukraine hat jetzt zwar den Kandidatenstatus, aber wird wahrscheinlich erst in einem Jahrzehnt Mitglied, wenn überhaupt. Wenn EU-Vertragsreformen nicht möglich sind, dann sollten wir deshalb zumindest den Vorschlag von Emmanuel Macron zur Europäischen Politischen Gemeinschaft näher betrachten und versuchen, die Erweiterungspolitik zu reformieren.

Den kompletten acquis communautaire anzunehmen ist keine leichte Aufgabe. Die Frage ist auch, was für die neuen Beitrittsländer am wichtigsten ist – Teil des Binnenmarkts zu werden? Schengen? Klimapolitik? Je nachdem, sollte man versuchen, sie in bestimmten Politikfeldern einzubinden und heranzuführen. Macrons Vorschlag ist noch sehr vage und müsste ausgearbeitet werden, aber jedenfalls bietet er dafür einen neuen Ansatz.

Minna
Ich denke, bei der Europäischen Politischen Gemeinschaft ist es wichtig zu klären, inwiefern das eine verbindliche Vorstufe mit tatsächlichen Integrationsschritten wird und nicht nur ein Wartezimmer, mit der die Beitrittskandidaten weiter at arms length gehalten werden.

Manuel
Ja, diese Debatte wird uns in nächster Zeit sicher noch beschäftigen. Mir ist bis jetzt noch überhaupt nicht klar, was die Europäische Politische Gemeinschaft eigentlich sein soll – eine Alternative zur Erweiterung explizit nicht, das hat der Europäische Rat zuletzt noch einmal klargestellt. Und als Vorfeldorganisation der EU, die für die gemeinsamen demokratischen Werte steht und lockere intergouvernementale Zusammenarbeit ermöglicht, haben wir ja eigentlich schon den Europarat. Der hat nach dem Ausschluss von Russland auch ziemlich genau die Mitgliedstaaten, die für die EPG diskutiert werden.

Julian
Ich stimme zu, dass uns das Schlagwort EPG noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird. Ob die Debatte am Ende aber zu irgendeinem konkreten Ergebnis führt, da bin ich eher skeptisch. Wahrscheinlich wird die EPG eher als zwei weitere Seiten im großen Archiv der nie realisierten Integrationsvorschläge enden.

Differenzierte Integration als Ausweg?

Manuel
Dann sprechen wir doch noch mal darüber, was passiert, wenn institutionelle Reformen aufgrund der Blockade der nördlichen und östlichen Mitgliedstaaten dauerhaft unmöglich werden. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die reformwilligen Länder und das Europäische Parlament sich damit einfach abfinden werden. Stattdessen könnte die Debatte über differenzierte Integration neuen Aufwind bekommen – sei es als politische Lösung (wir machen Reformen, aber eben nur mit den Willigen) oder als politisches Druckmittel (da viele nördliche und östliche Regierungen dann ja doch nicht Teil der „zweiten Reihe“ sein wollen).

Würdet ihr sagen, dass das aus Sicht der reformwilligen Länder ein plausibler und wünschenswerter Ansatz ist?

Sophie
Ja, auf jeden Fall. Ich finde, dass differenzierte Integration eine gute Methode wäre, ein bisschen ambitionierter vorzugehen. Insbesondere weil es ja – wie wir gesehen haben – große Unterschiede in der Auffassung der 27 gibt, wie es mit der EU weitergehen soll.

Minna
Einen so starken Druck aufzubauen, bis die nord- und ostmitteleuropäischen Länder „einknicken“, wäre kein wünschenswerter Ansatz. Das würde nur wieder einmal bestätigen, dass die anderen in der EU die Sicherheitslage dieser Staaten weder verstehen noch berücksichtigen.

Paketlösungen vielleicht – aber das Problem bleibt, dass die nord- und ostmitteleuropäischen Länder im Moment einfach nicht wollen, dass die EU ihre Aufmerksamkeit in einen solchen ungewissen Prozess steckt. Zumindest müsste man sich also erst einmal auf eine Prioritätenliste einigen, was unbedingt notwendig ist, und dann schauen, wie man es am besten angeht, ob durch einen Konvent oder auf anderen Weg.

Sicherheitspolitische Interessen

Sophie
Inwieweit bedeutet differenzierte Integration denn, dass die anderen EU-Länder die Sicherheitslage der nord- und ostmitteleuropäischen Staaten nicht berücksichtigen? Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU findet doch sowieso intergouvernemental und in Zusammenarbeit mit der NATO statt, oder?

Minna
Differenzierte Integration an sich ist nicht das Problem – dazu gab es letztens auch ein interessantes Paper des finnischen Thinktanks FIIA.

Eine stärkere Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Alternative zur NATO haben die nordischen Länder allerdings ein Stück weit aufgegeben, glaube ich. Deshalb treten Finnland und Schweden ja auch der NATO bei. Und Sicherheit ist eben komplexer als nur militärische Verteidigung.

Julian
Wenn ich mir die aktuellen Entwicklungen in den USA ansehe, dann ist der Versuch, sich sicherheitspolitisch allein auf die NATO verlassen zu wollen, genau das kurzsichtige Rumgewurschtel, das wir in der Krise in der Eurozone hatten. Das trägt bis zur nächsten Krise bzw. US-Präsidentschaftswahl, aber wahrscheinlich nicht darüber hinaus. Eine dauerhafte Lösung ist das nicht.

Der Wert der NATO

Minna
Die NATO ist ja nicht nur die USA. Für Finnland und Schweden ist besonders auch die nordische Dimension und die Zusammenarbeit innerhalb der NORDEFCO wichtig.

Julian
Aber welche Bedeutung hat die NATO noch, wenn nicht sicher ist, dass die USA dahinter stehen? Das ist dann doch nur nette Symbolpolitik.

Sophie
Ja – die NORDEFCO in allen Ehren, aber du kannst mir doch nicht erzählen, dass die Sicherheit der Europäer:innen nicht (fast) komplett von den USA abhängt. Wir sind derzeit nicht in der Lage, uns selbst zu verteidigen.

Minna
Das ist eine sehr deutsche Sicht! Finnland ist in der Tat in der Lage, sich selbst zu verteidigen.

Sophie
Die Frage ist nur, gegen wen … 😉

Julian
Der eigentliche Wert der NATO besteht doch darin, dass sich niemand anzugreifen traut, solange die USA an Bord sind. Wenn die USA wieder ein unsicherer Kantonist werden, dann wäre ich nicht mehr sicher, ob der präventive Schutzschirm noch trägt.

Sophie
Klar. Trotzdem kann man die „europäische Säule“ innerhalb der NATO stärken!

Carmen
Eben, die europäische Emanzipation in Sachen Strategie und Militärausgaben wurde ja auch wiederholt von den USA angemahnt – Stichwort Zwei-Prozent-Ziel.

Julian
Da habt ihr mich missverstanden. Das sollte ein Argument für die zwingende Notwendigkeit einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein. (Jetzt sind wir aber ein bisschen vom Thema differenzierte Integration abgekommen …)

Kooperation unter Willigen und Exit-Option light

Carmen
Zurück zur Ausgangsfrage: Ich bin keine Expertin im Bereich Sicherheitspolitik, aber ich denke, der (zum Teil durchaus valide) Pauschalvorwurf, dass die anderen EU-Länder die Sicherheitslage der nord- und ostmitteleuropäischen Staaten nicht berücksichtigen, rechtfertigt nicht eine kategorische Ablehnung von EU-Reformen.

Zumal differenzierte Integration ja ausdrücklich variable Allianzen und damit eine an nationale Gegebenheiten angepasste Kooperation ermöglicht. Ich denke, dass beides vereinbar ist, und angesichts der sukzessiven Krisen in der EU ist es auch nötig, bevor wir ernsthaft über Erweiterung debattieren.

Julian
Ich würde Manuels Frage von oben zwei Mal mit „Ja“ antworten. Das größte Potenzial sehe ich in differenzierter Integration als politischem Druckmittel, um eine Reihe der zögerlichen Staaten an Bord zu bekommen. Gleichzeitig hat die EU inzwischen eine so große Diversität unter ihren Mitgliedstaaten erreicht, dass ein neuer Schwur auf die vertraglichen Pflichten keine schlechte Idee wäre. Differenzierte Integration bietet die Möglichkeit zu einer Exit-Option light, ohne dabei die großen Verwerfungen eines Brexit zu produzieren.

Wer dann an Bord bleibt und nicht in die zweite Reihe zurücktritt, muss aber auch alle Pflichten erfüllen. Höhere EU-Haushaltsbeiträge im Norden, Rechtsstaatlichkeit im Osten, Verteidigung in Zentraleuropa, weitere wirtschaftliche Reformen im Süden – ich glaube, das tut allen Mitgliedstaaten gleichermaßen weh, ohne irgendjemanden zu übervorteilen.

Carmen
Erscheint mir wünschenswert! Vielleicht wäre eine Kooperation unter Willigen auch eine Möglichkeit, Reformen für die nördlichen und ostmitteleuropäischen Staaten attraktiv zu machen. Wenn man nicht mit Sieben-Meilen-Stiefeln auf dem Reformweg voranschreitet, sollte man zumindest kleinere Tippelschritte nach vorne machen. Denn wie schon gesagt: Auf der Stelle zu treten können wir uns nicht leisten.

Minna
Guter Punkt (und schönes Bild) mit den Sieben-Meilen-Stiefeln! 🥾

Wie kann Differenzierung konkret gestaltet werden?

Manuel
Dann aber noch mal zur Frage, wie das konkret aussehen könnte. Ein Problem ist ja oft, dass institutionelle Reformen die Struktur der EU insgesamt betreffen – wenn man zum Beispiel das Europawahlrecht reformieren und transnationale Listen einführen will, kann man das nicht gut „differenziert“ nur für einige Mitgliedstaaten machen.

Sophie
Ich sehe vor allem eine große Herausforderung, wenn man differenzierte Integration vorantreiben möchte: Wie kann man gleichzeitig mehr Handlungsfähigkeit ermöglichen, aber auch sicherstellen, dass es demokratisch bleibt – ohne dabei die Komplexität weiter zu erhöhen in einem System, bei dem man jetzt schon schnell den Durchblick verliert?

Bei der Eurozone sehen wir, wie kompliziert es ist: Ihre Institutionen sind teilweise mit der EU verbunden, aber nicht ganz – deshalb wünschte sich Piketty ja ein Eurozonen-Parlament. Doch nur mit der Schaffung von neuen (demokratischen) Institutionen ist es nicht getan, weil man dadurch womöglich auch andere (demokratische) Institutionen aushöhlt.

Das Kerneuropa-Modell

Manuel
Julian, wie würdest du das denn bei deinem oben skizzierten Paketvorschlag Fiskalunion + Rechtsstaat + Verteidigung + Reformen lösen? Eine Kerneuropa-Union mit ganz eigenen Institutionen?

Julian
Die Antwort hängt ein wenig davon ab, welches Niveau von Rechten und Pflichten die zweite Reihe haben wollen. Wenn da einige mit der norwegischen Lösung leben können (was aus Sicht von heutigen Nicht-Mitgliedern vielleicht ökonomisch gar nicht so unattraktiv ist), dann würden die supranationalen EU-Institutionen in den Kern wandern und wir bräuchten keine Doppelstrukturen.

Wenn die zweite Reihe hingegen mehr Mitspracherechte haben soll, bräuchte es in der Tat neue Institutionen. Meiner Ansicht nach wäre es dann wichtig, dass streng nach Politikbereichen unterschieden wird, welches Organ für welchen Bereich zuständig ist. Es würde uns in arge Transparenzprobleme stürzen, wenn für einen Teil der Entscheidungen in einem Politikbereich das eine Organ und für andere Entscheidungen das andere Organ zuständig ist. Deshalb sollte man nur ganze Politikbereiche wählen oder abwählen können.

Zwei Niveaus an Rechten und Pflichten?

Manuel
Das würde aber in jedem Fall voraussetzen, dass Staaten, die jetzt Mitglieder sind, auf Mitspracherechte in den supranationalen Institutionen verzichten, oder? Im ersten Modell, indem sie formal aus der EU austreten; im zweiten Modell, indem sie die Übertragung von Kompetenzen auf die neuen „kerneuropäischen“ Organe zulassen. Warum sollte sich zum Beispiel die ungarische Regierung auf so etwas einlassen?

(Außer wenn die reformwilligen Staaten bereit wären, mit einer kompletten Umgründung zu drohen – also damit, dass sie alle aus der bestehenden EU austreten und untereinander einen Vertrag über eine neue Union abschließen. Aber das wäre dann doch ein bisschen viel hardball.)

Julian
Die Herausforderung besteht darin, zwei unterschiedliche Niveaus an Rechten und Pflichten festzulegen, mit denen die Staaten der ersten und der zweiten Reihe jeweils zufrieden sind. Wenn das gelingt, könnte es in der Tat so sein, dass der äußere Kreis bestimmte Rechte aufgibt, dafür aber auch weniger Pflichten hat.

Wäre eine Kern-EU ebenso wirksam?

Minna
Die Frage ist auch, wie man Politikbereiche sinnvoll voneinander entkoppeln kann und ob eine verkleinerte EU noch genauso wirksam wäre. Um nur einen Bereich zu nennen: Könnte zum Beispiel die EU-Klimapolitik noch ihre Ziele erreichen, wenn sich nur noch wenige Mitgliedstaaten daran beteiligen?

Carmen
Ich sehe hier ein wenig die Gefahr von Rosinenpickerei aufkommen. Aber das wäre wahrscheinlich ein unvermeidlicher Teil des Deals.

Julian
Wenn Klimapolitik nur von Kerneuropa gemacht wird, würden die Ziele eben nur für diese Länder festgelegt und von diesen umgesetzt. Einerseits lässt sich argumentieren, dass europäische Klimapolitik dann weniger Sinn macht. Aber genauso könnte man sagen, dass die EU keine Klimapolitik machen sollte, wenn nicht China und die USA mit an Bord sind.

Und andererseits lässt sich auch argumentieren, dass ambitionierte Ziele im Kern, die dann auch wirklich umgesetzt werden, mehr wert sind und mehr Effekt haben als ein halbgarer Kompromiss unter allen (heutigen) Mitgliedstaaten.

Aber in der Tat, die gegebenenfalls notwendige partielle Entflechtung von Politikbereichen könnte eine Herausforderung werden. Das Vereinigte Königreich führt das derzeit ja vor.

Das Zusatzvertrag-Modell

Manuel
Eine andere Form differenzierter institutioneller Reform könnten in meinen Augen auch Zusatzverträge sein, mit denen eine Gruppe von Mitgliedstaaten sich untereinander zu einer stärker integrativen Haltung verpflichtet – so ähnlich wie ursprünglich beim Fiskalpakt. Zum Beispiel könnte eine Gruppe von Ländern untereinander vereinbaren, bei Abstimmungen im Rat nicht mehr von der Vetomöglichkeit Gebrauch zu machen, sondern bei Entscheidungen mit Einstimmigkeitserfordernis im Sinne der Mehrheit abzustimmen oder sich zu enthalten.

Ein solches Zusatzvertrag-Modell hätte den Vorteil, dass die reformwilligen Staaten es selbst in der Hand haben und von den anderen nicht daran gehindert werden könnten. Gleichzeitig hätten die anderen vordergründig auch keinen Nachteil, da sie ja ihr Vetorecht behalten würden. Allerdings würden sie sich damit im Rat stärker als Außenseiter kennzeichnen – und es bestünde die Chance, dass nach einem künftigen Regierungswechsel die neue Regierung nachzieht und dem Zusatzvertrag doch noch beitritt.

Julian
Zumindest als politischer Hebel wären Zusatzverträge auf jeden Fall ein Modell, das konkret durchdacht werden sollte – und sei es nur, um zweifelnde Mitgliedstaaten zur Reform zu motivieren. Und wenn gar kein Kompromiss in Aussicht ist, dann ist eine solche Differenzierung allemal besser, als die Reformen weiter zu prokrastinieren.

Allerdings sollte es dann ein einzelner großer neuer Vertrag sein und kein Wust an politikfeld- oder maßnahmenspezifischen Verträgen.

Whatever works

Sophie
An sich ist das eine gute Idee – aber mich würde es sehr wundern, wenn Mitgliedsländer auch wirklich diesen Schritt gehen. Welche Regierung würde denn schon willentlich Macht abgeben, wenn nicht alle anderen mitziehen?

Aber wenn es passieren würde, wäre ich dafür. Inzwischen bin ich da auch sehr pragmatisch geworden: Whatever works. Alle Optionen, die es gibt, um die EU handlungsfähiger zu machen, ohne die (nationale und europäische) Demokratie auszuhöhlen, sind gut. Und es gibt ja schon ein schönes Beispiel, wie so ein Zusatzvertrag anschließend in die EU „integriert“ werden könnte: Auch Schengen entstand außerhalb der EU-Verträge und wurde dann erst mit dem Amsterdam-Vertrag in das reguläre Vertragswerk aufgenommen.

Carmen
Ja, whatever works ist zum neuen whatever it takes geworden.

Sophie
Nur schade, dass die Mitgliedstaaten den Whatever-it-takes-Ansatz eher nicht verfolgen, wenn es um die Handlungsfähigkeit der EU geht. So richtig motiviert sind sie ja nicht …


Carmen Descamps ist Stellvertretende Referatsleiterin Wirtschaft an der Deutschen Botschaft Madrid.
Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und am Lehrstuhl für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.

Frühere Ausgaben des europapolitischen Quartetts sind hier zu finden.


Bilder: Baustelle des Europa-Gebäudes: Riki [Public Domain], via Wikimedia Commons; Porträt Carmen Descamps: Life Studio [alle Rechte vorbehalten]; Porträts Minna Ålander, Manuel Müller, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel: alle Rechte vorbehalten.

06 Juli 2022

In eigener Sache: Stelle zu vergeben

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Bild: Universität Duisburg-Essen.