10 Juni 2022

Die Konferenz über die Zukunft Europas: Ein Aufruf zur Vertragsreform

Was bleibt von der Konferenz zur Zukunft Europas? Hat sie ein neues Modell der Bürgerbeteiligung in Europa etabliert? Sollte sie zu einem Europäischen Konvent und einer Vertragsreform führen? Woran ist sie gescheitert, und welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

In dieser Artikelserie werfen Expert:innen aus Wissenschaft, Think Tanks und Zivilgesellschaft einen Blick zurück auf die Ergebnisse und voraus auf die Folgen der Konferenz. Heute: Federico Fabbrini.
Junge Menschen mit einer EU-Flagge nehmen an einer Veranstaltung im Europäischen Parlament teil
„Das Ergebnis der einjährigen Beratungen lässt keinen Zweifel daran, dass die europäischen Bürger:innen eine tiefgreifende Überarbeitung der EU fordern, die zwangsläufig eine Vertragsänderung nötig macht.“

Am 9. Mai 2022 hat die Konferenz über die Zukunft Europas ihre Arbeit abgeschlossen und einen dicken Abschlussbericht vorgelegt, der eine tiefgreifende Reform der Europäischen Union und letztlich auch Vertragsänderungen fordert. Dieser innovative, ein Jahr dauernde Prozess war ursprünglich im März 2019 vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron initiiert worden, um das Projekt der europäischen Integration nach dem Brexit neu zu beleben.

Die Konferenz über die Zukunft Europas wurde als bürgernahe Bottom-up-Veranstaltung organisiert, um von den Bürger:innen Beiträge zu den wichtigsten Fragen zu erhalten, mit denen die EU konfrontiert ist. Die Konferenz baute auf den Vorbildern von lokalen und nationalen Bürgerversammlungen in einigen Mitgliedstaaten auf, versuchte dabei aber etwas noch nie Dagewesenes zu erreichen, nämlich ein Forum für partizipative Demokratie auf transnationaler Ebene zu schaffen. Unter diesem Gesichtspunkt stellte die Konferenz ein neues Experiment für die EU dar, das über frühere Modelle technokratischer oder deliberativer Verfassungsänderungen hinausging.

Neun große Politikfelder

Wie ich an anderer Stelle beschrieben habe, wurden das Mandat und die Struktur der Zukunftskonferenz in einer Gemeinsamen Erklärung festgelegt, die im März 2021 von den drei Präsident:innen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission angenommen wurde, die als gemeinsame institutionelle Garanten dieser Initiative fungierten. In Bezug auf das Mandat stellte die Gemeinsame Erklärung einen Kompromiss dar, der eine konstruktive Ambivalent aufrechterhielt. So hieß es darin, die Konferenz solle sich auf die Dinge konzentrieren, „die den Bürgern wichtig sind“, und es wurde eine umfassende, nicht erschöpfende Liste von Themen genannt, die geprüft werden sollten.

In der Praxis befasste sich die Konferenz, auch auf Grundlage des Inputs einer mehrsprachigen digitalen Plattform, mit einer breiten Palette von Themen, die dann in neun Gruppen zusammengefasst wurden: (1) Klimawandel und Umwelt, (2) Gesundheit, (3) eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung, (4) die EU in der Welt, (5) Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, (6) digitaler Wandel, (7) Demokratie in Europa, (8) Migration und (9) Bildung, Kultur, Jugend und Sport.

Vier europäische Bürgerforen

Organisatorisch wiederum folgte die Konferenz einer vielschichtigen Struktur, die darauf ausgerichtet war, die Ergebnisse der demokratischen Deliberation von unten nach oben zu kanalisieren und zu filtern. Den Kern der Konferenz bildeten vier europäische Bürgerforen mit jeweils 200 Teilnehmer:innen, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden, um die soziodemografische Realität in der EU widerzuspiegeln.

Die europäischen Bürgerforen waren thematisch in vier themenübergreifende Gruppen unterteilt, die sich auf folgende Bereiche konzentrierten: (I) eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung; Bildung, Jugend, Kultur und Sport; digitaler Wandel; (II) europäische Demokratie; Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit; (III) Klimawandel und Umwelt; Gesundheit; (IV) die EU in der Welt; Migration. In diesem Rahmen kamen die europäischen Bürger:innen über einen Zeitraum von sechs Monaten zwischen September 2021 und März 2022 zu drei Diskussionsrunden zusammen, die teils physisch, teils online stattfanden. Auch mit Unterstützung von eingeladenen Expert:innen berieten sie über die anstehenden Themen und entwickelten eine Reihe von Leitbildern für die folgende Debatte entwickelt.

Nationale Bürgerforen

Zusätzlich zu den europäischen Bürgerforen wurden die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, auch nationale Bürgerforen einzurichten, die ebenfalls der Beratung und dem Austausch dienen sollten. Zugegebenermaßen erwies sich das nationale Engagement als uneinheitlich. Nur sechs Mitgliedstaaten – darunter fünf der sechs Gründungsmitglieder sowie die drei größten EU-Länder Deutschland, Frankreich und Italien – hielten tatsächlich nationale Bürgerversammlungen ab, während die anderen sich darauf beschränkten, traditionellere Partizipations- und Disseminationsveranstaltungen zu organisieren.

Das bei weitem aufwendigste nationale Bürgerforum zur Zukunft Europas fand in Frankreich statt, dem Mitgliedstaat, dessen Präsident Macron die gesamte Initiative ins Rollen gebracht hatte. Im Herbst 2021 organisierten die französischen Behörden 18 Panels mit zufällig ausgewählten Bürger:innen, an denen über 700 Personen teilnahmen. Diese lieferten Beiträge (in Form von 101 Wünschen und 1301 spezifischen Vorschlägen) für eine abschließende Conférence Nationale de Synthèse, die im Oktober 2022 in Paris stattfand und eine finale Liste mit 14 vorgeschlagenen Prioritäten erstellte.

Das Konferenzplenum

Die Beiträge der europäischen und der nationalen Bürgerforen wurden dann dem Plenum der Konferenz zur Zukunft Europas vorgelegt. Dieses große Gremium mit 449 Mitgliedern – darunter Vertreter:innen des Europäischen Parlaments, der nationalen Parlamente, des Rates, der Kommission sowie der europäischen und nationalen Bürgerforen und Delegierte des Ausschusses der Regionen, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen und der Sozialpartner – trat innerhalb von zwölf Monaten siebenmal zusammen.

Um die Beratungen zu erleichtern, strukturierte das Plenum seine Arbeit in neun Arbeitsgruppen, die den neun Themen der Konferenz entsprachen. Vertreter:innen der europäischen Bürgerforen wurden als Vorsitzende und Sprecher:innen der Arbeitsgruppen ausgewählt und erarbeiteten mit Unterstützung des Gemeinsamen Sekretariats (eines technischen Organs mit Mitarbeiter:innen der Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates) ausführliche Vorschläge.

49 Vorschläge für die Zukunft Europas

Bei seiner letzten Sitzung im April 2022 unterstützte das Konferenzplenum schließlich 49 Vorschläge mit einer detaillierten Liste von 326 Empfehlungen. Diese Vorschläge befassen sich ausdrücklich mit den wichtigsten strukturellen Schwächen der EU, die im vergangenen Jahrzehnt zutage getreten sind und in jüngster Zeit auch im Rahmen des Krieges in der Ukraine deutlich wurden.

Insbesondere wird in den Empfehlungen eine Stärkung der Befugnisse der EU gefordert, mit einer Ausweitung der EU-Kompetenzen in den Bereichen Gesundheit, Energie, Digitales und Außenpolitik. Darüber hinaus fordern die Empfehlungen eine Überarbeitung des EU-Entscheidungssystems durch die Überwindung der Einstimmigkeitsregel, insbesondere in den Bereichen Außenpolitik und Verteidigung. Schließlich unterstreichen die Empfehlungen auch die Bedeutung einer angemessenen finanziellen Ausstattung der EU, um die notwendigen Maßnahmen durchzuführen, unter anderem durch eine Neuauflage des Finanzierungsmodells von „Next Generation EU“ auch jenseits der Covid-19-Pandemie. Alles in allem sprechen sich die inhaltlichen Beiträge des Plenums für eine souveränere, föderalere EU aus.

Der Abschlussbericht

Die Empfehlungen des Plenums wurden dann dem Exekutivausschuss vorgelegt. Dieses Gremium, setzte sich aus drei Kommissionsmitgliedern, drei Abgeordneten der größten Fraktionen des Europäischen Parlaments sowie drei Vertreter:innen der Ratsvorsitz-Troika zusammen und sollte gemäß der Gemeinsamen Erklärung die Arbeit der Konferenz lenken und „die Schlussfolgerungen der Plenarversammlung der Konferenz ausarbeiten und veröffentlichen“. Der Exekutivausschuss nahm die Beiträge der Vollversammlung an und bekräftigte in einem am 9. Mai 2022 veröffentlichten Abschlussbericht seine Entschlossenheit, diese weiterzuverfolgen.

So heißt es darin auf Seite 103:

„Die Konferenz hat in diesen Bereichen eine klare Richtung vorgegeben, und die drei EU-Organe müssen nun prüfen, wie sie in Bezug auf die geäußerten Anliegen, Ambitionen und Ideen weiter vorgehen. Der nächste Schritt in diesem Prozess besteht darin, konkrete EU-Maßnahmen vorzuschlagen, die auf den Ergebnissen der Konferenz aufbauen, die in diesem Bericht über das endgültige Ergebnis enthalten sind. Die EU-Organe werden nun diesen Bericht und wie er weiterverfolgt werden kann im Rahmen ihres jeweiligen Zuständigkeitsbereichs und im Einklang mit den Verträgen prüfen.“

Rufe nach einer Überarbeitung der Verträge

Eine Frage, die schnell in den Vordergrund rückte, war, ob die Ergebnisse der Zukunftskonferenz eine Änderung der EU-Verträge erforderlich machen. In einer Rede auf der Abschlussveranstaltung der Konferenz am 9. Mai 2022 befürwortete der französische Staatspräsident Emmanuel Macron ausdrücklich „die Einberufung eines Konvents zur Änderung der EU-Verträge“.

Damit knüpfte er an den italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi an, der eine Woche zuvor in einer Rede vor dem Europäischen Parlament offen argumentiert hatte: „Wir brauchen nicht nur einen pragmatischen Föderalismus, sondern auch einen geistigen Föderalismus. Wenn dies erfordert, einen Weg einzuschlagen, der zu einer Revision der Verträge führt, dann sollte man ihn mit Mut und Zuversicht beschreiten.“

Tatsächlich wurde die Forderung nach einem neuen Vertragsänderungsverfahren auch vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung zu den Folgemaßnahmen der Konferenz nachdrücklich erhoben, ebenso wie von Kommissionspräsidentin von der Leyen, die davon sprach, „alles zu unternehmen, was nach den Verträgen möglich ist, oder eben, die Verträge dort zu ändern, wo es nötig ist“.

Gemeinsames Non-Paper von 13 Regierungen

Die Begeisterung über diese Aussicht wurde jedoch schnell durch ein gemeinsames Non-Paper gedämpft, das – ebenfalls am 9. Mai 2022 – von 13 Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde: Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Schweden, Slowenien und Tschechien. Die Regierungen dieser Länder, die alle aus dem östlichen oder nördlichen Europa stammen, erklärten, dass sie „unüberlegte und verfrühte Versuche, einen Prozess zur Vertragsänderung einzuleiten, nicht unterstützen“.

Diese Spaltung spiegelte freilich nur die unterschiedlichen Präferenzen der Mitgliedstaaten wider, wie sie sich bereits vor Beginn der Zukunftskonferenz herauskristallisiert hatten: Einige Länder hatten diese Initiative als Ausgangspunkt für eine umfassendere Reform der EU angesehen, während andere sie eher als rein kosmetische Übung interpretierten. Wie bereits erwähnt, war die Gemeinsame Erklärung, mit der die Konferenz eingerichtet wurde, in Bezug auf ihr eigentliches verfassungsrechtliches Mandat äußerst zweideutig gewesen.

Jetzt geht es darum, die Empfehlungen umzusetzen

Das Ergebnis der einjährigen partizipativen Beratungen lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass die europäischen Bürger:innen eine tiefgreifende Überarbeitung der EU fordern, die zwangsläufig eine Vertragsänderung nötig macht. Es bleibt also abzuwarten, wie es den nationalen Regierungen gelingen soll, diesen Vorstoß der Bürger:innen zu sabotieren. Tatsächlich hat die Rückkehr des Krieges auf dem europäischen Kontinent die EU zu einer Reaktion gebracht und die Zusammenarbeit in einigen Bereichen vorangetrieben. Doch der Krieg in der Ukraine hat auch anhaltende strukturelle Schwächen im Verfassungsrahmen der EU offenbart, die ihre Handlungsfähigkeit einschränkt.

Die abschließenden Vorschläge der Konferenz zeigen diese Schwächen auf und verweisen auf die Notwendigkeit, durch die Abschaffung nationaler Vetorechte das EU-Entscheidungssystem zu verbessern, die Kompetenzen der EU zu stärken sowie, auch durch eine Wiederauflage des erfolgreichen NGEU-Modells, ihre finanziellen Mittel zu erhöhen. Die Herausforderung für die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten besteht nun darin, die Empfehlungen der Konferenz zur Zukunft Europas umzusetzen.

Porträt Federico Fabbrini

Federico Fabbrini ist Professor für Europarecht an der Dublin City University und Gründungsdirektor des Jean Monnet Centre of Excellence REBUILD.




Übersetzung: Manuel Müller
Bilder: Junge Menschen mit EU-Flagge im Europäischen Parlament: © European Union 2018 - European Parliament [CC BY-NC-ND 4.0], via Flickr; Porträt Federico Fabbrini: alle Rechte vorbehalten.

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